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Eine Schülerin geht in einer Jogginghose auf dem Schulhof einer Schule.

© picture alliance/dpa/Lars Klemmer

Bestürzung über Bildungsstudie: Esken fordert nationale Kraftanstrengung für die Bildung

Neue Daten zeigen, wie stark die Bildungschancen von Kindern von deren Herkunft abhängen. Die Bestürzung ist parteiübergreifend groß. Welche Forderungen es nun gibt.

Stand:

Angesichts neuer Daten zur Bildungsungerechtigkeit in Deutschland fordert die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken eine nationale Kraftanstrengung für die Bildung. „Bund, Länder und Kommunen müssen ihre Anstrengungen bündeln und dafür sorgen, dass unser Bildungssystem das Versprechen einer fairen und chancengerechten Gesellschaft erfüllen kann“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Saskia Esken, SPD-Parteivorsitzende

© IMAGO/Fotostand / Reuhl

Esken forderte außerdem mehr Tempo beim Startchancen-Programm zur Unterstützung von Schulen, die von vielen benachteiligten Kindern besucht werden. Das Programm ist im Koalitionsvertrag vereinbart, die Details sind aber noch unklar. „Ich will ganz deutlich sagen, dass dieses Programm jetzt nicht weiter aufgeschoben und kleingerechnet werden darf“, sagte Esken.

Zuvor war am Dienstag in Berlin der „Chancenmonitor 2023“ des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo und des Vereins „Ein Herz für Kinder“ vorgestellt worden. Die Daten zeigen: Die schulischen Chancen von Kindern hängen eklatant vom Bildungshintergrund der Eltern ab. Wenn kein Elternteil Abitur hat, besuchen demnach nur 28,2 Prozent der Kinder ein Gymnasium. Sind es beide Elternteile, liegt der Wert bei 75,3 Prozent. Überraschend ist die Erkenntnis, dass der Migrationshintergrund weniger Einfluss hat als oft vermutet.

Deutsches Bildungssystem gilt als besonders ungerecht

Parteiübergreifend ist die Bestürzung angesichts der Chancenungleichheit groß. „Das dürfen wir nicht hinnehmen“, sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). „Kein Kind sucht sich aus, in welches Umfeld es geboren wird. Aber jedes Kind soll sich entscheiden können, welchen Lebensweg es wählt. Das Aufstiegsversprechen in unserem Land muss wieder mit Leben gefüllt werden.“

Seit Jahren gilt das deutsche Bildungssystem international als besonders ungerecht. „Jede zehnte Schule in Deutschland soll zur Startchancen-Schule werden – dort, wo die Herausforderungen am größten sind“, sagte Stark-Watzinger. Eine Milliarde Euro pro Jahr will ihr Ministerium investieren. Losgehen soll es aber erst im Schuljahr 2024/25. Im März hatte Esken gefordert, den Programmstart auf Sommer 2023 vorzuziehen.

Nina Stahr, Sprecherin für Bildung der grünen Bundestagsfraktion, sagte, der Bildungserfolg von Kindern müsse dringend vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Eltern entkoppelt werden. Die Koalition werde mit dem Startchancen-Programm zielgenau die Schulen und Kinder unterstützen, die am meisten Unterstützung bräuchten.

Streit um das Startchancen-Programm

Stahr forderte ein Entgegenkommen der Länder, „um zu einer evidenzbasierten Mittelverteilung zu kommen“. Nach langem Streit hatten sich die Bundesländer im März überraschend auf einen Schlüssel geeinigt, nach dem das Geld verteilt werden soll. Ein Kompromiss wurde aber nur dadurch möglich, dass mehr Gelder als von manchen Seiten gewünscht nach dem Prinzip Gießkanne verteilt werden. Nur 50 Millionen Euro gehen gezielt an Länder, in denen besonders viele benachteiligte Schülerinnen und Schüler leben.

„Außerdem müssen wir eine ernsthafte Debatte über die Sinnhaftigkeit der frühen sozialen Segregation im Schulsystem führen“, forderte Stahr. In der Studie wird empfohlen, die Aufteilung der Kinder auf unterschiedliche weiterführende Schulen zu verschieben. Dies ist ein schulpolitisch umstrittener Punkt.

Nina Stahr, grüne Bundestagsabgeordnete

© picture alliance/dpa/Annette Riedl

In Deutschland ist es traditionell so, dass die Kinder früh auf unterschiedliche Schulformen verteilt werden, in den allermeisten Bundesländern schon nach Klassenstufe vier. Im ifo-Papier findet sich dazu das folgende Fazit: „Im internationalen Vergleich belegt die Forschung, dass die frühzeitige Aufteilung auf weiterführende Schulen die Ungleichheit bei den Schülerleistungen erhöht, ohne das Leistungsniveau zu verbessern.“

Zu den Ergebnissen des Chancenmonitors äußerte sich auch Karin Prien, CDU-Vizevorsitzende und Kultusministerin in Schleswig-Holstein. „Bildungsgerechtigkeit ist nicht nur eine Aufgabe von Bildungspolitik, sondern auch eine Aufgabe von Familien- und Sozialpolitik“, sagte sie dem Tagesspiegel. Es brauche eine bessere Zusammenarbeit aller beteiligten Institutionen, „und dazu gehören Jugendämter, Jugendsozialarbeit bis hin zu Polizei und Jugendgerichten“.

Von einem „Kardinalproblem unserer Gesellschaft“ sprach am Dienstag angesichts der Befunde die Soziologin Carolin Butterwegge, die auch als Politikerin der Linkspartei aktiv ist. „Leider ist Deutschland Vorreiter darin, Bildungschancen nach sozialer Herkunft zu verteilen, und das seit Jahrzehnten“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Es ist immer wieder in Studien belegt worden, und doch tut sich nichts. Das ist dramatisch, weil ganz vielen jungen Menschen die Chance geraubt wird, sich entsprechend ihrer Potentiale zu entwickeln.“

Butterwegge nannte beispielhaft Zahlen aus Nordrhein-Westfalen. Dort hätten von den Abiturienten, die die Gesamtschule mit dem Abitur verlassen, einer Studie zufolge fast 80 Prozent am Ende der vierten Klasse keine Gymnasialempfehlung gehabt. „Das zeigt, dass im System die Weichen für das einzelne Kind viel zu oft falsch gestellt werden“, sagte Butterwegge.

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