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© Gestaltung: Tagesspiegel/Fotos: freepik

„Ein Placebo gegen Hass“: Das hält die Tagesspiegel-Community von Klarnamen im Netz

Braucht das Internet den „Realnamen“-Zwang, um ziviler zu werden? Die hitzige Debatte in unserer Community zeigt: Die Lösung ist nicht so einfach, wie sie klingt.

Stand:

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, fordert eine Klarnamenpflicht im Internet. Sein Argument: Die öffentliche Debatte sei vielerorts verroht, Anonymität begünstige Beleidigungen, Drohungen und Enthemmung. Wer mit seinem Namen für Aussagen einstehen müsse, denke eher nach – und trage zu einer zivileren Diskussionskultur bei.

Kritiker halten dagegen: Eine Klarnamenpflicht löse die strukturellen Probleme sozialer Netzwerke nicht, gefährde Minderheiten und schaffe neue Risiken. Statt Symbolpolitik brauche es Regulierung der Plattformen, Medienbildung und eine konsequentere Durchsetzung geltenden Rechts.

Unsere Leserinnen und Leser reagieren auf Voßkuhles Vorschlag mit Zustimmung, Skepsis, Sorge und Ironie. Sie stellen Fragen nach Verantwortung, warnen vor realen Gefahren und schlagen Alternativen vor, wie digitale Debatten besser geschützt werden könnten.

Lesen Sie hier eine redaktionelle Auswahl von Stimmen aus der Tagesspiegel-Community.


Claudia
Voßkuhles Vorschlag wirkt wie ein „Placebo“, das von den eigentlichen Problemen ablenkt. Die Forderung nach einer Klarnamenpflicht im Netz, um die „Verrohung der Debattenkultur“ zu bekämpfen, klingt auf den ersten Blick plausibel. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich: Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, greift zu kurz.

Sein Vorschlag ignoriert, dass Hass und Hetze im Netz kein Problem mangelnder Transparenz sind, sondern struktureller Fehlanreize. Erstens: Klarnamen ändern nichts an den Algorithmen, die Hass und Polarisierung belohnen. Solange Plattformen wie X oder Facebook Engagement durch Empörung maximieren, wird eine Pflicht zur Namensnennung keine sachlicheren Debatten schaffen – sondern nur sichtbarere Hasskommentare.

Zweitens: Anonymität ist nicht das Kernproblem. Rechtsextreme und Trolle würden sich anpassen, etwa durch Fake-Identitäten, während Kritikerinnen und Kritiker, Whistleblower oder marginalisierte Gruppen noch angreifbarer würden.

Statt Nutzerinnen und Nutzer zu regulieren, bräuchte es die konsequente Umsetzung des Digital Services Act

Tagesspiegel-Nutzerin Claudia

Voßkuhles Fokus auf „Diskurskultur“ blendet aus, wer die Debatten dominiert: rechte Akteure, die gezielt Stimmung machen, und Plattformen, die Hass monetarisieren. Statt Nutzerinnen und Nutzer zu regulieren, bräuchte es die konsequente Umsetzung des Digital Services Act, europäische Alternativen zu US-dominierten Netzwerken und flächendeckende Medienbildung.

Sein Vorschlag wirkt wie ein juristischer Reflex – ordnungspolitisch gedacht, aber realitätsfern. Ohne strukturelle Veränderungen bleibt die Klarnamenpflicht Symbolpolitik, die die Mächtigen schont und die Schwächsten gefährdet. Bevor über Identitätspflichten diskutiert wird, muss erst das System repariert werden, das Hass belohnt.


Toni
Ich bekäme sicherlich berufliche Nachteile, wenn meine sachlichen Forenbeiträge, zum Beispiel zur Kernenergie, mir zugeordnet werden könnten.


Pedro_X2
Darf er gerne fordern. Fände ich auch okay. Ist für ihn halt Neuland. Pornoseitenanbieter sind bekanntlich zu einer Altersverifikation verpflichtet. Die Verpflichtung können EU und Bundesregierung bereits seit Jahren nicht durchsetzen. Insofern will ich erst einmal ein rechtliches und technisches Konzept sehen, bevor ich mir vertiefte Gedanken mache.



AlexHH1
Ich stimme Herrn Andreas Voßkuhle ausdrücklich zu. Die Verrohung im Netz stumpft ab, und Abstumpfung verlangt früher oder später nach der nächsten Eskalationsstufe. Das hält keine Gesellschaft auf Dauer aus. Wenn ich eine Meinung habe, dann stehe ich mit meinem Namen dafür ein. Alles andere ist feige, hinterrücks, politisch links wie rechts gleichermaßen mehr als unerquicklich.

Eine offene, streitbare Gesellschaft lebt vom Widerspruch, nicht vom Versteckspiel

Tagesspiegel-Nutzer AlexHH1

Anonym zu pöbeln ist ungefähr so mutig, wie aus dem Auto heraus den Mittelfinger zu zeigen und bei Grün sofort Gas zu geben. Eine offene, streitbare Gesellschaft lebt vom Widerspruch, nicht vom Versteckspiel. Klarnamen zwingen zur Selbstdisziplin: Man denkt einen Moment länger nach, wenn der eigene Name darunter steht. Schon das würde den Ton im Netz spürbar senken.

