
© Gestaltung: Tagesspiegel/Fotos: Jan Kobel, Arnstadt/ Karte: Bundeszentrale für politische Bildung
Das Reich in ihren Köpfen: Welches Deutschland Umstürzler Prinz Reuß errichten wollte
Grenzen von 1871, ein wundersamer Schuldenerlass und eine Steuerreform – die Pläne von Reichsbürger Heinrich XIII. Prinz Reuß für sein Staatsgebilde waren befremdlich konkret.
Stand:
Am Dienstag beginnt in Frankfurt am Main der Prozess gegen Heinrich XIII. Prinz Reuß. Damit muss sich nach den neun Komplizen, deren Prozess bereits Ende April in Stuttgart begann, nun auch der mutmaßliche Rädelsführer der „Patriotischen Union“ vor Gericht verantworten.
Laut Anklage plante die Reichsbürger-Truppe einen gewaltsamen Umsturz und das Ende der Bundesrepublik. Aber was sollte anschließend kommen? Wie hätte ihr Staat ausgesehen, welche Gesetze waren geplant? Kurzum: Welches Deutschland wollte Prinz Reuß errichten?
So detailliert über die Pläne für den Umsturzversuch berichtet wurde, so wenig ist in der Öffentlichkeit über die konkreten Vorstellungen der Reichsbürger für die Zeit danach bekannt. Kombiniert man jedoch die Aussagen aus Interviews und Schriftstücken, Social-Media-Posts der Angeklagten sowie Erkenntnisse der Ermittler, ergibt sich ein erstaunliches Bild.
Unstrittig ist zunächst, dass die Gruppe einen Staat nach Vorbild des Deutschen Reichs von 1871 anstrebte. Ihrer eigenen Logik zufolge dauert dieses Reich, rein rechtlich gesehen, ohnehin bis heute an, es müssten also lediglich die gegenwärtigen demokratischen Strukturen beseitigt werden, um das Deutsche Reich von 1871 zu „reaktivieren“.
In diesem Zug wollte die Gruppe auch die Grenzen des Deutschen Reichs von 1871 wieder einführen. Das geht unter anderem aus einem Brief hervor, mit dem Prinz Reuß Ermittlern zufolge Russlands Präsident Wladimir Putin um militärische Hilfe bitten wollte. Sein Ziel sei demnach gewesen, „die 26 Staaten des unauflöslichen und ewigen Bundes wiederherzustellen“. Hierbei handelt es sich um jene 26 Bundesstaaten, aus denen das Deutsche Reich 1871 bestand.

© dpa/Bernd Weißbrod
Ein solches Gebiet wäre deutlich größer als das der heutigen Bundesrepublik, Deutschland müsste sich dafür Teile Polens einverleiben, dazu das russische Kaliningrad sowie einen Teil Litauens. In westlicher Richtung müsste es das französische Elsass-Lothringen an sich reißen. Oder aber dafür sorgen, dass die anderen Länder diese Gebiete freiwillig an Deutschland „zurückgeben“.
Als neues Staatsoberhaupt war Heinrich XIII. Prinz Reuß vorgesehen. Ob er sich langfristig auch zum Kaiser krönen lassen wollte oder einen anderen Titel anstrebte, ist allerdings unklar. Gesichert sind nur die Pläne für eine sogenannte „Übergangsregierung“, die nach Umsturz und erfolgreichen „Säuberungsmaßnahmen“ zunächst die Regierungsaufgaben des Deutschen Reichs übernehmen sollte. Die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Richterin Birgit Malsack-Winkemann sollte wohl für das Ressort Justiz zuständig sein. Als Gesundheitsministerin war eine wohlhabende Internistin aus einer Gemeinde nahe Braunschweig vorgesehen.
Ein Parlament mit maximal 201 Abgeordneten
Nach Vorstellung der Reichsbürger sollte nach dem Umsturz ein „Friedensvertrag“ mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ausgehandelt werden. Erst im Rahmen dieser Gespräche sollte wohl endgültig geklärt werden, welche Verfassung künftig in Deutschland gelte: die von 1871 oder 1919. Exakt so jedenfalls forderte es der Reichsbürger Matthes Haug, der selbst zwar kein Mitglied der „Patriotischen Union“ war, aber in der Gruppe als einflussreicher Vordenker in Staats- und Rechtsfragen geschätzt wurde. Auch Prinz Reuß suchte seinen Rat.
Eine Übernahme der Gesetze von 1919 erscheint zunächst widersinnig, da es sich hierbei um die Verfassung der Weimarer Republik handelt. Innerhalb der ohnehin heterogenen Reichsbürgerbewegung ist aber heftig umstritten, ob formal die Gesetze von 1871 oder die von 1919 Gültigkeit haben. Das Vorhaben, diese Entscheidung letztlich den alliierten Siegermächten zu überlassen, könnte ein Versuch der Konfliktvermeidung sein.
Zudem wurde offenbar die Einführung eines Parlaments erwogen, das aus maximal 201 Abgeordneten bestehen sollte. Deren Kompetenzen würden dann von der ausgewählten Verfassung abhängen.
Es spricht einiges dafür, dass für das neue Reich – anders als in der Verfassung von 1871 – zumindest das Frauenwahlrecht vorgesehen war. Denn eine Frau aus dem inneren Kreis der Gruppe hatte sich genau deshalb Jahre zuvor von einer anderen Reichsbürgertruppe namens „Bismarcks Erben“ im Streit losgesagt. Ein Deutsches Reich ohne Frauenwahlrecht war für sie undenkbar. Bei der „Patriotischen Union“ von Prinz Reuß fühlte sich die Frau dagegen besser aufgehoben.

