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5,7 Millionen Betroffene : Studie zeigt erstmals Ausmaß sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter
Am häufigsten kamen die Täter aus dem familiären Umfeld. Männer erfuhren besonders oft sexualisierte Gewalt durch kirchliche Mitarbeiter. Die Studie untersuchte auch die Folgen für die Opfer.
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Laut einer Studie haben rund 13 Prozent der Menschen in Deutschland zwischen 18 und 59 Jahren mindestens ein Mal sexuelle Gewalt im Kindes- und Jugendalter erlebt. Das seien hochgerechnet 5,7 Millionen Menschen, erklärte der Psychiater Harald Dreßing am Montag in Mannheim.
Betroffen sind demnach vor allem Frauen, als Täter werden hingegen mehrheitlich Männer angegeben. Nach Angaben der Wissenschaftler gibt die Untersuchung erstmals Anhaltspunkte für das Ausmaß der Taten und die Verteilung auf die Tatorte.
Laut der Studie gaben Betroffene am häufigsten an, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Fast alle Befragten berichteten von nicht gewollten Berührungen, mehr als ein Fünftel vom Eindringen in den Körper. Auffällig sei, dass Männer deutlich häufiger sexualisierte Gewalt in Sport- und Freizeiteinrichtungen oder durch kirchliche Mitarbeiter erlebten.
Scham lähmt viele Betroffene
Rund 38 Prozent der Betroffenen hatten demnach bisher nicht mit anderen Personen über die erlebte sexualisierte Gewalt gesprochen. Als Grund nannten sie häufig Schamgefühle und die Angst, dass einem nicht geglaubt werde. „Das zeigt, dass es immer noch ein erhebliches Dunkelfeld gibt und es vielfach an geschützten Räumen fehlt, in denen Menschen das Erlebte offen ansprechen können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen“, sagte Dreßing.
Bei fast einem Drittel der Fälle spielten laut der Untersuchung digitale Kanäle, also beispielsweise Social Media, Messenger-Dienste und Chats, eine wichtige Rolle. In diesen Fällen ging es unter anderem um die ungewollte Zusendung pornografischen Materials, Aufforderungen zu sexuellen Handlungen oder Zwang und Druck, sexuelle Bilder und Videos zu teilen.
Nach eigenen Angaben ist die im vergangenen Jahr realisierte Studie repräsentativ, rund 3.000 Antworten von Befragten wurden ausgewertet. Initiiert wurde sie vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI). Beteiligt waren das Deutsche Zentrum für Psychische Gesundheit, die Kinder-und Jugendpsychiatrische Klinik in Ulm und das Kriminologische Institut in Heidelberg. Kooperationspartner war das Umfrageinstitut infratest dimap.
Finanziell beteiligten sich die Weiße-Ring-Stiftung, der Verein Eckiger Tisch sowie der Kinderschutzbund. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, plant eine bundesweite Erhebung zur Häufigkeit sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Dazu soll es Befragungen in 9. Schulklassen in allen Bundesländern geben.
Weitere Studien für Dunkelfeld nötig
Die Studie zeigt nach Angaben von ZI-Direktor Andreas Meyer-Lindenberg auch deutlich, dass das psychische Befinden der von sexualisierter Gewalt Betroffenen deutlich schlechter sei als das der Nichtbetroffenen. Ein Fazit aus der Studie sei, dass es weitere Untersuchungen geben müsse, um das Dunkelfeld aufzuhellen. Es brauche spezifische Schutzkonzepte und eine stärkere Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen. Zudem müssten Betroffene besser über Hilfsangebote aufgeklärt werden.
Die Betroffeneninitiative Eckiger Tisch begrüßte die Studie. Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend hätten in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, das Dunkelfeld aufzuhellen. Die Spitze des Eisbergs sei dadurch sichtbar geworden. „Mit den nun vorgelegten Zahlen sehen wir erneut klarer“, so die Initiative.
Es komme jetzt darauf an, als Gesellschaft das ganze Ausmaß dieser Katastrophe tatsächlich wahrzunehmen und Maßnahmen zu etablieren, um Jungen und Mädchen besser zu schützen. Sexueller Kindesmissbrauch sei nicht nur individuelles Schicksal, sondern ein fortdauernder gesellschaftlicher Skandal. Nötig sei eine „gesellschaftspolitische Kraftanstrengung“, damit die nächste Generation sicher vor sexueller Gewalt aufwachsen könne. (KNA)
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