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Geschichte: Theorie und Orgasmus

Wilhelm Reich war ein umtriebiger Geist: Sigmund Freuds Lieblingsschüler, Sexualaufklärer, Antifaschist und Wettermacher. 1957 starb er einsam. DDR-Bürgerrechtler und linke Studenten entdeckten ihn für sich.

Flüchtlinge sind sie beide. Den Nazis entkommen, stehen sie sich in den 30er Jahren in Oslo gegenüber: Willy Brandt und Wilhelm Reich. Er habe durch den engen Kontakt mit Reich nicht mehr von der Psychoanalyse verstanden als ein Durchschnittsmensch, wird Brandt später sagen. Kein Wunder. Reich ist in Oslo dem Strömen des Geschlechtstriebs auf der Spur, aber nicht mehr als Psychoanalytiker, sondern als Naturwissenschaftler. Er trägt einen weißen Kittel, arbeitet im Labor und schließt seine Probanden an Messgeräte an. Auch Brandt lässt seine Libido elektrisch bestimmen: „Wenn die Versuchsperson lustvolle Strömungsgefühle empfand, stieg das Hautpotenzial in positiver Richtung an.“ Zum Beispiel durch einen Kuss stimuliert, wird der Strom zur gezackten Linie auf dem Messblatt.

Reich war vielleicht einer der aufregendsten Forscher des 20. Jahrhunderts, auch einer der umstrittensten. Ob Arzt, Psychoanalytiker und begabter Schüler Freuds, ob Agitator der Kommunisten, Sexualaufklärer und Antifaschist oder Körpertherapeut, Naturforscher und Wettermacher, Reich vereint alles in seiner Person. Er suchte nach Liebe und strömender Sexualität und glaubte schließlich eine allumfassende Lebensenergie gefunden zu haben, die er Orgon taufte. Eine Wortschöpfung aus den Worten Orgasmus und Organismus. Am Ende brachten ihn seine Versuche in Konflikt mit der amerikanischen Gesundheitsbehörde.

Peter, Sohn Wilhelm Reichs, ist erst zwölf, als der Vater vor 50 Jahren, am 3. November 1957, in einem amerikanischen Gefängnis stirbt. „A Book of Dreams“ wird er später seine Erinnerungen an den „Traumvater“ nennen. Der ließ seinen kleinen Sohn teilhaben an seinen späten Gedanken und Experimenten in Orgonon, Reichs Forschungssiedlung im US-Bundesstaat Maine. Auch am Cloudbuster, wie Reich die Wettermaschine nannte, mit der er die Atmosphäre von schlechter Energie reinigen und Regen machen wollte. Viele Kollegen hielten Reich da schon lange für verrückt. Aber die Blaubeerzüchter von Maine baten ihn während einer großen Dürre um Regen. Reich ließ es regnen, die Farmer zahlten gern. Der Cloudbuster ist nicht seine einzige Maschine, die zu funktionieren scheint, obwohl die Physiker den Kopf schütteln.

Berührt von Peters Erinnerungen, schreibt die Musikerin Kate Bush 1985 ihren Song Cloudbusting: „I still dream of Orgonon. I wake up crying. You’re making rain.“ Was bleibt außer dem Lied von Reich?

Drei Jahre seines Lebens, 1930 bis 1933, verbringt Reich in Berlin, bevor er fliehen muss. Nach dem Krieg ist er vergessen. Ein Berliner soll seine über die Nazizeit geretteten Reich-Bücher 1967 in die Kommune 1 getragen haben, darunter die „Funktion des Orgasmus“, die „Charakteranalyse“ und die „Massenpsychologie des Faschismus“. Reichs Ideen erleben mit der Studentenbewegung eine Renaissance. Nicht immer wird er richtig verstanden, seine Auffassungen zur Sexualität werden radikalisiert.

Reichs Schriften werden in den 60ern und 70ern in damals populären Raubdrucken gehandelt. Auf diesem Weg wird er zum geistigen Vater sexueller Befreiung, antiautoritärer Erziehung und der Frauenemanzipation. Auch in der DDR wird er unter der Hand gehandelt. Seine Überzeugung, dass jede Gesellschaftsordnung sich diejenigen Charaktere schafft, die sie zu ihrem Bestand benötigt, fasziniert. Seine Tochter Eva hält in Ost-Berliner Privatwohnungen Seminare für Psychotherapeuten, Kirchengemeinden öffnen ihre Räume für Workshops über Reich. Die ostdeutsche Opposition ist nachhaltig von seinen Visionen geprägt.

