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Demonstranten während einer Demonstration gegen die Pläne israelischen der Regierung zur Überarbeitung des Justizsystems.

© dpa/Oded Balilty

Zerbricht der jüdische Staat?: So blicken rechte und linke Israelis auf den Riss in ihrem Land

Bars, Privatwohnungen – die geplante Justizreform in Israel begann im Verborgenen. Dabei geht es um Grundsätzliches. Eine echte Einigung ist nicht in Sicht, die Proteste gehen weiter.

In einer kleinen, schlecht beleuchteten Wohnung in Jerusalem trat vor rund sechs Jahren ein junger Rechtsexperte vor eine kleine Gruppe politisch interessierter Männer, um einen Vortrag zu halten.

Die Männer hatten eigentlich einen Politiker eingeladen, der aber hatte abgesagt und den Juristen als Ersatz geschickt. Dieser erklärte nun, warum die israelische Rechte aus seiner Sicht keine rechte Politik mache: Schuld sei das Oberste Gericht. Deshalb gehöre es reformiert.

„Niemand kannte den Mann damals“, sagt Abraham Willis, einer, der dabei war und heute von dem Treffen erzählt. „Er heißt Simcha Rothman.“ Willis grinst. „Haben Sie von ihm gehört?“

Seine Frage ist scherzhaft gemeint. Jeder in Israel kennt Simcha Rothman. Der heute 42-Jährige sitzt für die rechte Partei Religiöser Zionismus im Parlament und leitet den Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen.

Vor allem aber gilt er als treibende Kraft hinter der umstrittenen Justizreform, die die israelische Gesellschaft aufwühlt wie seit Jahrzehnten kein Thema mehr. Nach zwölf Wochen Protesten hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zwar am Montag verkündet, den Gesetzgebungsprozess zu pausieren. Doch der Streit darum geht weiter, im Parlament und auf den Straßen.

„Dem-o-kra-tia! Dem-o-kra-tia!“

Willis, 40 Jahre alt, sitzt im Büro einer High-Tech-Firma in einem Tel Aviver Vorort. Auf der anderen Seite der Glastür schlurfen Mitarbeiter in Jeans und T-Shirts vorbei. Willis dagegen trägt ein weißes Hemd und die schwarze Kippa strenggläubiger Juden. Die meisten seiner Kollegen seien gegen die Reform, sagt er. Willis aber ist dafür.

Nach zwölf Wochen Protesten hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag verkündet, den Gesetzgebungsprozess zu pausieren. Doch der Streit darum geht weiter.

Parlamentsmitglied Simcha Rothman von der Partei für religiösen Zionismus gilt als Kopf hinter der umstrittenen Justizreform.
Parlamentsmitglied Simcha Rothman von der Partei für religiösen Zionismus gilt als Kopf hinter der umstrittenen Justizreform.

© Gil Cohen-Magen/AFP

„Dem-o-kra-tia! Dem-o-kra-tia!“ An einem diesigen Morgen einige Tage zuvor steht ein großer, schlanker Mann auf einem Podest in der Mitte einer Tel Aviver Kreuzung und ruft in ein Mikrofon. „Dem-o-kra-tia!“, skandieren auch die Demonstranten auf der Straße, rund 200 Menschen. Viele schwenken die blauweiße Nationalflagge.

Bei allen Klagen über die Situation – das hier ist eine der aufregendsten Zeiten meines Lebens.

Aktivist Tomer Avital über die gegenwärtige Situation in Israel

Der Redner heißt Tomer Avital, er ist 40 Jahre alt und in liberalen Zirkeln bekannt für seinen Aktivismus gegen Korruption. Avital hat als Parlamentsreporter gearbeitet, ein unabhängiges Online-Medium gegründet, einen Roman geschrieben und bei einer Reality-Show mitgemacht.

Doch etwas wie in den vergangenen Wochen habe er noch nie erlebt, sagt er, nachdem er seine Ansprache beendet hat. „Bei allen Klagen über die Situation – das hier ist eine der aufregendsten Zeiten meines Lebens.“

Warnungen vor einem Bürgerkrieg

Ende letzten Jahres wurde Israel eine Koalition aus rechten, rechtsextremen und ultraorthodoxen Kräften eingeschworen, angeführt von Netanjahu. Nur Wochen später stürzte das Land in eine der schwersten Krisen seiner Geschichte.

