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Konrad Adenauer und Erik Reger 1953

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„Die tieferen Gründe“: Leitartikel des Tagesspiegel-Gründers vom 4. Juni 1946

Die Gefahr, daß „die nationalistischen Trübwasserfischer“ am lautesten Beifall klatschen: Erik Reger kritisiert Konrad Adenauer und wirft deutschen Parteiführern vor „Statistiker der Stimmungen statt Politiker des Grundsatzes“ zu sein.

Stand:

Am 8. November 1918 verlangte der Feldmarschall Hindenburg, daß der Waffenstillstand um jeden Preis abgeschlossen werde; am 9. November geschah es — leider nicht mit seiner Unterschrift; am 10. November schrie der Konservative Heydebrand auf: „Wir sind belogen und betrogen wordenl“, und seine „Kreuzzeitung“ ließ im Titelkopf die Devise „Mit Gott für König und Vaterland“ fort. Ein halbes Jahr später stand sie wieder da, und als Chefredakteur der „Kreuzzeitung“ inszenierte Graf Westarp den Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“, als welche er auch die historischen Wahrheiten beschimpfte. Noch ein weiteres Jahr, und der eben unterzeichnete Friedensvertrag war schon so weit durchlöchert, daß der die Kriegsverbrecher betreffende Teil einfach ignoriert werden und die teuer pensionierten deutschen Generale, wie damals ein guter Republikaner sagte, sich in der Haltung eines Mannes zeigen konnten, der nach dem Gewitter den Kopf aus dem Fenster streckt und mit Befriedigung feststellt: „Es regnet ja gar nicht mehr.“ Als am 14. Juli 1920 die zu Ehren des französischen Nationalfeiertages auf dem Gebäude der französischen Botschaft in Berlin wehende Flagge von einem Revanchefanatiker heruntergerissen worden war, paradierte, um diese Beleidigung zu sühnen, während der feierlichen Wiederhissung ein Detachement der als „Reichswehr“ neu erstehenden deutschen Armee; nach der Zeremonie aber befahl der Offizier der vom Brandenburger Tor geräuschvoll abmarschierenden Truppe, herausfordernd „Deutschland über alles“ zu singen.

1920 — 1946. Konrad Adenauer, Vorsitzender der CDU der britischen Zone, redet in Hamburg „vor geladenen Gästen“. Je intimer der Kreis, desto größer die Folie. Die Rede wird verbreitet, und jeder Satz erscheint durch den Hinweis auf die „geladenen Gäste“ unterstrichen. Nicht zu übersehen, daß der Oberpräsident aus Kiel und der Bürgermeister von Hamburg dabei waren. Keine Massenveranstaltung; Auserwählte, sozusagen Erwachsene, vor denen man aussprechen darf, was sich für Kinderohren nicht eignet. Herr Adenauer sagte also, daß ein wahrlich nicht beneidenswerter Teil unseres Volkes heute die Begebenheiten zwischen 1918 und 1920 als vorbildlich empfinde und nur bedauere, daß die immerhin in mancher Hinsicht andersartigen Verhältnisse nicht gestatteten, sie durchweg nachzuahmen (wenn es auch in Tübingen schon wieder gelungen ist, französische Fahnen zu entfernen)) daß eine nicht unbeträchtliche Anzahl Deutscher einer Demonstration wie der oben geschilderten vom 14. Juli 1920 noch nachträglich Beifall spende, daß man aber diejenigen, die es nach Wiederholung gelüste, darauf aufmerksam machen könne, daß das, was ihnen großartig erscheint, auf dem fatalen Bewußtsein der Minderwertigkeit beruhe, weil ein Mensch und eine Nation, die ihrer selbst sicher seien, die Notwendigkeit, sich in aller Form wegen eines Fehlers zu entschuldigen, nicht als Schmach, sondern als sittliche Verpflichtung empfänden; daß, wenn eine Diskussion über die unmittelbaren Zusammenhänge beim Kriegsausbruch 1914 noch möglich sei, das Jahr 1939 die Alleinschuld Deutschlands klar erwiesen habe; daß die Tapferkeit der deutschen Soldaten nicht dem Wohl, sondern der Vernichtung von Volk und Vaterland gedient und Hitler den Krieg so lange und auf eine solche Weise geführt habe, damit alle Deutschen mit dem Nationalsozialismus bis zur Unteilbarkeit der Schuld identifiziert werden müßten; daß unser heutiges Schicksal von dem Unrecht bestimmt werde, das wir in einer nicht abreißenden Kette der Welt zugefügt hätten und wohl noch fortführen zuzufügen, wenn uns nicht die Gewalt fremder Waffen endlich daran gehindert hätte; daß es uns, die wir uns lange Jahre prahlerisch außerhalb des Rechtes gestellt haben, übel kleide, wenn wir die in den Sternen geschriebenen ewigen Rechte in dem Augenblick anriefen, da wir ernteten, was wir gesät hätten; und daß die einzige Waffe, die wir selbst künftig zu .tragen gedächten, das Wissen um die Ursachen sei und der Wille, ihnen und damit einer Wiederkehr der Geschichte von 1918 bis 1945 den Boden zu entziehen. So sprach ...