Kurz gesagt: weniger Maskenball, mehr Gesicht zeigen. Demokratie braucht Rückgrat und kein WLAN-Versteck. Beste Grüße aus Potsdam und allen eine friedliche, besinnliche und wunderschöne Weihnachtszeit. Alexander Müller

Kathode @AlexHH1
Lieber Alexander Müller, ich war in China und habe miterlebt, wie sich das dort entwickelt hat. Die Klarnamenpflicht funktioniert hervorragend. Vor allem darin, Diskussionen leise, kurz und angenehm vorhersehbar zu machen. Die Menschen sind höflich. Die Meinungen erstaunlich einheitlich. Konflikte selten sichtbar. Das soziale Klima ist stabil wie ein frisch betonierter Platz ohne Bänke. Niemand stolpert. Niemand bleibt stehen. Niemand fragt, warum man hier eigentlich nicht sitzen darf.

Klarnamen führen dort nicht zu besseren Argumenten, sondern zu besseren Instinkten. Instinkten dafür, wann man schweigt

Tagesspiegel-Nutzer Kathode

Klarnamen führen dort nicht zu besseren Argumenten, sondern zu besseren Instinkten. Instinkten dafür, wann man schweigt. Und Schweigen gilt als besonders reife Form gesellschaftlicher Teilhabe. Man denkt tatsächlich länger nach, wenn der eigene Name darunter steht. Allerdings weniger darüber, ob etwas richtig ist, sondern darüber, ob es klug ist, es zu sagen. Das senkt den Ton. Und irgendwann auch die Stimmen.

Anonymität ist kein Maskenball. Sie ist der Raum, in dem Widerspruch entsteht, bevor er gesellschaftlich genehmigt ist. Ohne diesen Raum bekommt man Ruhe. Viel Ruhe. Die Art von Ruhe, die Systeme sehr mögen und Demokratien schlecht bekommen. Kurz gesagt: Klarnamen machen Debatten ordentlich. Anonymität macht sie lebendig. Und lebendig ist selten bequem, aber meistens notwendig. Beste Grüße Jörg Radestock


Ralffrh
Ich bin dagegen, und ich erkläre es auch: Kurz nach dem 7. Oktober 2023 – der Tagesspiegel hatte berichtet – tauchten an Wohnungen und Häusern jüdischer Mitbürger Judensterne auf, die hatten ihren Klarnamen an der Klingel.

ich möchte meinen Namen nicht in einem Forum lesen und vielleicht Besuch von links-, rechts- oder religiösen Aktivisten bekommen

Tagesspiegel-Nutzer Ralffrh

Heute bestellen Sie Essen unter der Adresse eines freundlichen Nachbarn, lassen sich mit einem Taxi nicht mehr von zu Hause abholen oder bringen. Jüdische User werden in den Foren angefeindet. Nein, ich möchte meinen Namen nicht in einem Forum lesen und vielleicht Besuch von links-, rechts- oder religiösen Aktivisten bekommen. Der Staat hat heute bereits die Möglichkeit, gegen Hass und Hetze vorzugehen.



Max.Bookwood
Wichtiger wäre es, die Plattformen zu verpflichten, gegen die Flut von Bots vorzugehen und sie andernfalls mit harten Sanktionen zu belegen. Wenn sie sich dann empört aus dem EU-Raum verabschieden – umso besser. Oder wir lassen uns einfach weiter wie bisher von ausländischen Akteuren den innerdeutschen Diskurs bestimmen, mit allen politischen Konsequenzen, die wir in den Umfragen sehen.


...kann mittels KI sehr schnell ein Nutzerprofiling erstellt werden

Tagesspiegel-Nutzer Dumme_Fragen

Dumme_Fragen
Schwieriges Thema. Mit einer Klarnamenpflicht sind viele Vorteile, aber auch massive Nachteile verbunden. Ein Beispiel: Wenn Klarnamenpflicht bedeutet, dass User-Accounts keinen frei wählbaren Nutzernamen mehr haben, sondern der richtige Name genutzt wird, kann mittels KI sehr schnell ein Nutzerprofiling erstellt werden.

Welche politischen und gesellschaftlichen Einstellungen hat der Mensch, und daraus ableiten: will man ihm eine Wohnung vermieten oder verkaufen, ihn einstellen oder ihm einen Kredit geben? Daher sehe ich das sehr kritisch. Dass bei einem Account ein richtiger Nutzer verifiziert hinterlegt sein muss, der juristisch belangt werden kann, finde ich aber sehr sinnvoll.


DerFhainer
Ich denke, es hatte seinen Grund, warum die Geschwister Scholl nicht mit Klarnamen gearbeitet haben. Zu der Zeit waren deren Publikationen nicht nur Hass und Hetze, sondern sogar strafbar. Wie hätten Aktivisten sich zu dieser Zeit über die Anonymität des Internets gesehnt. Wer weiß, was in 20 Jahren als Hass und Hetze oder Straftat gilt? Man sollte der Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht freiwillig den Weg ebnen.



SoseheIchEs
Man sollte komplexe Themen erst einmal von allen Seiten beleuchten. Das hier ist sehr komplex, und es führt zum Ausschluss sehr vieler Menschen aus dem digitalen Raum. Klarnamenpflicht bedeutet, viele Gruppen von der öffentlichen Diskussion auszuschließen: psychisch Kranke, Menschen mit stigmatisierten Erkrankungen, Stalkingopfer, Sinti und Roma.

Menschen mit seltenen Nachnamen werden dann schnell von aggressiven Menschen besucht, die statt mit Worten mit Gewalt argumentieren. Bitte an Minderheiten denken. Für viele ist es real gefährlich, im Netz die eigene Identität preiszugeben – teils lebensgefährlich.

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