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Ein Vater und sein Sohn sitzen vor einem Sofa auf dem Fußboden und führen ein ernsthaftes Gespräch.

© Getty Images/iStockphoto/Sneksy

Wo Eltern Erziehung lernen: „Ich habe verstanden, dass es Gewalt ist, wenn ich mein Kind anschreie“

Der Familientreff Wittenau des Elisabethstifts bietet Kurse an, in denen Eltern lernen, besser mit ihren Kindern umzugehen. Der Tagesspiegel will mit einer Spendenaktion bei der Finanzierung helfen.

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Einer dieser Anrufe kam direkt nach dem Klassenausflug. Jannek hatte sich von Mitschülern dazu anstiften lassen, den Notrufknopf an einem Bahnsteig zu drücken. Einige Tage später dann der nächste Vorfall: Der damals Achtjährige griff einen Mitschüler an und verletzte ihn. Wieder ein Anruf beim Vater.

„Ich musste mein Kind immer wieder abholen. Es gab dauernd Probleme“, sagt Janneks Vater, Ben Landmann (beide Namen geändert). Die Strafe seitens der Schule: verkürzter Unterricht, nur drei Stunden pro Tag. Das bedeutete, dass Ben Landmann sich den Rest der Zeit um sein Kind kümmern musste. Seit zwei Jahren lebte sein Sohn zu jenem Zeitpunkt bei ihm.

Er habe dann seine Arbeit zurückgestellt, zum Glück seien seine Vorgesetzten verständnisvoll, erzählt Landmann. Der Vater arbeitet in einem verantwortungsvollen Beruf, bei dem es wichtig ist, nicht durch persönliche Probleme abgelenkt zu werden. Doch die wurden immer akuter im vergangenen Sommer.

Die Mutter ist psychisch auffällig

„Ich kam an eine Grenze, an der ich dachte: Wenn ich jetzt nicht dafür sorge, dass sich etwas ändert, rutscht Jannek komplett ab.“ Das war nicht lange, nachdem sein Sohn ein Wochenende bei seiner psychisch kranken Mutter verbracht und dort einen nervenaufreibenden Polizeieinsatz miterlebt hatte.

„Als wir uns vor fünf Jahren trennten, war sie noch nicht psychisch auffällig“, erzählt Landmann. Doch in den Jahren nach der Trennung sei immer deutlicher geworden, dass sie mit der Betreuung des Sohnes überfordert war. „Sie rief mich immer wieder verzweifelt an.“ Schließlich zog Jannek zu seinem Vater, obwohl dessen Wohnverhältnisse zunächst noch alles andere als ideal für ein Kind waren. Es habe etwas gedauert, bis er seinem Sohn eine Wohnung mit einem eigenen Zimmer habe bieten können.

Ben Landmann brauchte Unterstützung, vom Jugendamt bekam er eine Familienhilfe. Die riet ihm auch dazu, am Kurs „Starke Eltern – starke Kinder“ im Familientreff Wittenau teilzunehmen, dessen Träger das Elisabethstift ist. Das Konzept wurde vom Kinderschutzbund entwickelt. Eltern sollen hier Erziehungskompetenz lernen.

Der Kurs änderte für Ben Landmann vieles zum Besseren. „Vorher habe ich gedacht: Vielleicht bin ich der Fehler“, sagt er. Beim ersten Kurstermin habe er einen großen Kloß im Hals gehabt. „Aber dann hat ein anderer Vater erzählt, was bei ihm so lief. Das hat mich abgeholt. Man denkt ja immer, man steht allein da. Wenn man andere Eltern hört, fühlt sich das nicht mehr so sehr so an.“

Einige Zeit nach Ende des Kurses sitzt Landmann an einem kalten Wintertag in dem hellen großen Raum im Erdgeschoss des Familientreffs, gemeinsam mit Psychologin Manuela Reuß, die systemische Therapeutin ist und den Kurs geleitet hat. Beim Elisabethstift ist sie seit vielen Jahren auch als Sozialarbeiterin in der aufsuchenden Familienhilfe tätig, ebenso wie ihre Kollegin Catrin May. Die sitzt mit am Tisch.

Er kriegt das verbal von mir. Wenn ich morgens zum zwanzigsten Mal ,Zieh dich an! Wir müssen los’ sagen muss, dann platzt der Mond bei uns.

Ben Landmann, Alleinerziehender Vater (Name geändert)

„Es ist wichtig, den Austausch zwischen den Eltern pädagogisch zu begleiten und immer die Frage zu stellen: ,Ist das jetzt wirklich eine hilfreiche Strategie?’“, sagt Reuß. Manchmal hätten andere Eltern Ideen, von denen abzuraten ist. Etwa Essensentzug am Abend, um das Kind gefügig zu machen.

