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Unbeschränkte Vollmachten für Hitler: Das „Ermächtigungsgesetz“ — Der schwärzeste Tag des deutschen Parlamentarismus
Zum Geburtstag des früheren Tagesspiegel-Verlegers Franz Karl Maier veröffentlichen wir hier noch einmal seinen Artikel vom 23. März 1983, genau 50 Jahre nach dem „schwärzesten Tag in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“.
Stand:
War der „Tag der Machtergreifung“, der 30. Januar 1933, der verhängnisvollste in der Geschichte des Deutschen Reiches, so war der 23. März 1933 der schwärzeste in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Heute vor 50 Jahren wurde nach den Wahlen vom 5. März 1933 vom Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sogenannte Ermächtigungsgesetz, mit 444 Ja-Stimmen bei 94 Nein-Stimmen der in der Sitzung anwesenden Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion beschlossen. Es hob praktisch die Weimarer Verfassung auf und war die scheinlegale Grundlage für die Hitlersche Diktatur. Der Vorgang ist der historische Beweis, daß die Weimarer Republik nicht nur, wie vielfach so dargestellt, an den „System“-Gegnern, den Nationalsozialisten und Kommunisten, zugrunde ging, sondern auch an mangelndem Mut und mangelnder Überzeugungstreue der damaligen demokratischen Politiker der bürgerlichen Mitte.
Das Wahlergebnis
Die Wahl vom 5. März war in weiten Teilen Deutschlands, vor allem in Preußen, im demokratischen Sinne schon nicht mehr frei. Eine Notverordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, erlassen am Tag nach dem Reichstagsbrand, hatte bereits einen Vorgeschmack gegeben und die diktatorischen Absichten Hitlers erkennen lassen. Trotz des Einsatzes des Machtapparates des Staates und der mit ihm gekoppelten Organisationen der NSDAP (SA) bringt die Wahl nicht das von den Nazis erhoffte Ergebnis. Es errangen:
NSDAP: 288 Sitze; Deutschnationale Volkspartei/Stahlhelm („Kampfblock Schwarz-Weiß-Rot“): 52 Sitze; SPD: 120 Sitze; KPD: 81 Sitze; Zentrum: 73 Sitze; Bayerische Volkspartei: 19 Sitze; Deutsche Staatspartei: 5 Sitze; Christlich-Sozialer Volksdienst: 4 Sitze; Deutsche Volkspartei: 2 Sitze; Splittergruppen: 3 Sitze.
Der am 5. März 1933 gewählte Reichstag bestand somit nominal aus 647 Abgeordneten. Schon am 9. März 1933 gab der NS-Reichsinnenminister Frick öffentlich bekannt, wenn der neue Reichstag zusammentrete, „werden die Kommunisten durch dringende und nützliche Arbeit verhindert sein, an der Sitzung teilzunehmen. Diese Herrschaft muß wieder an fruchtbringende Arbeit gewöhnt werden. Dazu werden wir ihnen in Konzentrationslagern Gelegenheit geben“.
Mit größerem Zynismus konnte man die Verachtung von Recht und Verfassung nicht zum Ausdruck bringen. Das hätte, wenn frühere eindeutige Erklärungen des „Führers“ nicht schon genügt hätten, auch die Gegner der Kommunisten aufschrecken müssen im Sinne der alten Volksweisheit: Was du nicht willst, daß man dir tu, das laß auch nicht bei anderen zu. Von Verfassungstreue ganz zu schweigen.
