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Zu alt für die Chemo: Soll ein 80-Jähriger noch das teure Medikament bekommen?
Hendrik Streeck will, dass alte Menschen auf teure Behandlungen verzichten. Medizinethikerin Winkler hält dagegen: Das Alter ist nicht das Problem, wichtiger sei, welche Therapien am Lebensende überhaupt helfen.
Stand:
Hendrik Streeck hat eine neue Debatte entfacht: In der Talkshow „Meinungsfreiheit“ des Senders Welt TV stellte der CDU-Politiker die Frage, ob sehr alte Menschen überhaupt noch Anspruch auf besonders teure Medikamente haben sollten. Die Bürgerinnen und Bürger nähmen „viel zu sehr das Gesundheitssystem in Anspruch“, sagte der Bundesdrogenbeauftragte. Lässt sich daraus ableiten, dass ab einem gewissen Alter Schluss sein sollte?
Frau Winkler, Sie sind Medizinethikerin und Onkologin. Hat Hendrik Streeck recht damit, dass sehr alte Menschen auf sehr teure Medikamente verzichten sollen? Das Gesundheitssystem sei ja überfordert.
Dass das Gesundheitssystem überfordert ist und wir uns überlegen müssen, wie wir die solidarisch getragenen Ressourcen sinnvoll einsetzen, da hat er recht.
Sollte man gerade bei alten Menschen anfangen?
Es gibt sicher noch „Effizienzreserven“ im System, wo Dinge redundant gemacht werden, zu teuer sind und wir an anderer Stelle günstiger werden könnten, indem wir Abläufe besser abstimmen.
Und wenn das Geld nicht für alles reicht?
Dann muss man priorisieren, also prüfen, welche Maßnahmen am wirksamsten sind, die am meisten Lebenszeit oder Lebensqualität ermöglichen. Und dann würde man von unten her kürzen: dort, wo Therapien gar nichts oder sehr wenig bringen oder nicht die Lebensqualität verbessern.
Spielt das eine Rolle, ob jemand 40 oder 84 Jahre alt ist?
Das kalendarische Alter sagt nichts über den Ressourcenbedarf aus. Wir wissen, dass der Ressourcenverbrauch tatsächlich mit der Nähe zum Lebensende steigt – aber nicht notwendigerweise mit dem Alter. Wenn wir also wüssten, wann jemand sechs Monate vor dem Tod steht, dann könnte man sagen: In dieser Phase ist der Bedarf besonders hoch. Aber das hat nichts mit dem Alter zu tun. Tatsächlich gibt es in der Medizinethik eine Kontroverse darüber, ob diejenigen, die im Alter ihr Leben gelebt haben, nicht zurückstehen sollten, wenn es um teure, lebensverlängernde Maßnahmen geht – wohl aber gleichen Zugang zu allen anderen Maßnahmen haben – etwa Palliativmedizin. Aber Herr Streeck führt hier ja keine medizinethische Diskussion.
In der Praxis bieten wir grundsätzlich alles bis zuletzt an. Gibt es aus ethischer Sicht eine Grenze zwischen medizinisch sinnvoller Therapie und „Übertherapie“ am Lebensende?
In der Medizinethik spricht man hier von Futility – also der Grenze der Sinnhaftigkeit. Eine Therapie sei immer nur dann sinnvoll, wenn sie heilen, lindern, Leben verlängern oder Lebensqualität verbessern kann. Wenn nichts davon mehr erreichbar ist, ist die Therapie nicht sinnvoll. Es gibt Übertherapie im Sinne von „zu viel Medizin“, die nachweislich die Lebensqualität eher verschlechtert als verbessert, weil jede Therapie Nebenwirkungen hat. Trotzdem ist der Wunsch nach maximaler Therapie oft groß: „Machen Sie bitte alles.“
Wollen die Patientinnen und Patienten das auch?
Studien zeigen: Etwa zwei Drittel der Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung möchten, wenn ihre Lebenszeit begrenzt ist, den Schwerpunkt auf palliative Begleitung und Symptomkontrolle legen. Ein Drittel will aber um jeden Preis Zeit gewinnen. Genau hier wird die Diskussion relevant, wenn die Ressourcen begrenzt sind: Wo liegen die Grenzen der Wirksamkeit, und zu welchem Preis können wir uns sie leisten?
Streeck spricht explizit von 100-Jährigen. Ist man dann zu alt für teure Medikamente? Oder kann das auch schon mit 80 passieren?
So eine Grenze gibt es biologisch nicht. Ob man sie aus Gründen der gesellschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit einziehen sollte, ist eine politische Diskussion.
Wie wirkt Streecks Vorstoß auf jene, die Jahrzehnte ihre Beiträge gezahlt haben?
Das kann nicht auf Arzt-Patienten-Ebene entschieden werden. Wenn wir sparen müssen, dann müssen wir überlegen, wofür wir das Geld ausgeben und wo jeder Euro am sinnvollsten eingesetzt ist. Und natürlich gibt es auch eine individuelle Verantwortung. Ich kann nicht sagen, wo genau das der Fall ist, aber jedem fallen sicher Bereiche ein – sowohl Ärzten als auch Bürgern –, in denen man sich fragt: Musste dieser Arztbesuch, diese Krankschreibung oder bestimmte Untersuchung wirklich sein?
An welcher Stellschraube, würden Sie werkeln?
Es gibt also nicht die eine Stellschraube. Wir brauchen ein Umdenken: Wie sichern wir Lebensqualität und vermeiden Ausgaben für Maßnahmen, die kaum nützlich sind? Ein Ansatz ist „Klug entscheiden“: Medizinische Fachgesellschaften haben Maßnahmen gelistet, auf die man verzichten kann, ohne die Versorgungsqualität zu gefährden. Bisher setzen wir die nicht konsequent bei uns um. Wir sind Spitzenreiter darin, wie schnell neue Medikamente nach der Zulassung auf den Markt kommen. Lösen diese den versprochenen Nutzen tatsächlich ein? Das könnten wir nach Markteinführung genauer monitoren und entsprechend nachverhandeln.
Wenn man sich schon nicht alles leisten kann, sollte man zuerst bei Bereichen ansetzen, die eher dem Wohlfühlsektor zuzuordnen sind oder rein nach Nachfrage funktionieren – dort, wo Patienten zu Ärzten gehen, die alles aufschreiben, was gewünscht wird.
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