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In der aktuellen MEMO-Studie haben 38,1 Prozent der Befragten der These stark oder eher zugestimmt, dass es „Zeit für einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus“ sei.

© IMAGO/Shotshop

Wenn die Mehrheit einen „Schlussstrich“ fordert: Wie halten wir die Erinnerung an Nazi-Verbrechen lebendig?

Aus der Geschichte lernen kann nur, wer auch die Vergangenheit kennt. Wie wir Erinnerung aktiv nutzen können, sagen drei Wissenschaftler:innen.

Von
  • Veronika Hager
  • Anne Lammers
  • Meron Mendel

Stand:

Es ist „nur“ eine relative Mehrheit, aber es ist zum ersten Mal eine Mehrheit. Während seit Wochen in Beiträgen, Filmen, Interviews das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Unrechtsherrschaft der Nationalsozialisten Thema ist, haben in der aktuellen MEMO-Studie 38,1 Prozent der Befragten der These stark oder eher zugestimmt, dass es „Zeit für einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus“ sei. Nur 37,2 Prozent lehnten das eher oder stark ab, 24,2 Prozent wollten sich nicht festlegen.

Aber wer kann etwas aus der Geschichte lernen, ohne zu wissen, was eigentlich passiert ist? „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, das hat vor sieben Jahren der damalige AfD-Chef Alexander Gauland gesagt. Solche Aussagen werden erst dann achselzuckend als Meinung unter vielen hingenommen, wenn das Bewusstsein fehlt, was in der Diktatur passiert ist, und was solche Haltungen auch mit dem eigenen Leben zu tun haben.

Wie also halten wir die Erinnerung an Krieg und Nazi-Verbrechen lebendig, wenn so viele offenbar gerade das Gefühl haben, jetzt sei es damit genug? Drei Forscherinnen und Forscher formulieren in unserer Rubrik 3 auf 1 Ratschläge.

Alle Folgen von 3 auf 1 können Sie hier lesen.


Die Wissenslücken sind schon heute groß

Zum ersten Mal sind mehr Menschen in Deutschland für einen sogenannten „Schlussstrich“ unter die Zeit des Nationalsozialismus als dagegen. Die aktuelle MEMO-Studie zeigt: Für immer mehr Menschen ist der Nationalsozialismus nur noch eine historische Epoche unter vielen, die mit einer Werteorientierung im Hier und Jetzt wenig zu tun hat und über die sie wenig wissen.

Besonders groß sind diese Wissenslücken auf der konkreten Ebene: Was geschah an meinem Wohnort? Gab es in meiner Firma Zwangsarbeit? Und – die für viele schwierigste Frage: Was hat meine eigene Familie damals gemacht?

Dabei weiß man schon länger, dass je konkreter und aktiver das eigene Nachforschen und Verstehen wird, es umso stärker Menschen erreichen kann.

Tatsächlich gibt es gegenläufig zur oben genannten Entwicklung gerade unter jungen Menschen auch ein großes Interesse und den Wunsch, sich für die Erinnerung zu engagieren.

Schulen, Gedenkstätten und neue Lernorte sollten deshalb ihnen sowie Menschen jeden Alters Angebote machen, die die Geschichte für sie direkt in ihrer Lebenswelt erfahrbar machen. Wir von der Stiftung EVZ veröffentlichen dazu am 19. Mai ein kostenfreies E-Learning-Angebot, mit dem Interessierte niedrigschwellig und auf spannende Weise selbst in ihrem Umfeld ins Recherchieren kommen können.


Es geht um die eigene Gegenwart

Erfolgreiche Vermittlungsarbeit der NS-Geschichte knüpft an die Lebenswirklichkeiten der Lernenden an.

Digitale Anwendungen wie virtuelle Touren, 3D-Rekonstruktionen historischer Orte, Serious Games, also digitale Lernspiele mit starker Anbindung zur Wirklichkeit, oder Kurzvideos für Social Media bieten hier enorme Chancen. Sie nutzen vertraute Interaktionsformen und machen Geschichte greifbarer.

KI-gestützte Ansätze können Bildungsangebote noch besser auf persönliche Interessen, Lebenserfahrungen oder Fähigkeiten zuschneiden, etwa durch personalisierte App-Rundgänge an Gedenkorten oder virtuelle Zeitzeugengespräche. Diese interaktiven und individuellen digitalen Zugänge zu historischen Ereignissen laden zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart ein.

Bildungsträger müssen jedoch in der Lage sein, digitale Anwendungen zu produzieren und sie zielgruppengerecht einzusetzen. Dafür braucht es eine verlässliche Förderung historisch-politischer Bildungsarbeit. Ohne ausreichende Ressourcen nützen die innovativsten Technologien nichts im Ringen für mehr kritisches Geschichtsbewusstsein.


Wann unsere Erinnerungskultur eine Zukunft hat

Die deutsche Erinnerungskultur ist ein Ergebnis der Demokratisierung der (west-)deutschen Gesellschaft seit den 1970er Jahren. Ohne das Engagement jüdischer Gemeinden und zivilgesellschaftlicher Gruppen wäre sie nicht denkbar. Ohne sie wäre die breite Zustimmung zu universalistischen Werten nicht denkbar. Diese Werte stehen heute massiv unter Druck.

Achtzig Jahre nach dem Zivilisationsbruch liegt der Nationalchauvinismus wieder neu im Trend. Wenn mehr als zehn Millionen Deutsche eine „gesichert rechtsextremistische“ Partei wählen, steht nicht nur die Erinnerungskultur, sondern auch unsere Demokratie auf dem Spiel. Gedenkstätten, Mahnmale oder feierliche Reden allein reichen nicht aus.

Es geht nicht nur darum, sich an die Vergangenheit zu erinnern, sondern zu vermitteln, was die Achtung universeller Menschenrechte heute für jede und jeden Einzelnen bedeutet. Gelingt es uns, diese Botschaft in den Alltag und den digitalen Raum hineinzutragen, dann hat unsere Erinnerungskultur auch eine Zukunft.

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