Hunderttausende Menschen gehen alle paar Tage auf die Straße, der Präsident Yitzhak Herzog warnt vor Bürgerkrieg, der frühere Geheimdienstchef Tamir Pardo sieht gar das „Ende des zionistischen Traumes“ nahen. Alles wegen einer Justizreform, für die Simcha Rothman schon seit Jahren wirbt.    

Die Reform umfasst mehrere Elemente. Zu den umstrittensten zählt der Plan, die Macht des Obersten Gerichtshofes zu beschränken. Dazu ein wenig Hintergrund: Israel hat keine Verfassung, aber eine Reihe von Grundgesetzen. In den Neunziger Jahren ging der Oberste Gerichtshof dazu über, die Grundgesetze wie eine Art Verfassung zu behandeln und Gesetzesinitiativen daran zu messen.

Seitdem hat das Gericht nur 22 Gesetze aufgehoben. Doch darunter waren Herzensanliegen der Rechten, etwa der Ausbau bestimmter Siedlungen oder die zeitlich unbegrenzte Verhaftung abgelehnter Asylbewerber, die die Ausreise verweigerten. Manche Rechte sehen in dem Obersten Gerichtshof daher einen ideologischen Gegner.

Frust in rechten Kreisen

„Es gab nie auch nur ein einziges Gerichtsurteil zugunsten der ultraorthodoxen Gemeinde!“, rief Mitte März Moshe Gafni, Vorsitzender der ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Judentum, bei einer Ansprache im Parlament.

Es ist ein verbreiteter Vorwurf, der nicht ganz den Tatsachen entspricht: So stoppte der Oberste Gerichtshof erst vergangenes Jahr eine Reform, die das Monopol des orthodoxen Rabbinerkomitees für Kommunikation über sogenannte koschere Mobiltelefone gebrochen hätte, welche von den meisten Ultraorthodoxen genutzt werden. Es gibt weitere Fälle, in denen das Gericht zugunsten der Strenggläubigen urteilte.

Man hat als Rechter hier immer das Gefühl: Deine Meinung ist nicht legitim.

Datenanalyst Abraham Willis über seine Sicht auf das politische Klima in Israel

Doch einzelne Fakten lindern nicht den Frust, der sich in manchen rechten Kreisen über Jahre angesammelt hat.

„Wir Rechte waren in den letzten Jahrzehnten öfter an der Macht als die Linke“, sagt Abraham Willis. „Und trotzdem hat man als Rechter hier immer das Gefühl: Deine Meinung ist nicht legitim. Wir haben keine Stimme in den Medien, in der Wissenschaft, an den Gerichten. Weil es hier eine Gruppe gibt, die meinen, das Land gehört ihnen.“

Willis meint die liberale, säkulare Mittelschicht, die „Elite“, wie er sie nennt. Es ist eine Klage, die man in ähnlicher Form aus rechten Kreisen anderer westlicher Ländern kennt; eine Klage, die in den USA zum Aufstieg Donald Trumps beigetragen hat und in Deutschland wohl zur Erstarkung der AfD.

Nicht um Kaufkraft betrogen, sondern um Gestaltungsmacht

Es wäre zu kurz gegriffen, diese Klage mit mangelnder Bildung zu erklären oder mit einem Frust, der sich aus sozioökonomischem Nachteil speist. Abraham Willis ist keiner jener Menschen, die gelegentlich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung als „Abgehängte“ beschrieben werden.

Zwar hat er eine religiöse Schule besucht, auf der kaum säkulare Inhalte gelehrt wurden, und sich mangels formaler Bildung lange mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Mit seiner Frau und den fünf Kindern lebt er in Bnei Brak, einem eng bebauten, orthodox geprägten Vorort Tel Avivs.

Datenanalyst Abraham Willis sieht die rechten Parteien in Israel durch das Oberste Gericht benachteiligt.
Datenanalyst Abraham Willis sieht die rechten Parteien in Israel durch das Oberste Gericht benachteiligt.

© Mareike Enghusen/TSP

Doch im Alter von 34 Jahren besuchte er eine Art Bootcamp, das Männer wie ihn im Schnelldurchgang zu Programmieren ausbildet. Heute leitet er ein Team von Datenanalysten, womit sein Gehalt deutlich über dem israelischen Durchschnitt liegen dürfte.

Sein Arbeitgeber ist ein High-Tech-Unternehmen mit mehreren Hundert Mitarbeitern mit Sitz in Givataiim, einem wohlhabenden Vorort von Tel Aviv. In der eleganten Lobby stehen Kekse, Obstteller und glänzende Espressomaschinen.    