© Dr. Jan Kobel
Außenpolitisch strebte die Gruppe enge Verbindungen mit Moskau an. Ein Motiv dafür verriet Prinz Reuß vor Jahren bei einem Vortrag: Mütterlicherseits sei seine Familie mit dem Hause Romanov verwandt, dies sei „einer der Gründe, warum wir Russland mögen“. Das Land sollte auch mit Waffengewalt bei der Errichtung und Absicherung des neuen Staats helfen – als Ergänzung zu den mehr als 280 militärisch organisierten, quer übers Land verteilten Heimatschutzkompanien, die die Reichsbürger aufbauen wollten.

© Grafik: Tsp/Bartel | Quelle: dpa, Bundeszentrale für politische Bildung
Innenpolitisch strebte Prinz Reuß „überschaubare und klare Verwaltungsstrukturen” an. Von denen hätten schließlich auch die Untertanen des Deutschen Reichs von 1871 profitiert: Damals hätte man sich mit allen Problemen direkt an den regional herrschenden Monarchen gewandt. Heute wüssten die Bürger nicht, wer für ihr jeweiliges Anliegen zuständig sei – und ob das Problem auf Landes-, Bundes- oder Europaebene gelöst werden müsse.
Ein Reich ohne Finanzsorgen
Als Effekt der schlanken Verwaltung erhofften sich die Reichsbürger niedrige Staatsausgaben. Diese wiederum ermöglichten nicht nur Steuersenkungen, sondern sogar Steuerstreichungen. So hat es sich Vordenker Matthes Haug in seinem Reichsbürger-Standardwerk „Das Deutsche Reich 1871 bis heute: Rechtliche und historische Grundlagen – Erfahrungsberichte im Umgang mit Behörden – Chancen und Möglichkeiten für unsere Zukunft“ ausgemalt. Dort schreibt er: „Die Einkommenssteuer wird abgeschafft. Der Staat wird schlank regiert und verwaltet, sodass die Finanzierung über die Umsatzsteuer ausreichend gegeben ist.“
Überhaupt habe das Deutsche Reich keine Finanzsorgen mehr. Denn durch den „Reset“ auf den Stand von 1871 entfalle praktischerweise auch die komplette deutsche Staatsverschuldung. Das derzeitige Defizit in Höhe von fast 2,5 Billionen Euro werde – zumindest in der Fantasie der Reichsbürger – einfach verschwinden. Matthes Haug schreibt, das Deutsche Reich von 1871 habe „mit dieser abstrusen und exorbitanten ,Nachkriegsverschuldung’ nichts zu tun“, das künftige Deutsche Reich also selbstverständlich auch nicht.