Die Ankündigung Fricks und ihr Vollzug, ohne irgendeine gesetzliche Grundlage, damit unter flagranter Verletzung der Weimarer Verfassung, erfolgte auch im Blick auf den Plan Hitlers, sich von dem neuen Reichstag Vollmachten zu diktatorischer Regierungsführung geben zu lassen. Der bereitliegende Gesetzentwurf bedurfte als offensichtlich „verfassungsändernd“ (in Wirklichkeit bedeutete er die Außerkraftsetzung aller demokratischen Kernstücke der Verfassung für vier Jahre) einer qualifizierten Mehrheit, über die die Hitler-Hugenberg-Koalition mit ihren insgesamt 340 Mandaten nicht verfügte. Artikel 76 der Weimarer Verfassung schrieb vor: „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen.“
Wer die Haltung der Parteien der Mitte, die diese im Wahlkampf zum 5. März eingenommen hatten, ernst nahm, konnte ohne weiteres davon ausgehen, daß ein solches „Ermächtigungsgesetz“ im Reichstag kaum eine Chance haben würde. Aber Hitler schätzte diese Gruppe seiner Gegner, wie das historische Geschehen zeigen sollte, richtig ein. Diese, insbesondere das Zentrum, die Bayerische Volkspartei, die Deutsche Staatspartei, hatte bei ihren Wahlveranstaltungen und in Ihren vielfältigen Drucksachen den.Wählern klargemacht, daß es bei der Stimmabgabe darum gehe, die Demokratie zu erhalten, die nationalsozialistischen Diktaturabsichten abzuwehren und Deutschland vor dem Weg ins Verderben zu bewahren. Plakate mit der richtigen Erkenntnis „Hitler bedeutet Krieg“ waren keine Seltenheit, auch wenn sie häufig von Sturmtrupps der SA schnell wieder abgerissen wurden. In einer besonders klaren und scharfen Abwehrfront befand sich das Zentrum. Die katholischen Bischöfe hatten schon 1931/1932 „in ihrer pflichtgemäßen Sorge für Reinhaltung des katholischen Glaubens und für Schutz der unantastbaren Aufgaben und Rechte der katholischen Kirche“ eine ablehnende Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung eingenommen und schließlich auch die Mitgliedschaft in der NSDAP als mit der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche für unvereinbar erklärt. Beispielsweise wurde verstorbenen katholischen NSDAP-Mitgliedern die kirchliche Beerdigung verweigert.
Das galt auch noch am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“ (feierliche Eröffnung des neuen Reichstags). An dem an das Schauspiel anschließenden katholischen Gottesdienst nahm Hitler nicht teil, mit der ausdrücklichen Begründung, daß die „katholischen Bischöfe von Deutschland ... Führer und Mitglieder der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei als Abtrünnige der Kirche“ bezeichnet haben, „die nicht in den Genuß der Sakramente kommen dürfen“, und „diese Erklärungen bis heute noch nicht widerrufen“ sind.
Die Reichstagssitzung vom 23. März
Zu Beginn der Reichstagssitzung vom 23. März in der nach dem Reichstagsbrand als Ausweichquartier hergerichteten Kroll-Oper wurde ein Antrag der beiden Regierungsparteien auf Änderung der Geschäftsordnung und ein Antrag der Sozialdemokraten auf Freilassung von neun ihrer in Schutzhaft befindlichen Fraktionsmitglieder behandelt Der erste bedeutete eine üble Manipulation, mit der „abwesende“ Abgeordnete als „anwesend“ im Sinne des zitierten Artikel 76 gewertet werden konnten. U. a. sollte damit verhindert werden, daß die Voraussetzung der Vorschrift über Verfassungsänderung durch ein Nichtbeteiligen an der Abstimmung „sabotiert“ werden könnte. Der Änderungsantrag wurde, wie der Reichstagspräsident Göring (gleichzeitig Reichsminister und außerdem mit der Wahrnehmung der Geschäfte des preußischen Innenministers beauftragt!) feststellte, mit „überwältigender Mehrheit“, nämlich auch den Stimmen von Zentrum und Bayerischer Volkspartei, angenommen. Der Antrag der Sozialdemokraten wurde mit der Mehrheit der Stimmen der Nationalsozialisten und Deutschnationalen bei Stimmenthaltung der bürgerlichen Mitte abgelehnt. Die Begründung: es sei unzweckmäßig, „die Herren des Schutzes zu berauben, der ihnen durch die Verhängung dieser Haft zuteil geworden ist“.
