zum Hauptinhalt

Chinesisches Charlottenburg: Berlins Chinatown

Qualle mit Spitzbeinen, Lackmöbel, Tee – all das findet man entlang der Kantstraße. In Charlottenburg hat asiatisches Leben schon lange Tradition. Ein Rundgang.

Der Spaziergang durch die Gegend, in der Berlin am asiatischsten ist, beginnt mit einem urdeutschen Klassiker. An einer Hauswand Ecke Kaiser-Friedrich- und Kantstraße erinnert eine Gedenktafel an Herta Heuwer (1913–1999). „Ihre Idee ist Tradition und ewiger Genuss!“ steht darauf. An dieser Stelle, unweit des S-Bahnhofs Charlottenburg, soll die gebürtige Königsbergerin am 4. September 1949 in ihrem Imbissstand die „Chill-up“-Sauce erfunden haben – und damit die Currywurst, wie wir sie heute kennen.

Wo sich Heuwers Bude befand, gibt es jetzt einen Supermarkt, der Pak Choi verkauft, zig Sojasaucen und 20-Kilo-Säcke mit kambodschanischem Langkornreis. „Go Asia“ heißt der Laden, er ist einer der größten Asiamärkte Berlins, und sein Name könnte auch das Motto sein für die ganze Kantstraße. In den vergangenen Jahren hat sich die Ost-West-Achse, die beinahe parallel zum Ku’damm im Süden und der Bismarckstraße im Norden verläuft, in eine Art kleines Chinatown verwandelt. Eine vergleichbar hohe Dichte an japanischen, vietnamesischen, thailändischen und vor allem chinesischen Geschäften findet man nirgends sonst in der Stadt. Unzählige Restaurants gibt es hier, Lebensmittel-, Tee-, Möbel- und Pflanzenläden, Massage- und Nagelstudios.

Anders als San Francisco, London oder Amsterdam hatte Berlin nie eine echte Chinatown. Dafür fehlte es Deutschland an Kolonien und am Goldrausch, und die paar Chinesen, die kamen, mussten sich auch nicht in bestimmten Vierteln niederlassen wie in Amerika. Dennoch habe sich das chinesische Leben schon in den 20er Jahren um die Kantstraße herum konzentriert, erzählt Dagmar Yu-Dembski, während wir das Drehkreuz am Eingang des Asiamarkts passieren.

Wer etwas über das chinesische Berlin erfahren möchte, findet wohl keine bessere Stadtführerin als die 70-Jährige. Yu-Dembskis Vater Hak-Ming stammte aus Chinas Süden, kam in den 30er Jahren als Student nach Darmstadt, zog nach Berlin, lernte hier seine Frau, eine Deutsche, kennen, und wurde im Westteil der Stadt in den 50ern und 60ern zur Legende. Als einer der Ersten eröffnete er nach dem Krieg ein China-Restaurant (das „Canton“ am Stuttgarter Platz) und schließlich die „Hongkong-Bar“, die sich als Treffpunkt der Prominenz etablierte. Die Bar war avantgardistisch eingerichtet – von Yus Freund Chen Kuen Lee, einem Schüler Hans Scharouns. (Ein anderer chinesischer Freund des Vaters wurde später Schwiegervater von Harald Juhnke, daher auch die berühmte Peking-Enten-Werbung.) Als Yu 1976 überraschend einem Schlaganfall erlag, titelte die „Bild“: „Blutsturz! Berlins China-König starb vor ,Hongkong’.“

Bis dahin hatte sich Yu-Dembski – der Name spricht sich übrigens „Yü“ – wenig mit ihrer Herkunft beschäftigt. Die Ehe der Eltern war an der Affäre des Vaters mit einer Chinesin zerbrochen. Fortan lehnte die Mutter alles ab, was mit China zu tun hatte. Und Dagmar Yu-Dembski selbst „wollte nicht die charmante Tochter des Chinakönigs sein“, wie sie in ihrem berührenden Buch „Chinaprinzessin“ schreibt, das kürzlich erschienen ist. Darin erzählt sie ihre Familiengeschichte und davon, wie sie zu ihren Wurzeln fand.