Geboren wird Reich 1897 in Galizien, als Sohn jüdischer Eltern. Sein Vater leitet ein landwirtschaftliches Gut. Reich erlebt ihn als autoritär, jähzornig und unnahbar. Die Mutter leidet unter der Eifersucht des Vaters, oft kommt es zu Tätlichkeiten. Als Reich zwölf Jahre alt ist, beobachtet er die Mutter, wie sie mit dem Hauslehrer fremdgeht. Er gesteht dies dem Vater, und die Tragödie seines Lebens nimmt ihren Lauf. Die Mutter tötet sich selbst, der Vater schließt eine hohe Lebensversicherung ab und setzt sich ungeschützt eiskalter Witterung aus. Er bekommt eine Lungenentzündung und stirbt 1914. Die Versicherung zahlt nicht.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges zerstört die russische Armee das elterliche Gut. Reich ist arm und schließt sich Österreichs Truppen an. Nach dem Krieg will er Arzt werden und bekommt Kontakt zur Psychoanalyse. Freud ist begeistert, Reich sei „der beste Kopf in der Vereinigung“. Reich wird sehr jung begabter Lehrer einer ganzen Psychoanalytikergeneration.

Von Anfang an interessiert er sich für die Gefühle: Nicht allein die Rekonstruktion der verdrängten Erinnerung hält er für heilsam, sondern die Wiederbelebung der mit der Erinnerung verdrängten Gefühle. Er entdeckt, dass der Charakter eines Menschen der Abwehr tiefer Gefühle dienen kann, und nennt das Charakterpanzer. Die Gefühle sollen durch Analyse des Widerstandes befreit werden. Als zweite Besonderheit hat für ihn jede Neurose einen Kern: Störungen der genitalen Liebesfähigkeit, die er orgastische Potenz nennt. Diese Potenz zu erreichen, wird zum Ziel seiner Psychotherapie. Das irritiert die Kollegen. Freud kritisiert, Reich sähe verkürzt im Orgasmus das Gegenmittel jeder Neurose. Reich legt noch nach, er versteht sexuelle Potenz anders als die meisten Zeitgenossen, nicht nur Neurotiker sind gestört, auch viele Männer, die sich für normal halten: „Der Akt bedeutet für den angeblich potenten Mann Durchbohren, Überwältigen und Erobern der Frau.“

Nicht auf die Behandlung von Neurosen, sondern auf deren Verhütung setzt Reich zunehmend und gründet in Wien Sexualberatungsstellen. Er wird ein charismatischer Redner und Aufklärer. Zunehmend gerät er mit seinem linken sozialpolitischen Engagement in Widerspruch zu den Wiener Kollegen und geht deshalb 1930 mit seiner Familie nach Berlin. Auch hier setzt er sich ein für kostenlose Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsunterbrechungen in öffentlichen Krankenhäusern, finanzielle und medizinische Hilfe für junge Mütter.

Reich schließt sich der KPD an und trifft junge Psychoanalytiker, die wie er an einer Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse interessiert sind. Verschiedene Organisationen für Sexualreform führt er im „Deutschen Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“ zusammen. Dem Verband gehören bis zu 40 000 Mitglieder an. Reich fährt im Land umher, berät Gruppen, baut Beratungsstellen auf.

Die Linken unterschätzen Hitler. Reich nicht: Hitler sei als Massenpsychologe sehr ernst zu nehmen. Warum laufen die Menschen zu den Nazis und nicht zu den Kommunisten, fragt er und führt dies zum einen auf die geschickte Propaganda Hitlers zurück, auf die Ausnutzung unbewusster Minderwertigkeitsgefühle des deutschen Volkes. Zum anderen richtet er das Augenmerk auf die frühen sozialen Erfahrungen in der Familie. Sexuelle und rebellische Triebe werden durch die autoritäre Erziehung mit Angst besetzt. Er ist überzeugt: So werden hörige Charaktere erzogen.

Am 2. März 1933 erscheint im „Völkischen Beobachter“ eine wütende Attacke gegen Reichs Schrift: „Der Sexuelle Kampf der Jugend“. Am 3. März 1933 ist Reich Flüchtling und verlässt Deutschland. Seine Flucht wird auch zum Bruch mit seiner Familie.