Willis fühlt sich nicht um Kaufkraft betrogen, sondern um Gestaltungsmacht. „Der Oberste Gerichtshof blockiert uns“, sagt er. „So lange wir uns darum nicht kümmern, wird es keine wirklich rechte Regierung geben.“

Auf dem Spiel steht aus seiner Sicht nicht weniger als die Essenz Israels als jüdischer Staat. Denn um die jüdische Mehrheit zu erhalten, meint er, müsse die Regierung hin und wieder Dinge tun, die mit vermeintlich linken Prinzipien wie Gleichheit kollidieren.

So sollte sie nur jenen Menschen die Einwanderung erlauben, die nach den jüdischen Religionsgesetzen als Juden gelten, also eine jüdische Mutter haben. Und sie sollte Asylbewerber aus afrikanischen Ländern, von denen in Israel mehrere Zehntausend leben, ohne Umschweife ausweisen können.  

„Wir haben nichts gegen Nichtjuden“, sagt Willis. „Aber wir Juden haben auf der ganzen Welt Bedrohungen erlebt, nicht nur in Deutschland. Deshalb ist es so wichtig, Israel als jüdischen Staat zu erhalten, als Rückzugsort für Juden auf der ganzen Welt. Diese Grundangst ist doch verständlich!“

Es geht um „jüdische Identität“

Am Abend des 31. Oktobers, einen Tag vor den Parlamentswahlen, sitzt der damals noch unbekannte Knesset-Abgeordnete Simcha Rothman in einer Tel Aviver Cocktailbar. Eine Non-Profit-Organisation, die Veranstaltungen für englischsprachige Einwanderer organisiert, hat zu einer politischen Debatte geladen.

Neben Rothman sitzt Yorai Lahav-Hertzano, ein 34-jähriger Abgeordneter der säkularen Zukunftspartei, die zu diesem Zeitpunkt noch den Regierungschef stellt, Yair Lapid. Lahav-Hertzano, der mit einem Mann zusammenlebt, trägt Jeans, die knapp über dem Knöchel enden. Er scheint viel besser in diese Bar zu passen als Rothman in seinem steifen Anzug.

Seit einem guten Monat gehen die Menschen in Israel entweder für oder gegen die geplante Justizreform auf die Straße. Hier in Tel Aviv.
Seit einem guten Monat gehen die Menschen in Israel entweder für oder gegen die geplante Justizreform auf die Straße. Hier in Tel Aviv.

© Mareike Enghusen/TSP

„Es gibt Menschen, die sich um den jüdischen Charakter des Landes sorgen“, sagt die Moderatorin. „Wie will Yesh Atid diesen Sorgen begegnen?“ Lahav-Hertzano spricht über die Pläne seiner Partei, öffentliche Verkehrsmittel am Schabbat zuzulassen, dem jüdischen Ruhetag, was bislang verboten ist. Damit macht er Rothman ein Geschenk. „So wollen Sie also die jüdische Identität des Landes stärken?“, ruft er. „Mit öffentlichen Verkehrsmitteln am Schabbat?“

Bei den jungen Tel Avivern, die an diesem Abend zuhören, dürfte Lahav-Hertzanos Antwort gut ankommen. Für Menschen wie Abraham Willis aber wäre sie ein weiterer Beweis dafür, wie wenig die Linken von den Sorgen der Religiösen verstehen.

Am Tag darauf wird Rothmans Partei, der Religiöse Zionismus, der sich für die Wahlen mit zwei rechtsextremen Parteien verbunden hat, mit 14 Mandaten drittstärkste Kraft im Parlament.

Aufstand als Vollzeitjob

Einige Wochen später, am Abend des 4. Januar, tritt der neue Justizminister Yariv Levin von Netanjahus Likudpartei in Jerusalem vor die Presse und stellt die geplante Justizreform vor, für die Rothman seit Jahren wirbt. Tomer Avital verfolgt Levins Rede zu Hause vor dem Fernseher.