Eltern lernen, was eine „Wuttreppe“ ist

„Der Kurs sorgt für einen Perspektivwechsel für Eltern“, sagt Reuß. „Das wichtigste dabei ist, dass sie lernen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Es ändert sich vieles, wenn man etwa das Kind auf Augenhöhe direkt anspricht und nicht aus der Höhe der Erwachsenen“, sagt Reuß.

„Ich finde es toll, dass man im Kurs nicht verteufelt wird. Einem wird einfach liebevoll ein Spiegel vorgehalten“, sagt Ben Landmann. „Man lernt etwas darüber, wie man selbst ist. Als ein Video zum Thema ,Brüllfalle’ gezeigt wurde, dachte ich: ,Mensch, das bin ja ich!’“

Wenn er darüber spricht, wie die Kommunikation mit seinem Kind zuvor ablief, sagt Landmann Dinge wie: „Mir platzt schnell die Hutschnur.“ Oder: „Wenn ich morgens zum zwanzigsten Mal ,Zieh dich an! Wir müssen los’ sagen muss, dann platzt der Mond bei uns.“ Auch nach den Vorfällen in der Schule habe er seinen Sohn angeschrien. Der Kurs habe ihm einen Ausweg aus dieser „Brüllfalle“ gezeigt: „Ich habe verstanden, dass es auch Gewalt ist, wenn ich mein Kind anschreie.“

Es gehe in dem Kurs darum, herauszuarbeiten, woran liegt es, dass Eltern ihre Kinder anbrüllen, sagt Reuß. „Wir erarbeiten mit ihnen, wie sie ein anderes Verhalten in schwierigen Situationen zeigen können. Viele Eltern denken, ihr Kind wolle provozieren – manchmal liegt es etwa nur daran, dass die Hausaufgaben gerade zu viel für das Kind sind. Die Eltern sollen verstehen, dass sie diejenigen sind, die Kindern beibringen, wie man mit mit Gefühlen umgeht und sie ausdrückt.“

Reuß zeigt den Eltern anhand einer „Wuttreppe“, wie Wut sich aufschaukelt. Die Beschäftigung damit soll helfen, in der Situation zu erkennen, wenn man die „Treppe“ zu weit „hinaufgegangen“ ist. Und: „Klare Ansagen muss man nicht brüllen“, sagt Familientreff-Mitarbeiterin May.

Manuela Reuß und Catrin May von Familientreffen Wittenau

© Daniela Martens

Das habe ihm alles tatsächlich im Familienalltag geholfen, sagt Landmann. „Aber man verfällt so leicht wieder in den alten Trott.“ Vor allem nach dem Ende des Kurses. Die sieben Sitzungen seien „viel zu wenig. Eigentlich wollte ich alles ändern“.

Durch die Kurse brauchen weniger Familien hilfen zur Erziehung

„Durch den Kurs schaffen es die Eltern, dranzubleiben. Sie erzählen sich bei jedem Termin, was sie in der Woche umgesetzt haben“, sagt May. „Eigentlich müsste das ein fortlaufendes Angebot sein.“

Ben Landmann will unbedingt am nächsten Kurs teilnehmen, der soll im Mai starten. Doch wie der Kurs finanziert werden soll, ist noch unklar. Es gehe vor allem um die Personalkosten, sagt May. „Öffentliche Gelder werden zunehmend gekürzt. So müssen wir nun schauen, wie wir solche elternaktivierenden Kurse finanzieren und möglich machen können.“

Der Kurs ist für die Eltern kostenlos. Das sei wichtig, sagt Catrin May. „In Reinickendorf ist die finanzielle Lage der meisten Familien so, dass sonst niemand kommen würde.“

Auf der Oranienburger Straße, vor der Tür des Familientreffs, brausen mehrspurig die Autos vorbei. Schräg gegenüber ist ein großes Sozialkaufhaus wichtiger Anziehungspunkt der Gegend. Soziale Brennpunkte wie das Märkische Viertel gehören zum Einzugsgebiet. Mehrere Studien hätten gezeigt, dass an den Kursen teilnehmende Familie wesentlich seltener Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen müssten wie etwa Sozialpädagogische Familienhilfe, Vollzeitpflege, Heimerziehung und Betreutes Wohnen, sagt May.

Aber: „Familienhilfe wird zunehmend nicht mehr finanziert“. Das liege an „Sparmaßnahmen über die Jahre. Wir brauchen mehr Kurse, um das aufzufangen. Pro Kurs erreichen wir immerhin zehn bis zwölf Elternteile“.