Sprach Adenauer so? Leider nein. Er sagte (wir folgen dem Bericht von DPD): „Es gibt ewige Gesetze, gegen die niemand ungestraft verstoßen kann“ — um dann jedoch nicht Hitler, sondern die „Siegermächte“ anzuklagen. Er sagte: „Wir haben dem Ende des Krieges entgegengesehen, wie einer Befreiung von Unglück und Last“ — um daraus ein Anrecht auf Belohnung abzuleiten. Er sagte: „Wenn .unsere Besieger’ mehr Psychologie angewandt hätten, dann hätten sie dem Nationalsozialismus einen tödlichen Schlag versetzt“ — und vergaß den Verzicht auf Psychologie, durch den die Partei der Reichskanzler Fehrenbach, Marx und Brüning sich auszeichnete, vergaß auch sich selbst, der einst als Oberbürgermeister von Köln eine expansive kommunale Verschuldungswirtschaft betrieb. Er sagte: „In der Atmosphäre von Trostlosigkeit und Ratlosigkeit, die überall herrscht, gedeiht der Nationalsozialismus“ — und überlegte nicht, daß seine Rede wie nichts zweites dazu angetan war, diesen überlebenden Nationalsozialismus zu ermutigen. Er sagte: „Niemals in der Weltgeschichte ist es vorgekommen, daß ein Jahr nach einer Kapitulation noch keine Friedensverhandlungen vorgesehen waren“— und dokumentierte mit jedem Wort das Gegenteil einer den Frieden verdienenden Gesinnung. Er sagte: „Die Ostzone wird so verwaltet, daß man die Westmächte anrufen muß, die ihrerseits bedenken sollten, daß sie nach allen internationalen Gesetzen nur Treuhänder der Besitztümer eines Volkes sind, das sich bedingungslos ergeben hat“ — und machte sich damit zum Fürsprecher der Dilettanten und Ignoranten, deren Auge in der Aussicht auf einen dritten Weltkrieg den Himmel Deutschlands offen sieht, und der Reaktionäre, die das „kommunistische Gespenst“ gebrauchen, um unvernünftige Aengste auszubeuten.