1934 rollt die nächste Katastrophe auf Reich zu. Er nennt sie später die „Schweinerei von Luzern“. Die Psychoanalytiker trennen sich auf ihrem dortigen Kongress von ihm. Freud hat Angst um den Fortbestand seiner Psychoanalyse in Deutschland. Wenn die schon verboten würde, dann „nicht als das Gemisch von Politik und Analyse, das Reich vertritt“. Freud fordert von den Berliner Psychoanalytikern: „Befreien Sie mich von Reich.“ Die versuchen, sich den Nazis anzupassen. Für Reich heißt das, er solle sich „im Interesse unserer psychoanalytischen Sache in Deutschland“ einverstanden erklären, dass sein Name in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gestrichen wird. Er antwortet: „Ich muss mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden.“ Es geht um seine Existenz. Ohne Anerkennung als Psychoanalytiker kann er im Exil kein Geld verdienen. Die Kollegen geben sich mit dem Rausschmiss nicht zufrieden. Sie streuen das Gerücht, Reich sei verrückt.

Reich hält seinen letzten Vortrag in Luzern als Gast. Es ist keine politische Ansprache. Reich fasst seine Erkenntnisse zusammen. Er hat entdeckt, dass bei systematischer Analyse der Abwehr seiner Patienten körperliche Erregungs- und Spannungszustände auftreten. Er findet Stöße mit den Beinen, Herzbeklemmungen, kalte Rückenschauer – kurz, körperliche Entsprechungen von Gefühlen.

Niemand von seinen Schülern verteidigt Reich, das enttäuscht ihn schwer. Doch Freud bleibt ihm zeitlebens wichtig. Bis zum Schluss hängt dessen Bild in seinem Arbeitszimmer. Und als er 1952 seinen Nachlass sortiert, berührt ihn die Herzlichkeit der Briefe von Sigmund Freud. Mit Reich verliert die Psychoanalyse zwei wichtige Themen: die Politik und den Körper.

Auch die Kommunisten rechnen mit ihm ab. Sie verübeln ihm sein Buch „Die Massenpsychologie des Faschismus“, das mit dem Satz „Die deutsche Arbeiterbewegung hat eine schwere Niederlage erlitten“ beginnt. So etwas ist „unkommunistisches Verhalten“. Und in Kopenhagen, wohin er geflohen ist, erhält Reich kein weiteres Aufenthaltsrecht. Er muss weiter nach Oslo. Von dort emigriert er 1939 in die USA.

Jetzt hat er jede Heimat verloren. Er war noch nie ein einfacher Mensch, doch in Norwegen wird er noch misstrauischer und zorniger. Er sucht Dreiecksbeziehungen und verdächtigt gleichzeitig seine Partnerinnen. Seine Eifersucht wächst ins Wahnhafte. Er überwirft sich mit Freunden, geliebten Frauen, Kollegen, ehemaligen Patienten. Er nutzt Abhängigkeiten aus. Für seine schwierige Seite übernimmt er kaum Verantwortung, schiebt die Schuld den anderen zu. Er kränkt, er quält.

Seine Geliebte in Norwegen berichtet, er habe ihr nachts von der Furcht erzählt, verrückt zu werden, mit ihr über seine Schuldgefühle gesprochen, für den Tod seiner Mutter verantwortlich zu sein. Zu einer anderen Geliebten sagt Reich: „Ich fürchte meinen Vater in mir.“

In den letzten Jahren in Orgonon besucht ihn eine Freundin aus Wiener Tagen, sie macht sich Sorgen: „Willy, im Namen unserer alten Freundschaft und Liebe, lass dir helfen.“ Reich antwortet: „Die Leute kommen mit Problemen zu mir, aber ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann.“

Das Gerücht, er sei verrückt, haben nicht nur seine Kollegen, sondern auch seine ehemaligen Therapeuten gestreut. Reichs Tochter Lore stellt traurig fest: „Er konnte so charmant sein, und er hat jede Beziehung zerstört. Er war nicht krank, aber er war ein sehr schwieriger Charakter“ Reich fragt seinen Freund, den Reformpädagogen und Summerhill-Gründer A. S. Neill oft: „Glaubst du, dass ich verrückt bin?“ Neills Antwort ist immer dieselbe: „So verrückt wie ein Wasserhuhn!“

Im Exil wendet sich Reichs Interesse von der Psychoanalyse ab. Auch sein politisches Engagement hört auf. Jetzt befreit er Gefühle, indem er muskulöse Verspannungen löst. Diese frühe Körpertherapie entwickelt er wiederum zu einem energetischen Konzept, seiner Orgon-Therapie, weiter. Nicht mehr der Gefühlsausdruck, sondern die Anregung der Lebensenergie Orgon steht nun im Vordergrund. Im gesunden Zustand ströme diese Energie im Körper. Blockaden dieses Energieflusses führten nach Reich zu Erkrankungen. Gesundung bedeutet, die Blockaden zu lösen, die die ursprünglichen Selbstheilungskräfte behindern.