Eigene Kurse für „hochstrittige“ Eltern

Bei vielen Projekten sei die Finanzierung schwierig, sagt May. Sie ist dafür zuständig, Spendengelder heranzuholen, etwa von Stiftungen. Die würden allerdings oft lieber Projekte finanzieren, die sich direkt an Kinder richten. „Ein Musikkurs hilft Kindern aus schwierigen familiären Situationen aber wenig, wenn die Eltern sie weiterhin zu Hause anschreien“, sagt May. Fördermittel für Elternaktivierung seien schwierig zu bekommen. Deshalb will der Tagesspiegel mit der Spendenaktion „Menschen helfen“ einspringen und die Personalkosten übernehmen.

Die Kinder sind der Gewalt ausgeliefert, wenn Eltern sich am Telefon anschreien. Das ist bedrohlich für sie.

Manuela Reuß, Leiterin der Elternkurse

Auch für einen zweiten Kurs, den der Familientreff anbietet: „Kinder im Blick“ richtet sich an hochstrittige Eltern. „Fast keiner kommt von sich aus in den Kurs“, sagt May. Die Teilnehmenden würden größtenteils von Familiengerichten dorthin geschickt. „Es sind Fälle, in denen beide Elternteile der Meinung sind: ,Ich selbst mache alles richtig. Das Problem ist der andere’“. Dabei seien ihrer Erfahrung nach meist beide Eltern am Streit beteiligt. Solche Eltern würden dabei oft das Kind aus dem Blick verlieren.

„Die Kinder sind der Gewalt ausgeliefert, wenn Eltern sich am Telefon anschreien. Das ist bedrohlich für sie“, sagt Reuß. „Und wenn ein Elternteil das andere abwertet, wird auch das Kind mit abgewertet“, sagt Catrin May. „Jedes Kind weiß, dass es ein Teil von beiden Eltern ist. Es denkt dann: ,Wenn der Vater oder die Mutter nicht richtig ist, bin ich auch nicht richtig’“. Das sei psychische Gewalt.

Sie lernen, mit dem Ex-Partner zu sprechen ohne zu schreien

Die Eltern lernen im Kurs „Emotionscoaching“: Was können sie antworten, wenn das Kind sagt ,Ich geh’ nie wieder zu Papa’? Wie fängt man es auf, wenn sie nach Hause wollen, zum anderen Elternteil, bei dem sie meistens leben.

In der Mitte des Kurses geht es auch darum, wie man mit dem Ex-Partner reden kann, ohne zu streiten und zu schreien. Wichtig sei etwa die Motivation: „Ich mache das jetzt für das Kind und bleibe sachlich.“ Und pro Telefonat nur eine Sache zu klären, sei ein wichtiger Rat. Geübt wird das im Rollenspiel: Ein anderer Kursteilnehmer spielt den Ex-Partner. „Die haben meist einen Heidenspaß“, sagt Reuß. „Und die, die sich selbst spielen, geraten in Stress.“

In beiden Kursen gehe es um Gewaltvermeidung, sagt Catrin May. Bei „Starke Eltern – starke Kinder“ ist eine der Lösungen, die Kommunikation in der Familie zu verbessern. Und: „Wir sprechen darüber, wie die Eltern selbst aufgewachsen sind“, sagt Reuss. Ben Landmann hat selbst bei seinem alleinerziehenden Vater gelebt, seit er neun Jahre alt war.

Worum es im Kurs auch oft geht: Wie man vorhersehbare Abläufe schafft und den Alltag mit dem Kind gestaltet. „Wir haben viele Eltern dabei, deren Kinder ADHS haben“, sagt Reuß. „Im Kurs lernen die Eltern: Gerade Kinder mit ADHS brauchen Verlässlichkeit und Klarheit. Sie müssen wissen: Wie sieht mein Tag aus? Wer holt mich ab? Manche Kinder finden einen Wochenplan toll.“

Auch Jannek hat eine ADHS-Diagnose und sein Vater hat im Kurs viel über Struktur und Rituale gelernt – und das neue Wissen tatsächlich umgesetzt: „Ich musste erstmal vernünftige Essgewohnheiten schaffen“, nicht nur für das Kind, sondern auch für sich selbst. „Ich bereite jetzt oft ein gemeinsames, gesundes Frühstück mit Obst und Gemüse zu und frühstücke dann auch selbst.“ Als er damit anfing, habe sein Sohn ganz ungläubig gesagt: „Papa, das hast du ja noch nie gemacht!“ Auch ein gemeinsames Abendbrot hat er eingeführt. Und gemeinsames Zähneputzen gehört auch zu der neuen Struktur „Dann putze ich zur Not zweimal, wenn ich noch etwas essen will, wenn er im Bett ist.“

Natürlich funktioniere das Kind jetzt nicht einfach so viel besser, nur weil er den Kurs gemacht habe, sagt Landmann. Aber es sei doch einiges besser geworden.

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