
© Christoph Müller
Am Rande bemerkt: Nicht zufällig Berliner
Als Günter Matthes vor 30 Jahren starb, veröffentlichte der Tagesspiegel diese Folge seiner legendären Kolumne aufs Neue. Zuerst war der Text am 30. November 1983 erschienen.
Stand:
Immer wenn zwischen den Kiefern die Ortsschilder mit -in am Ende auftauchen, wird mir wärmer. Wollin, Lehnin. Es klingt schon nach Berlin. Bald wird der Kontrollpunkt passiert sein. Die Stadt hat mich wieder, in die ich so gern zurückkomme wie beim ersten Mal. Wie haste dir seitdem verändert, Berlin, und bleibst doch immer unverwechselbar trotz aller Wechselfälle des Schicksals, erlaubst eigentlich nicht das, was man Lokalpatriotismus nennt. Schlag nach bei Heine. Dazu ist es zu sehr Nudeltopf der Geschichte, jagt dem einen Schrecken ein, während der andere das Idyll im Waldwinkel pflegt und manch anderen Kiez nur vom Hörensagen kennt. Die Stadt hat das große Risiko und die große Freiheit der Anonymität bewahrt. Noch nicht einmal eine High Society hat sie, die sich überall wiederträfe. Es sind Zirkel. Von den Rotariern bis zu den Hausbesetzem, von den Vernissage-Gästen bis zu den Kegelbrüdern. Einzelgänger darf man auch sein, natürlich.
Da ist eine Dame, die um 9 Uhr 30 in den Bus steigt und zum Fahrer sagt: „Einen schönen guten Morgen.“ Der guckt und erwidert: „Gratuliere.“ - „Wieso gratuliere?“ - „Seit dreie früh sitze ich auf dem Bock, und Sie sind der erste freundliche Mensch!“ So spröde ist sie, die Dankbarkeit der Berliner, aber herzlich, wobei sie noch nicht einmal auf deutsch ausgedrückt werden muß.
Auch mancher, der gegen Raketen demonstriert, hat die Luftbrücke keineswegs vergessen, die für mich sympathischste militärische Leistung der Weltgeschichte. Das erinnert an die Herausforderung, die diese Stadt, dieses höchst unbequeme Gemeinwesen, ist. Hierher wird man nicht verschlagen, sondern will hier sein. Wer nicht will - bitte sehr. Eine Solidarität der Berliner, ob sie schwarz oder rot oder grün oder blaß sind, sollte und könnte es trotz aller heftigen Differenzen geben. Oder wie sagte ein bekannter Politiker? „Es gibt eine Gefahr des Auseinanderfallens der Gesellschaft unserer Stadt: daß man sich isoliert oder nur einer Gruppe angehört, einer sozialen Schicht, einer Nationalität, und daß man zuletzt nur zufällig Berliner ist. Um gegen solche Gefahren wieder größeren Gemeinsinn zu entwickeln, dazu genügen nicht edle Gefühle. Dazu brauchen wir ein Pflichtbewußtsein gegenüber dieser Stadt, und wir brauchen wechselseitige Toleranz...“
Jawoll! Wer es sagte? Richard von Weizsäcker 1981 bei der Eröffnung der Preußenausstellung. Also, was mich betrifft, ich bin bestimmt nicht zufällig Berliner.
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