Aber Reich arbeitet auch im Labor. Er misst die Libido und schreibt seiner geschiedenen Frau Annie nach Prag: „Ich habe neulich, du wirst lachen, aber es ist wahr, auf einwandfreieste Weise einen Kuss elektrofotografiert.“ Unter dem Mikroskop glaubt er Anfänge organischen Lebens zu sehen, Partikel, denen er ebenfalls seine Lebensenergie Orgon zuschreibt. Diese Energie will Reich nicht nur überall in der Atmosphäre beobachtet haben, er will sie sich auch zunutze machen – und sei es, dass er das Wetter ändert. In sogenannten Orgon-Akkumulatoren will er die Energie anreichern. Das ist ein spezieller Kasten, in dem sich Patienten „aufladen“ können. Reich behandelt damit Krebspatienten und ist überzeugt, etwas Wichtiges gefunden zu haben. Er sucht Bestätigung und lässt seinen Orgon-Akkumulator von Albert Einstein prüfen, der kann Reichs Ergebnisse von Energieanreicherung nicht bestätigen.

Wegen dieses Orgon-Akkumulators macht die amerikanische Gesundheitsbehörde Reich in den 50er Jahren den Prozess. Sie wirft ihm vor, mit den Ängsten von Krebspatienten Geld zu machen. Die Patienten, die von der Behörde befragt werden, behaupten, der Orgon-Akkumulator tue ihnen gut. Kein Patient beschwert sich über Reich. Es ist eine verzweifelte Geschichte, die Reich über viele Jahre verfolgt. Er ist nicht kooperativ, fordert die Freiheit wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Er fühlt sich verfolgt und verliert den Bezug zur Realität.

Im Mai 1956 wird die Zerstörung der Orgon-Akkumulatoren angeordnet. Im Juni werden Reichs Bücher verbrannt. Er steht daneben und sagt den amerikanischen Beamten, dass seine Bücher schon einmal, in Deutschland, verbrannt worden wären. Wegen Missachtung des Gerichtes wird Reich zu zwei Jahren Haft verurteilt. Am 3. November 1957 stirbt er im Gefängnis an Herzversagen.

Kommenden Samstag, dem 50. Todestag, soll der Nachlass geöffnet werden. Wilhelm Reich hatte ihn verschließen lassen, weil er misstrauisch war und auf eine ferne Generation hoffte, die ihn besser verstehen würde. Der Nachlass befindet sich in Orgonon, im US-amerikanischen Bundesstaat Maine in einem versiegelten Tresorraum. Das heißt, der größte Teil wenigstens, der Rest soll in Kartons in der medizinischen Abteilung der Universität Harvard liegen.

Was wird der Tresor am nächsten Samstag in Orgonon zum Vorschein bringen? Vielleicht etwas von Willy Brandts überschüssiger Libido? Oder doch irgendeine Wahrheit, die Reich rehabilitiert, ihn dauerhaft in seine Rechte einsetzt, als Vater der Körpertherapie, als großen Theoretiker der Psychoanalyse, als Vorkämpfer für Frauenrechte und Sexualreform und als mutigen und frühen Gegner Hitlers.

In seinen Erinnerungen steht Peter Reich am Cloudbuster: „Es ist ein gutes Gefühl herumzukurbeln,“ schreibt er. „Das ist auch der Grund, warum ich so gern Wolken breche, man fühlt sich sofort besser, wenn die Luft reiner wird, und man kann hoch, runter oder zur Seite drehen oder in jede Richtung. Dafür gibt es keine festen Regeln.“ „Schon gut, mein Sohn,“ lässt er den Vater antworten. Reich sieht zu den Bergen hinüber, dann gibt er sanft den Befehl: „Fang jetzt den Wind.“

Heike Bernhardt

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