„Nach dem Tod meines Vaters hatte ich so eine Phase, in der ich die Leute um mich herum genervt habe, weil ich versuchte, in kurzer Zeit alles nachzuholen, was mit China zusammenhing: die Sprache, das Kochen …“, sagt sie, während wir durch die Gänge des Supermarkts streifen, wo sie zu jedem Produkt etwas erzählen kann. Etwa, dass Wegwerf-Essstäbchen in China nicht mehr gern gesehen seien, der Umwelt wegen, oder dass jeder Chinese, der etwas auf sich hält, einen elektrischen Reiskocher besitze.

Sie wollte die Heimat des Vaters kennenlernen

Yu-Dembski versteht sich als Vermittlerin zwischen den Kulturen, als eine, die den Deutschen die Chinesen erklärt, und umgekehrt. „In China teilt man sich beim Essen verschiedene Gerichte, und man sollte so viele davon haben, wie Personen am Tisch sitzen“, sagt sie und nimmt ein eingeschweißtes Päckchen aus dem Kühlregal. „Diesen gebackenen Tofu bereite ich gern mit Aubergine oder Zucchini, ein wenig Ingwer und Sojasauce zu. Das wird mit Reis serviert, schnell und gut.“

Um die Heimat des Vaters kennenzulernen, hat sie in den 80er Jahren als Reiseleiterin in China gearbeitet und dabei jede Ecke des Riesenreichs besucht. Sie hat zu chinesischen Themen geforscht und ist heute am Konfuzius-Institut der FU für Kulturprojekte zuständig, organisiert Ausstellungen. Als wir „Go Asia“ verlassen, plaudert sie mit den Mitarbeiterinnen an der Kasse auf Mandarin. Der Chef sei Chinese, berichtet sie, manche der Frauen kämen aus Thailand. Nur als ich frage, wie die Schlagzeilen der Zeitungen lauten, die es am Ausgang gratis gibt, muss sie passen: „Mein schriftliches Chinesisch ist nicht so gut.“

Zurück auf der Kantstraße laufen wir Richtung Savignyplatz. Etwa 8000 Chinesen gebe es in Berlin, sagt Dagmar Yu-Dembski. Auch wenn die offiziellen Zahlen niedriger seien. Berlin ist damit die bei Chinesen mit Abstand beliebteste deutsche Stadt. Zu Zeiten ihres Vaters waren die meisten, die hier lebten, aus Hongkong oder Taiwan, erst ab den 80er Jahren kamen viele Menschen aus der Volksrepublik; damals begann sich das Land nach Maos Tod gerade zu öffnen. Mit der blutigen Niederschlagung des Aufstands auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989 blieben dann viele länger als geplant. „Momentan ist Berlin, weil es so weltoffen ist, vor allem bei Studenten und bei Leuten aus der Film- und Designbranche beliebt“, sagt Yu-Dembski. Und dann sind wir auch schon bei „Tone of China“ angelangt, einem Möbelgeschäft, das sie mir zeigen möchte.

Dunkel lackierte chinesische Kommoden, Truhen und Kleiderschränke (sogenannte Hochzeitsschränke) stapeln sich hier bis unter die Decke. Manche sind antike Stücke, manche Nachbauten. Auf Regalen stehen Porzellangeschirr, Buddhas, Tonkrieger – und Vogelkäfige. „Die Chinesen haben früher in sehr kleinen Wohnungen gelebt, da war kein Platz für andere Haustiere. In Parks sehen Sie ältere Männer mit diesen Käfigen, so wie Deutsche mit ihrem Hund spazieren gehen.“

Der Inhaber des Ladens, Jian Zhou, ist ein alter Bekannter, Yu-Dembski hat ihn vor Jahren in ihrem Buch „Chinesen in Berlin“ porträtiert. Zhou sitzt an diesem Tag wie so oft hinter seinem Schreibtisch, gleich links vom Eingang. Über das Smartphone schickt ihm ein Freund Fotos von Möbeln, die er in China auftreiben konnte, gerade geht es um einen Stuhl für 600 Euro. „Das ist zu teuer“, sagt Zhou. Die Nachfrage nach antiken chinesischen Möbeln sei stark gestiegen. Seine Kunden: vor allem Deutsche, aber auch Chinesen. „Und Russen, Franzosen, Dänen ...“ Zhou kam 1989 als Student in die Stadt – er begann mit Elektrotechnik, später kam Kommunikationswissenschaft hinzu – und blieb, wegen des Tiananmen-Massakers. Ein Jahr hat er es noch mal in Peking versucht. „Doch die Leute sagten, ich sei gar kein richtiger Chinese mehr. Ich hatte Sehnsucht nach Berlin, Heimatgefühle.“ Er mag das offene Klima der Stadt, „kulti-multi“, wie er sagt.