Von den 120 Fraktionsmitgliedern der SPD nahmen an der Sitzung 94 teil. Neben den Verhafteten (Julius Leber wurde beim Betreten des Reichstags festgenommen!) waren etliche wegen der Gefahr für ihre Freiheit untergetaucht und von der SPD als krank gemeldet, andere waren schon emigriert. Göring stellte in der Sitzung ohne Widerspruch fest, daß die „gesetzliehe Mitgliederzahl“ des Hauses 566 betrage, wobei er von den 647 gewählten Abgeordneten kurzerhand die kommunistischen Sitze abzog. Anwesend und an der späteren Abstimmung beteiligt waren 538 Abgeordnete. Trotz Manipulation und gewaltsamem Fernhalten von verfassungsgemäß gewählten Abgeordneten fehlten der Hitler-Hugenberg-Koalition für die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit immer noch 19 Stimmen. Zahlenmäßig lag damit die Verantwortung für eine Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes beim Zentrum und der Bayerischen Volkspartei, die schon durch eine Stimmenthaltung der beiden zu verhindern gewesen wäre.
Hitlers Erklärung
Nach der geschilderten Eröffnung gab der Reichskanzler Hitler eine Erklärung der Reichsregierung ab, die gleichzeitig die Begründung für das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ sein sollte. Es ist im Rahmen dieser Darstellung weder möglich noch notwendig, die an diesem Tag gehaltenen Reden im Wortlaut wiederzugeben. Kurze Zitate erfolgen für auch im Rückblick historisch bedeutsame Pasisagen. Besonders für die Ohren der Abgeordneten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei bestimmt waren diese Formulierungen: „Die nationale Regierung wird in Schule und Erziehung den christlichen Konfessionen den ihnen zukommenden Einfluß einräumen und sicherstellen. Ihre Sorge gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat.“ Und an anderer Steile: „Ebenso legt die Reichsregierung, die im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes sieht, den größten Wert darauf, die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter zu pflegen und auszugestalten.“ Zum Schluß sagte Hitler: „Da die Regierung an sich über eine klare Mehrheit verfügt, ist die Zahl der Fälle, in denen eine innere Notwendigkeit vorliegt, zu einem solchen Gesetz die Zuflucht zu nehmen, an sich eine begrenzte. Um so mehr aber besteht die Regierung der nationalen Erhebung auf der Verabschiedung dieses Gesetzes. Sie zieht in jedem Falle eine klare Entscheidung vor. Sie bietet den Parteien des Reichstags die Möglichkeit einer ruhigen deutschen Entwicklung und einer sich daraus in der Zukunft anbahnenden Verständigung; sie ist aber ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des Widerstands entgegenzunehmen. Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg.“
Ein wichtiger Brief, den es nie gab
Nach diesem drohenden Abschluß trat eine Sitzunqspause von drei Stunden ein, in welcher der Leiter des Zentrums, der Prälat Kaas, vergeblich auf eine ihm bei einer Unterredung am Vorabend von Hitler zugesagte schriftliche Erklärung des Reichskanzlers wartete, die gewisse Zusicherungen für die Zukunft, an denen dem Zentrum besonders lag, enthalten sollten. Die zitierten Passagen aus der Hitler-Rede waren wohl auf dieses Gespräch zurückzuführen. Aber der nach Darstellung von Kaas fest versprochene Brief kam nicht; er kam nie. Der frühere Reichskanzler Brüning, der zusammen mit anderen zunächst gegen das Ermächtigungsgesetz war, beschreibt in seinen Memoiren dieses Intermezzo so:
„So entschloß ich mich, am Nachmittag des 23. März mit in die Kroll-Oper zu gehen, unter der Voraussetzung, daß Kaas, wenn der Brief von Hitler nicht käme, einen Vertagungsantrag stellen würde. Wenn er diesen Antrag nicht stelle, so würde ich die Kroll-Oper verlassen und sofort meinen Austritt aus der Partei erklären. Ich zeigte ihm den Entwurf meiner Erklärung, den ich fertiggestellt hatte. Ich hoffte, dadurch einen Druck auf ihn auszuüben und gleichfalls durch meine Anwesenheit vielleicht ein Betrugsmanöver im letzten Augenblick verhindern zu können. Auch diese Hoffnung wurde zu einer bitteren Enttäuschung. Die Zweite Lesung begann, Hitlers Brief war nicht da. Ich erklärte Kaas, daß ich sofort die Sitzung verlassen würde, wenn er nicht die Vertagung der Abstimmung beantragen würde. Kaas ging zu Hitler, kam wieder und sagte: ,Sie sehen, wie unbegründet Ihre Besorgnisse sind. Der Kanzlei hat mir erklärt, daß er den Brief bereits unterschrieben und ihn dem Innenminister zur Weiterleitung abgesandt habe.’ Der Brief sollte noch während der Abstimmung eintreffen. Kaas fügte hinzu, wenn er irgendwie Hitler je geglaubt hätte, so müsse er es nach dem überzeugenden Ton dieses Mal tun. Er überlegte auch, und nicht unrichtig, daß, wenn er nun nach Hitlers Erklärung den Vertagungsantrag stellen oder ich den Saal demonstrativ verlassen würde, Hitler ein Argument haben würde, um den Brief doch nicht auszuhändigen. Ich entschloß mich daher, nach schwerem inneren Kampf zuzustimmen. Die Dritte Lesung kam, der Brief war noch nicht da. Kaas wollte nicht noch einmal fragen, bis ich meine Sachen packte und aufstand, die Sitzung zu verlassen. Er lief hinter mir her und sagte, er spreche noch mal mit Hitler und Frick. Wiederkommend, als die Abstimmung schon im Gange war, sagte er, Frick habe im Innenministerium, das zwei Minuten von der Kroll-Oper entfernt sei, telefonisch festgestellt, daß der Brief schon durch einen besonderen Boten in den Reichstag abgegangen sei. Die Verzögerung sei wohl nur hervorgerufen durch den dichten Sicherheitskordon, der um den ganzen Königsplatz gezogen sei. Es sei keine Frage, daß der Brief noch während der Abstimmung eintreffen werde. Die Abstimmung geschah, der Brief kam nicht.“
Nach der Pause erhielt zuerst der Abgeordnete Wels das Wort, der das Nein der SPD zum Ermächtigungsgesetz ankündigte und mit einer Reihe grundsätzlicher, demokratischer und rechtsstaatlicher Einwendungen begründete. Er warnte, wörtlich: „Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen.“ Und bezogen auf die gesamte Atmosphäre der Sitzung: „Freiheit und Leben, kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Eine scharfe Erwiderung Hitlers folgte (Zwischenruf Görings: „Jetzt rechnet der Kanzler ab!“). Dann kam der Prälat Kaas als Redner an die Reihe. Er erklärte, die deutsche Zentrumspartei werde dem Ermächtigungsgesetz zustimmen und führte u. a. aus: „Die einleitende Regierungserklärung, die Sie, Herr Reichskanzler, ... gegenüber der deutschen Volksvertretung abgegeben haben, enthielt manches Wort, das wir unterschreiben können, und manches andere — lassen Sie mich das in aller Offenheit, aber in loyaler Offenheit sagen —, auf das einzugehen wir uns im Interesse der Sammlung, die das Gesetz dieser Stunde sein muß, bewußt versagen. ... . Manche der von Ihnen, Herr Reichskanzler, abgegebenen sachlichen Erklärungen geben uns, wie ich mit Befriedigung in aller Offenheit hier feststelle, bezüglich einzelner wesentlicher Punkte des deutschen Staats-, Rechts- und Kulturlebens — vor allem auch in Verbindung mit den bei den Vorverhandlungen gemachten Feststellungen — die Möglichkeit, eine Reihe wesentlicher Bedenken, welche die zeitliche und die sachliche Ausdehnung des Ermächtigungsbegehrens der Regierung bei uns ausgelöst hatte und auslösen mußte, anders zu beurteilen.“ Von dem angeblich fest versprochenen und immer noch nicht vorliegenden Brief Hitlers sagte er kein Wort.
