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Die Schrifstellerin und Journalistin Gabriele Tergit.

© Jens Brüning c/o Schöffling & Co

„Das Wesentliche an England“: Gabriele Tergit schreibt im Tagesspiegel aus London

Am 7. Oktober 1947 erschien dieser Vergleich zwischen Deutschland und England im Tagesspiegel. Zehn Jahre zuvor war Gabriele Tergit, als Jüdin von den Nazis ins Exil getrieben, nach London emigriert.

Stand:

England ist ein kleines Land. Alles hat einen kleines Maßstab; kleine Flüsse, kleine Hügel, alles ist gemäßigt, alles ist klein. Die Güterwagen sehen aus wie Puppengüterwagen. Später erkannte man, alles ist klein, vop den Häusern bis zu den Kuverts, von den Türen bis zu den Visitenkarten. Je kleiner, je feiner. Selbstverständlich ist in einem kleinen Lande klein fein, in einem große.n Lande groß fein. Als ich vor nunmehr zehn Jahren nach England kam, habe ich das Wesentliche an England in den ersten zwei Tagen, ja schon in den ersten zwei Stunden Eisenbahnfahrt erkennen können.

Das Praktische: jeder Waggon hatte hinten ein offenes Abteil, in das alles Handgepäck gestellt wurde. Taxis fuhren direkt an die Plattform, wo die Züge hielten.

Die Ehrlichkeit: das Gepäckabteil war offen, und jeder holte sich sein Gepäck nachher selbst heraus. Nichts verschwand unterwegs. In den Omnibussen steckten die Leute dem Schaffner das Geld in die Hand, niemand versuchte zu entwischen.

Die soziale Tendenz nach der mittleren Linie: unser Abteil dritter Klasse war nobler als irgendeines in Europa. Alles war gepolstert, und jeder hatte einen Tisch vor sich. Auch die Londoner Untergrundbahn ist gepolstert. Jedem erscheint es hier wichtiger, daß der Arbeiter auf seiner täglichen Fahrt zur Arbeit gepolsterte Sitze hat. als daß man auch den Reichen Holzplätze gibt.

Die klappende Demokratie ohne Organisation: auf dem Viktoria-Bahnhof reisten Hunderttausende ab, und es kamen sehr viele an. Jeder fand einen Platz. Kein Mensch war aufgeregt. Jeder war still. Da war kein Gedränge, kein Gestoße. Diese Abwicklung eines Riesenverkehrs konnte nur klappen, weil jeder sich verantwortlich fühlte und sich nicht auf die Beamten verließ. In den Augusttagen 1937 auf dem Viktoria-Bahnhof hatte ich zum erstenmal das Gefühl, daß die ganze berühmte deutsche Organisation für gewisse entscheidende Situationen nicht genug ist.

Kein Klassenkampf: gegenüber meinem Zimmer lag ein Hotel mit vielen Säulen. Ein Portier stand davor in Livree mit goldenen Tressen. Aus dem Hotel kamen ein Herr im Frack mit einem Wollschal und eine Dame in einem Gesellschaftskleid. Sie gingen zum Omnibus, und es war 1937. In vielen Ländern hätten die Leute schon ein Vierteljahrhundert früher, nämlich 1913, nicht mehr gewagt, in einem Abendkleid über die Straße zu gehen oder in öffentlichen Gefährten zu fahren. In London und 1937 taten das die Leute ohne weiteres. In der Nacht kamen Damen mit Brillant-Tiaren aus der Oper, und die Marktleute, Körbe mit Gemüse oder Salat auf dem Kopfe balancierend, kreuzten ihren Weg. Kein Wort und kein Blick machten die Situation peinlich. Keiner ballte die Faust oder streckte die Hand zum Himmel als Gruß. Sie hatten keine Gesinnungstracht, keine blauen, grünen, roten, braunen, schwarzen Hemden. Im Gegenteil. Die Lehrlinge trugen noch nicht einmal wie überall auf dem Kontinent kurze Hosen und den offenen Kragen der Revolution von 1789, Schiller- oder Shelleykragen. Sie gaben sich bürgerlich, lange Hosen, Kragen und Krawatte. Sie kamen noch direkt aus Dombey and Son, aus Fromont jeune und Pisler aine, aus Soll und Haben. Sie waren angehende Kaufleute, nicht Ausgebeutete des Unternehmertums, nicht Stehkragenproletarier.