Eine Erklärung, warum sich so viel Asiatisches und insbesondere Chinesisches in und um die Kantstraße findet (darunter drei weitere Läden, die chinesische Möbel und Einrichtungsgegenstände anbieten), hat auch Zhou nicht.

Natürlich, es gibt die Historie. Als in den 1920ern junge Chinesen aus gutem Hause nach Berlin kamen, um zu studieren, fanden sie Unterkunft in den großen Altbauwohnungen des Viertels. „Dort lebten oft Frauen, deren Männer im Krieg gefallen waren und die Räume untervermieteten“, sagt Dagmar Yu-Dembski. Außerdem war die Technische Hochschule nicht weit, ebenso wie die damalige chinesische Botschaft. 1923 eröffnete in der Kantstraße 130b das erste China-Restaurant der Stadt, bald darauf folgte ein anderes in unmittelbarer Nähe. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Kantstraße chinesisches Leben: „Der erste Asiahandel hat hier aufgemacht, betrieben von Frau Wang, einer Deutschen, die mit einem Koch meines Vaters verheiratet war.“ In den 80ern war die Straße dann aber wieder stärker russisch geprägt.

Haben die Nachbarn eine Erklärung? Schräg gegenüber vom „Tone of China“ befindet sich „Japan Bonsai“. Besitzer Todd Grand stammt aus Cleveland, Ohio, und hat das Geschäft vor ein paar Jahren von seinem deutschen Vorgänger übernommen. Etwa 150 kleine Bäumchen hat er im Angebot. „Wo es Läden gibt, die laufen, machen eben andere mit ähnlichem Konzept auf“, vermutet er. Und nebenan, im „Japan Shop“, wo Mangas und Godzillafiguren aus Plastik verkauft werden, sagt Chefin Yuki Suzuki: „Dass wir den Laden hier aufgemacht haben, ist Zufall gewesen. Erst später haben wir gedacht: Das passt ja gut.“

Das Herz der Kantstraße sind eine Reihe von Restaurants, für die Chinesen aus allen Teilen der Stadt hierher kommen (ebenso wie chinesische Touristen) und in denen es sogar Speisekarten auf Chinesisch gibt. Das „Aroma“, vor dem Dagmar Yu-Dembski jetzt steht, gehört dazu. „Hier gibt es Gerichte aus dem Süden“, sagt sie – und empfiehlt die Dim Sum, die seien gut. Auf der Karte stehen noch viele andere Speisen, darunter auch gewöhnungsbedürftige wie Qualle mit geschmorten Spitzbeinen. Einen ähnlichen Ruf, nämlich besonders authentisch zu sein, genießt das „Good Friends“ ein paar Häuser weiter Richtung Osten.

Dagmar YuDembski möchte zum Abschluss ins Restaurant „Shanghai“ gehen, das sich fast am Savignyplatz befindet. Auf dem Weg dahin kommen wir am „Lon Men’s“ vorbei. Den Imbiss, mittlerweile in taiwanischer Hand, hatte ihr Vater einst für seine Geliebte eingerichtet.

Im „Shanghai“ kocht Herr Choi, heute über 70 Jahre alt und in der Vergangenheit in Diensten von Yu-Dembskis Vater. Es gibt Rippchen mit gedämpften Schwarzbohnen und Chinagemüse mit Winterpilzen. Früher, erzählt Yu-Dembski, habe sie nicht so recht gewusst, wo sie hingehöre. „Heute empfinde ich das als Privileg, diese beiden Seiten zu haben.“ Sie merkt, dass sich immer mehr Deutsche für China interessieren, und sie ärgert sich sichtlich darüber, wenn das riesige Land auf seine Regierung, ein paar Schlagworte oder bekannte Gesichter (Ai Weiwei) reduziert wird. Sie sei auch kritisch, was Missstände in China anbelangt, sagt sie – und dass sie frei sei in ihrer Arbeit am Konfuzius-Institut, auch wenn dieses von der Regierung in Peking co-finanziert wird.

Und die nächste Reise nach China, wann findet die statt? Dagmar Yu- Dembski hat andere Wünsche. „Ich bin schon so oft auf dem Jangtse gefahren“, sagt sie. „Aber noch nie auf dem Rhein.“

Zur Startseite