Es scheint, daß den Parteiführern allmählich die Maßstäbe verlorengehen, und mit den Maßstäben Verantwortungsbewußtsein, psychologisches Schätzungsvermögen, Erkenntnis der Realität und Taktgefühl. In dem Leerlauf, zu dem sie im größten Teile Deutschlands mangels Wahlen und praktischer Regierungsarbeit verurteilt sind, erliegen sie der Versuchung, den Wettlauf um die Volkstümlichkeit mit heftigen Redensarten gewinnen zu wollen. Sie reden überhaupt zuviel, weil sie naturgemäß das unbehagliche Empfinden haben, sie seien gar nicht da, wenn sie nicht redeten. Weil der Hintergrund der Parlamente fehlt, bekommt es ihnen weder, vom Balkon herab vor der tausendköpfigen Menge noch in Missionshäusern vor eingeweihten Zirkeln zu sprechen. Mag in ihren Reden noch so vieles richtig sein, die Art, wie es vorgetragen wird, läßt sich von unlauteren Elementen benutzen, denen die Redner gewiß nicht die Hände schütteln wollen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, es sei das Kriterium eines demokratischen Politikers, zu allen Zeiten alles zu sagen. Was morgen sinnvoll sein kann, muß es nicht heute sein, und was heute sinnlos ist, kann gestern Sinn gehabt haben. Auch ist es, wenn zwei dasselbe zum selben Thema sagen, im Hinblick auf Logik und Berechtigung nicht gleich, welcher Nationalität sie sind. Churchill (der jetzt ein wenig an den Lloyd George der zwanziger Jahre erinnert) darf als Engländer, wie er es kürzlich in Chatham House bei der Enthüllung einer Büste für Lord Cecil tat, die Sünden des Völkerbundes gegenüber der Abrüstungsfrage im allgemeinen und gegenüber Deutschland im besonderen betonen, er darf auch betonen, daß im deutschen Volke vor wie nach 1933 Widerstände gegen die Hitlerei vorhanden waren, die von außen mehr Entmutigung als Unterstützung erfuhren; ein deutscher Redner aber muß sich heute vor solchen Argumenten hüten, weil er damit nur der Neigung seines Volkes zur Intransigenz Vorschub leisten würde. Wenn der Nachdruck auf dem Mute gegenüber den Okkupationsmächten statt auf dem notwendigeren Mute gegenüber dem eigenen Volke liegt, gerät man sehr rasch in die Gefahr, daß die nationalistischen Trübwasserfischer am lautesten Beifall klatschen, so lange, bis man sich ihrer nicht mehr erwehren kann; und in der Minute, da man den Charakter seines Gefolges mit Schrecken erkennt, wird man auch gewahr werden, wie wacker man, ohne Absicht und Bewußtheit schon selbst auf der nationalistischen Heerstraße marschiert.

Es gibt indessen für diese Entwicklung noch einige tiefere Gründe. Nicht, daß nach Jahresfrist noch kein Entwurf zu einem Friedensvertrag vorgelegt werden kann, ist so verhängnisvoll, wie Herr Adenauer meint, sondern daß, weil in diesem Jahre Deutschland mit einer so beklemmenden Deutlichkeit der Schlüssel zu Europa wurde, wir Deutschen uns schon wieder als die wichtigsten Leute der Welt vorkommen und in den dafür nur allzu empfänglichen Seelen der Eindruck entsteht, dieses Land, besiegt oder siegreich, werde stets ein Machtfaktor ersten Ranges sein. Die falschen Schlüsse aus diesem .Eindruck verführen die Parteipolitiker dazu, als Ersatz für das innere Feld, auf dem sie noch nicht genug, vor allem so gar nichts Populäres, zu tun finden, das äußere zu wählen und sich als Diplomaten ohne Auftrag zu betätigen, Zwar berufen sie sich zu ihrer Rechtfertigung auf einen unverbrieften Auftrag, den sie gern mit den Worten umschreiben: „Das Volk erwartet von uns, daß wir unsere Stimme erheben.“ Den unbequemen Gedanken, daß es genau umgekehrt sein müßte, daß sie etwas vom Volke zu erwarten, an das eigene Volk Forderungen zu richten haben, bewahren sie in ihrem Busen. Aber auch hier gilt, was nicht zu beachten sie den Okkupationsmächten vorwerfen: was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück. Daß die Parteiführer nicht Gelegenheit nehmen, dem Volke vor Augen zu halten, in welchem Maße sich der Nürnberger Prozeß zu einer historischen Dokumentation entwickelt hat und welche Folgerungen sich aus den vernichtenden Erkenntnissen ergeben, daß sie es nicht vermögen, ihm die Erholung aus den Verwirrungen der Niederlage gerade durch die Härte der Lehre darzustellen, daß es ihnen nicht geglückt ist, ein leidenschaftliches Begehren nach Bestrafung der Schuldigen, nach Aechtung der großen und kleinen „Führerbefehlsausführer“, nach Atomzertrümmerung jeder militärischen Regung zu erwecken und ihre Streitbarkeit und Unerschrockenheit nach dieser Richtung landauf, landab zu bewähren — darin besteht ihr geschichtliches Versäumnis, dies ist der Grund, wenn, wie Herr Adenauer behauptet, der Nationalsozialismus nicht tot ist, dagegen, gegen unsere eigenen Fehler, und nicht gegen die der Alliierten, wendet sich in Wirklichkeit das „J’accuse“, dem Adenauer eine glücklichere Beredsamkeit widmen sollte. Wir brauchen Parteiführer, die sich nicht hinreißen lassen, ihren Ehrgeiz in abgegriffenen Scheidemünzen statt in Medaillen von scharfem Gepräge zu suchen, und Statistiker der Stimmungen statt Politiker des Grundsatzes zu sein.