Die Harmlosigkeit: „Ach wie dämlich“, sagte ich. Ich hatte aus Versehen ein Shillingstück in den Spalt für die Pennystücke gesteckt, um mir ein- Untergrundbahnbillet zu ziehen. „Gehen Sie zum Schalter, man gibt Ihnen das Geld zurück.“ „Wie?“, fragte ich ungläubig. „Ja, ja“, erwiderte die Dame. Ich ging zum Schalter, und tatsächlich wurde mir der Shilling zurückerstattet. Es war völlig unkontrollierbar, jedem Betrug war Tor und Tür geöffnet. Aber offenbar passierte er nicht.

Die allgemeine Freundlichkeit und Höflichkeit: an einem der ersten Tage fuhr ich Auto mit einer Dame, die gerade erst chauffieren gelernt hatte. An einer Straßenkreuzung bekam sie den Wagen nicht weiter. Hinter uns stauten sich Motorrad und Lorries, Taxis und Lieferwagen. Erst waren alle ganz still, dann hupten sie. Schließlich, nachdem wir noch einen Radfahrer angefahren hatten, gelang es uns, in eine Nebenstraße abzubiegen. Wir waren gerade im Aussteigen als ein Mann schon die Tür öffnete. Das kann gut werden, dachte ich. „Sie sollten das nicht machen“, sagte er und verschwand. Wir näherten uns dem Radfahrer. „Macht nichts“, meinte er.

Die Abwicklung’ des modernen Verkehrs ist überhaupt charakteristisch für ein Land. In den meisten Ländern beherrschen die Fahrzeuge die Straße, und der Mensch ist ein lästiges Anhängsel. In England wartet jedes Auto und läßt den Fußgänger erst vorüber. Ausländer erkennt man daran, daß sie die Autos immer erst vorbeilassen wollen. Die Chauffeure warten und winken dann. Erst der Mensch, dann das Auto. In vielen Ländern kommt immer nur der Stärkste in einen Omnibus. In Paris reißt sich jeder einen Zettel ab, und der Schaffner läßt dia Leute nach der Nummer herein, nur in England ist die Menschheit so weit, daß es ohne Nummer gebt. Die Leute warten, hintereinander stehend, bis sie an der Reihe sind. Hier wie überall in England kommt es darauf an, daß alle die Regeln befolgen. Die Chauffeure hupen fast niemals. Lärm ist für den Engländer ein Verbrechen. Die ganze Abneigung gegen den Nichtengländer wird besonders von Kleinbürgerinnen in zwei Worte konzentriert: „noisy people“, laute Leute.

Geschichte und Tradition an Stelle der Ration und Logik: für Menschen, die keinen Zahlensinn haben, ist England ein Irrgarten. Nicht nur, daß es kein Dezimalsystem gibt, es gibt die verschiedensten Flächenmaße, die keine Beziehung zueinander haben, und das gleiche gilt von den Münzen: Shilling, halbe Krone, Penny. Die Leute rechnen nur ungefähr, die Verkäufer verrechnen sich unausgesetzt und keineswegs nur zu ihren Gunsten. Alle Bezeichnungen stammen aus uralten Zeiten, und der Penny wird „d“ abgekürzt, was Denarius heißt, die römische Münzbezeichnung.

Der unaggressive Nationalismus: die englische Briefmarke ist die einzige Marke der Welt, auf der nicht der Name des Landes steht, Ursprünglich, weil die englische die erste Briefmarke der Welt war, aber tatsächlich ist diese Briefmarke ohne Landesbezeichnung höchst bezeichnender Ausdruck für ein allgemeines Gefühl, das voraussetzt, daß jeder Mensch in der Welt wissen muß, dies ist die englische Briefmarke. Niemand kommt auf den Gedanken, die Marke so aufzukleben, daß das Bild des Königs auf dem Kopf steht. Das würde als mangelnde Ehrerbietung vor dem Symbol der Nation gelten.

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