© dpa/Boris Roessler
Das Ziel eines schlanken Staats betont auch der Politikwissenschaftler Jan Rathje vom Think Tank „Cemas“. Seit der Großrazzia gegen Prinz Reuß und seine Komplizen im Dezember 2022 hat sich Rathje intensiv mit der Gruppierung beschäftigt. Gegenüber dem Tagesspiegel sagt er am Telefon, es fänden sich deutliche Bezüge zu libertären Vorstellungen. Unter anderem tauschte sich Prinz Reuß mit dem umstrittenen Unternehmensberater Markus Krall aus, es kam auch zu einem persönlichen Treffen. Auf Anfrage des Tagesspiegels teilt Krall schriftlich mit, er habe sich „mit Herrn Reuß zu Fragen der wirtschaftlichen Lage und der Geldpolitik und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft sowie auf den Goldmarkt unterhalten“.
Laut Recherchen der „Zeit“ wollten Prinz Reuß und einige Mitstreiter Krall als „Wirtschafts- und Finanzminister“ für ihr Schattenkabinett gewinnen. Krall sagt jedoch, ein entsprechendes Angebot sei ihm von Reuß niemals unterbreitet worden: „Ich hätte so ein Ansinnen auch als skurril und befremdlich empfunden oder hätte es für einen Scherz gehalten, wenn er gefragt hätte. Das hat er aber nicht getan.“
Wer hätte als Deutscher gezählt?
Intensive Gedanken machten sich die Mitglieder der Reichsbürger-Truppe vor ihrer Festnahme darüber, wer in ihrem künftigen Reich eigentlich leben dürfe – und wer dann noch als Deutscher gelte. Abschließend geklärt wurde diese Frage offenbar nicht. Ein wichtiger Stichwortgeber der Gruppe vertrat jedoch die Ansicht, als „indigener Deutscher“ könne nur zählen, wer seine deutsche Ahnenlinie bis ins Jahr 1913 lückenlos nachweisen könne.
Die Astrologin Ruth L., die zum engsten Kreis gehörte und deren Stimme intern enormes Gewicht hatte, soll zudem davon ausgegangen sein, dass nach dem Umsturz „alle Ausländer“ das Deutsche Reich verlassen müssten.
Der Anspruch, Prinz Reuß als Staatsoberhaupt des neuen Deutschen Reichs zu installieren, war in der Gruppe Konsens. Dies stellte allerdings ein großes logisches Problem dar, weil der Anspruch nicht mit den Prinzipien der Monarchie in Einklang zu bringen ist. Denn würde das Deutsche Reich von 1871 tatsächlich wieder eingesetzt, müsste auch die damalige Thronfolge wieder gelten. In der hätte Prinz Reuß keinerlei Chancen, jemals an die Macht zu gelangen.

© dpa/Bodo Schackow
Der Mann stammt nämlich lediglich aus einem unbedeutenden Seitenzweig des Hauses Reuß, das wiederum kaum Bedeutung hat im Vergleich zu anderen deutschen Adelsgeschlechtern. Zudem ist Prinz Reuß nur das fünfte von sechs Kindern seiner Eltern. Kurzum: Er könnte weder König noch Kaiser und nicht einmal Fürst werden.
Eigentlich. Denn gleichzeitig wollte die Gruppe unbedingt verhindern, dass nach einem geglückten Umsturz ausgerechnet Georg Friedrich Prinz von Preußen als neues Staatsoberhaupt eingesetzt würde – also der Ururenkel des letzten deutschen Kaisers. Dieser würde nach Überzeugung der Reichsbürger lediglich eine „BRD 2.0“ hinbekommen und als Staatenlenker stets vom Willen der Alliierten abhängig bleiben.
Wie also das Deutsche Reich wieder einführen und gleichzeitig den eigenen Rädelsführer zum Staatsoberhaupt machen? Innerhalb der Gruppe gab es die Überlegung, das Prinzip des „Geburtsrechts des Ältesten“ einfach zu verwerfen und stattdessen auf das „Prinzip der Eignung“ zu setzen. Dazu gehöre auch der „Wille zum Dienen mit all seinen Erfordernissen der ,Unterwerfung’“. Am besten eignen würde sich demnach Prinz Reuß.
Für den Politikwissenschaftler Jan Rathje vom Think Tank „Cemas“ klingt das nicht nach Monarchie, sondern eher nach einem Bekenntnis zum Faschismus. Rathje sagt: „Hier kommt zum Ausdruck, dass sich der Stärkste durchsetzen und der komplette Staat auf diesen vermeintlich Stärksten ausgerichtet sein soll. Das ist faschistisches Gedankengut und passt sehr gut zum Rassismus und den rechtsextremen Ordnungsvorstellungen, die diese Gruppe in einigen Bereichen zeigt.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false