Einig sind wir mit Adenauer darin, daß die Ausbreitung der Hegelschen Theorie, die den Staat über die Persönlichkeit stellt und dadurch die Würde und das ursprüngliche Recht des Menschen verletzt, den Nationalsozialismus begünstigt hat. Aber in der Geschichte begibt sich nie eines ohne ein anderes. Wir kennen den Ruf nach der „Staatsautorität“, der in der Weimarer Republik weit öfter gegen die wirklichen Demokraten als gegen die Gegner ertönte, und wir wissen genau, daß die Unterwerfung unter die sogenannten höheren Gebote der Staatsraison immer dann verlangt wurde, wenn die Staatslenker so hilflos waren, daß sie nur noch mit dem Ausnahmeparagraphen regieren konnten. Weil wir das wissen, und weil wir nicht vergessen haben, wer damals sprach und handelte und wass gesprochen und gehandelt wurde, darum wollen wir an der Spitze der Parteien heute nicht Leute sehen, die von jenen Tagen her traurig belastet sind, sie mögen heißen, wie sie wollen. Und ebenso wie wir mit den Nationalsozialisten ihre geistigen Wegbereiter auf eine Stufe stellen müssen (woran die Tatsache nichts ändert, daß manche von ihnen, die den „neuen Nationalismus“ und den „neuen Sozialismus“ gepredigt hatten, von den Usurpatoren später verfolgt wurden), so müssen wir alle diejenigen als Feinde einer deutschen Demokratie betrachten, die wiederum mit totalitären Methoden arbeiten und den der echten Demokratie heimlich Widerstrebenden Wasser auf die Mühle leiten oder, noch schlimmer, in den Augen der Unwissenden und Unbescholtenen die Demokratie diskreditieren, indem sie mit berechnender und doch durchschaubarer Maskerade ein falsches Bild von ihr geben und die Besorgnis nähren, daß sie nicht zögern würden, die freie Demokratie zu unterdrücken, sobald sie mit Hilfe ihrer verdächtig pleonastischen „Volksdemokratie“ die Macht erschlichen hätten. Der Staat ist, darin irrte Cäsar, der es erklärte, gewiß nicht, ein Name ohne Form und Körper; ob er eine Wohltat ist, hängt davon ab, in welchem Grade er ein Stück im Bauwerk der Menschheit wird. So gewiß man kein Unrecht dadurch begehen kann, daß man ein gesetzliches Recht ausübt, so gewiß kann man ein Unrecht damit fördern wollen. Maßgebend ist der Geist, nicht das Gesicht. „Oderunt peccare“, beginnt ein lateinischer Vers: die einen meiden den Frevel aus Liebe zur Tugend, die anderen aus Furcht vor der Strafe, Wir wünschen unserem deutschen Volke die Liebe zur Tugend.

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