Vor wenigen Wochen hat seine Lebensgefährtin einen Sohn auf die Welt gebracht, ihr zweites gemeinsames Kind; Avital wollte sich eine kleine Auszeit nehmen, Zeit mit dem Baby verbringen und seinen zweiten Roman zu Ende schreiben. „Und dann höre ich Yariv Levin reden und bin völlig entsetzt. Ich habe meine Partnerin vollgejammert: ‚Was mache ich denn jetzt?’ Sie sagte: ‚Hör auf zu jammern und tu, worin du gut bist!’“

Und das tat er. In den Tagen darauf, erzählt Avital, habe er Dutzende Unternehmer angerufen, um einen Streik zu organisieren, als Protest gegen die Reform. Seitdem arbeitet er fast Vollzeit für den Aufstand, führt Whatsapp-Gruppen mit Tausenden Mitgliedern, organisiert Proteste, bringt Leute zusammen.

Die Regierung erhält damit unbegrenzte Macht. Und mit unbegrenzter Macht geht unbegrenzte Korruption einher.

Protestler Tomer Avital über die geplante Justizreform

In der geplanten Gesetzgebung sieht er eine Gefahr für die israelische Demokratie. „Die Regierung erhält damit unbegrenzte Macht“, sagt er, „und mit unbegrenzter Macht geht unbegrenzte Korruption einher. Das ist sehr gefährlich, egal, wer an der Macht ist. Und darunter werden dann alle leiden: Linke, Rechte, Säkulare, Religiöse, Juden, Araber.“

Inzwischen steht Tomer Avital am Rand der Demonstration, auf der er kurz zuvor gesprochen hat. Immer wieder grüßen ihn andere Menschen, winken ihm zu, klopfen ihm im Vorbeigehen auf die Schulter.

Die Proteste der vergangenen Wochen, wohl die größten in der Geschichte des Landes, haben keine offizielle Anführer, kein Gesicht; aber Tomer Avital ist einer ihrer Maschinenmänner, zusammen mit anderen Aktivisten, die sich dem Kampf gegen die Reform verschrieben haben.

Tomer Avital am Rande einer Demonstration in Tel Aviv. Er hält die Reform für nachteilig für alle Israelis.
Tomer Avital am Rande einer Demonstration in Tel Aviv. Er hält die Reform für nachteilig für alle Israelis.

© Mareike Enghusen/TSP

Von „Anarchisten“ spricht die Regierung, von einer linksradikalen Minderheit, die das Land ins Chaos stürzen wolle. Doch auch in der sogenannten Peripherie, in Städten wie Ashdod oder Sderot, deren Bewohner mehrheitlich rechts stimmen, gibt es Proteste gegen die Reform. Und selbst unter Likudwählern begrüßte einer Fernsehumfrage zufolge eine Mehrheit die Entscheidung Netanjahus, die umstrittene Gesetzgebung auf Eis zu legen.

Es sind vor allem die Menschen aus dem rechtsreligiösen Spektrum, die die Reform unterstützen. Menschen wie Abraham Willis.

Der Streit geht weiter

Als sich am Montag die Gerüchte mehrten, dass Netanjahu sich dem Druck der Straße beugen und die Justizreform auf Eis legen wird, fährt Willis nach Jerusalem. Dort protestieren sich seit dem frühem Morgen Tausende Menschen gegen die Reform. Willis schließt sich einer rechten Gegendemonstration an.

Per Whatsapp schickt er ein Video. Darauf sind Hunderte Menschen zu sehen, die im Dämmerlicht auf einer Straße marschieren, vorbei an Gebäuden aus Sandstein, die so typisch sind für Jerusalem. Viele der Marschierenden schwenken die israelische Fahne, genau wie ihre politischen Gegner.

Tomer Avital und seine Mitstreiter wollen weiter protestieren. Das temporäre Einfrieren der Gesetzgebung sei nicht genug, verkündet er am Montag auf Facebook, wo ihm fast 35.000 Menschen folgen. Die Regierung müsse die Reform endgültig begraben. „Wir sind aufgewacht“, schreibt er, „und wir lassen uns nicht mehr missachten.“

In den kommenden Wochen wollen Regierung und Opposition verhandeln. Oppositionsführer Yair Lapid hat kürzlich eine neue Forderung ins Spiel gebracht: eine Verfassung, die das Zusammenspiel der Gewalten und die Beziehung zwischen Staat und Religion ein für allemal regelt.

Abraham Willis sieht in Netanjahus Rückzieher keine Niederlage. „Unsere Hoffnung ist“, schreibt er am Morgen danach per Whatsapp, „dass die andere Seite begriffen hat, dass es so nicht weitergehen kann. Wir haben kein Interesse daran, die Elite zu zerstören. Wir wollen nur, dass sie uns ein bisschen Platz macht.“

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