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Vergnügungssüchtig. Zwei Millionen Menschen besuchen den Wintertraum am Alexa jährlich, sagen die Veranstalter. Manche trinken mehr als einen Glühwein. Manche tragen Bommelmützen und rufen beim Karrussellfahren freudig „Helau“!

© Björn Kietzmann

Adventsmarkt: Wo Weihnachten richtig wehtut

Von wegen besinnlich: Auf dem größten Adventsmarkt der Stadt am Alexanderplatz muss es rummeln, drängeln, trieseln. Unser Reporter Tiemo Rink war einen Tag vor Ort. Eine Reportage.

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Es ist in der Weihnachtsmannbranche wie in der Gastronomie: Zur wahren Meisterschaft bringt es nur, wer die Unarten seiner Gäste mit Langmut pariert. Anders als der Gastronom ist der Weihnachtsmann jedoch stocknüchtern, wenigstens mittags, er muss nüchtern sein, allein schon der Kinder wegen, die vielleicht noch wirklich an einen glauben, woran denn auch sonst.

Und so gehört es zum Schicksal, bei vollem Bewusstsein als flauschig roter Sitzsack missbraucht zu werden, begraben unter mehrköpfigen Reisegruppen. Der „Wintertraum am Alexa“ an einem Sonnabend. Dies ist Berlins größter und, wie schon berichtet, oft übervoller Weihnachtsmarkt mit jährlich laut Veranstalter rund zwei Millionen Besuchern, eine Kirmes mit Riesenrad, Karussell und Geisterbahn. Für Weihnachtsmänner ein permanenter Belastungstest.

Es ist kurz nach elf Uhr mittags, als seine Augen zum ersten Mal an diesem Tag leicht nach vorne quellen, ein Überdruckventil für die Dame mit den breiten Hüften, die sich – „Na, Du“ – soeben auf seinen Schoss hat fallen lassen. Ob er lächelt oder vor Schmerzen das Gesicht verzieht, sieht man nicht, die weiße Bartmatte lässt nur die Augenpartie frei.

Wer über die „Eventisierung“ der Weihnachtszeit nölt und sich mehr Besinnlichkeit wünscht, bekommt am Alexa eine schöne Vorstellung davon, was Weihnachten in Berlin wirklich bedeutet: saufen unter der Bommelmütze. Der Rest ist Geschmackssache in einer Stadt, in der Jesus und seine bunte Truppe noch nie eine große Rolle spielten, und so ist es auch egal, dass eine in ein Karussell eingespannte Bommelmützenfrau am frühen Nachmittag über die Köpfe der Menschenmassen hinwegfliegt und „Helau“ schreit, immer wieder „Helau“, bis das Karussell langsam auspendelt und ein bärtiger Szenetypberliner mit Hornbrille sich erbarmt und ein „Kölle Alaaf“ zur Antwort gibt, Hipster unter sich.

Ein paar mehr davon könnte augenscheinlich die junge Frau gut gebrauchen, die in einer Holzbude steht und bedruckte Jutebeutel zu sieben Euro das Stück verkaufen möchte. Die sind – wie Trendscouts übereinstimmend berichten – der letzte Schrei unter modebewussten Großstädtern, aber solches Publikum kommt hier praktisch nicht vor. Und so herrscht vor der Jutebeutel-Bude gähnende Leere – und ringsherum jene unironische Fröhlichkeit, die, befeuert durch unzählige Gläser Glühwein zu 2,50 Euro aufwärts, erst am nächsten Morgen in schlechte Laune umschlagen dürfte.

Bis dahin ist es aber noch etwas hin. Gut 100 Liter Glühwein verkaufe sie an solchen Tagen, sagt die Frau aus der Glühweinbude, ein kleiner Verschlag von vielleicht neun Quadratmetern. Der Umsatz der großen Stände dürfte dementsprechend höher sein.

Wie Asiaten den Weihnachtsmarkt aufmischen

Die Rushhour beginnt gegen 15 Uhr, leichter Schneefall setzt ein. Die Menschenmassen rücken jetzt zusammen, Gesprächsfetzen wehen herüber. „Nur weil du Messie bist, bedeutet das nicht, dass du keinen Anspruch auf eine Wohnung hast“, belehrt ein blauhaariger Mann seine Begleiterin.

Gegen 18 Uhr ist Schichtwechsel, nun übernimmt die Stadtjugend mit harten Trinkgewohnheiten. Der Anteil an Wodkaflaschen steigt, auch wenn Glasflaschen eigentlich verboten sind, egal. Ein Rausch des schlechten Geschmacks, aber immerhin ein Rausch, also einfach drauflos. Mit 15 Mann sei man hier zur Überwachung, erzählt der Herr vom Sicherheitsdienst und dass den meisten Ärger Touristen machen würden.

Besonders arg würden es dabei Asiaten treiben, echte Wüteriche, kampfkunsterfahren, sagt er, und wer kennt sie nicht, diese lächelnden Japaner mit ihren mannshohen Rollkoffern, die erst freundlich grinsten und dann auf dem Weihnachtsmarkt ihr Mütchen kühlten, „so sieht das aus“, sagt er. Er habe aber trotzdem alles im Griff.

„Ich hab dich so lieb“ steht auf der Vorderseite der Lebkuchenherzen, „Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“ auf der Rückseite. Leicht beeinträchtigt in seiner Aktivität ist auch das kleine Kind, das jetzt gegen acht Uhr abends im Glaslabyrinth ungebremst gegen eine Scheibe läuft, brüllendes Gelächter der Mutter außerhalb. „Guck ma, voll gegen die Wand, haha“, freut sich die Frau, Stimmung prima, „allet juti“, quasi.

Nicht so prima hingegen ist kurz vor Toresschluss die Laune bei einem jungen Paar: Es gibt wenig traurigere Anblicke als einen Jugendlichen mit glitzersternverzierter Bommelmütze, der von seiner Freundin mit lila Bommelmütze und gleichfarbigen Fingernägeln in den Senkel gestellt wird.

Was er sich einbilde, nicht auf sie zu warten und einfach weiterzuziehen, kreischt sie. Man sei schließlich zusammen gekommen und werde zusammen gehen, so würden es Paare machen und jetzt würden schon die Leute gucken, weil sie wieder streiten und sie außerdem weinen müsse über seine fiese Art, und sie presst tatsächlich ein paar Tränen heraus, und irgendwann teilt er ihr mit, dass sie eigentlich auch jetzt schon den Heimweg antreten könne – ohne ihn. Aber das hätte er wohl gerne, erklärt sie, sie werde bleiben, schon der Kontrolle halber, und so zieht das junge Glück von dannen, vorbei am Weihnachtsmann, der jetzt das erste Mal an diesem Abend etwas durchatmen kann. Vorbei auch am prächtig leuchtenden Riesenrad, das das eigene Lichtspiel auf exakt „16,7 Millionen Farben“ taxiert, und so wird es wohl sein, keine Farbe mehr, aber auch keine weniger.

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