Reden von Ritter von Lex und Reinhold Maier
Es folgte Ritter von Lex für die Bayerische Volkspartei, der zunächst darauf hinwies, daß Dauer und Inhalt des angestrebten Gesetzes in der deutschen Geschichte kein Vorbild hätten. „Wir hätten es daher für erforderlich erachtet, daß schon im Wortlaut des Ermächtigungsgesetzes die Grundrechte eines christlichen und nationalen Staates ausdrücklich gewährleistet worden wären.“ Die Ausführungen des Reichskanzlers in der Regierungserklärung hätten die Bedenken gemildert und man sei deshalb in der Lage, dem Ermächtigungsgesetz die Zustimmung zu erteilen. Er schloß: „Die Verantwortung für die Durchführung des Gesetzes im einzelnen legen wir vor Gott, dem deutschen Volke und der deutschen Geschichte in die Hände der Reichsregierung.“
Für die Staatspartei sprach Reinhold Maier. Aus seinen Ausführungen: „Wir verstehen, daß die gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört weiterarbeiten zu können. Wenn wir gleichwohl in dieser ernsten Stunde uns verpflichtet fühlen, Besorgnisse zum Ausdruck zu bringen, so gehen wir davon aus, daß auch der jetzigen Regierung eine sachliche und loyale Kritik ihrer Maßnahmen nicht unerwünscht sein wird. Wir vermissen in dem vorliegenden Gesetzesentwurf, daß den Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung keine ausdrückliche Sicherung vor Eingriffen gegeben wurde.“ Sein Schlußsatz: „Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“
Theodor Heuss zum Ermächtigungsgesetz
Zu den fünf Abgeordneten dieser Gruppe gehörten auch Theodor Heuss und Ernst Lemmer. Von Heuss wissen wir, daß er zwei Erklärungen formuliert hatte, eine für Ablehnung, eine für Enthaltung, und daß er bereit war, sie im Plenum abzugeben. Er wurde aber nur von dem früheren Wirtschafts- und Finanzminister (unter Brüning) Dietrich unterstützt. In einer Art von Fraktionsdisziplin beugte sich Heuss der Mehrheit und auch Dietrich stimmte für das Ermächtigungsgesetz. Im Gegensatz zu vielen Ermächtigungsgesetzlern, die die Hitler-Zeit überlebt hatten und in den Jahren nach 1945 ihr damaliges Handeln mit allen möglichen oder besser unmöglichen Argumenten zu erklären oder gar zu rechtfertigen versuchten, hat Theodor Heuss jedenfalls 1967 seine geistige Redlichkeit bewiesen, als er schrieb: „Jeder von uns, der als Publizist oder als Politiker zu Entscheidungen gezwungen war, die er später bedauerte, hat Dummheiten gemacht. Doch dieser Begriff ist zu schwach für die Zustimmung zu diesem Gesetz und auch das Wort ,später’ trifft nicht die innere Lage, denn ich wußte schon damals, daß ich dieses ,Ja’ nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne.“
Der Schluß mit seinen Folgen
Zurück zur Sitzung: Der Abgeordnete Simpfendörfer kündigte in wenigen Worten die Zustimmung des Christlich-Sozialen Volksdiensts zum Ermächtigungsgesetz an. Das Schlußwort sprach Göring mit dem Kernsatz: „Darum hat die nationalsozialistische Fraktion zu dem Ermächtigungsgesetz nur eines zu erklären: Es ist jahrelang geredet worden; jetzt haben wir an der Spitze der deutschen Regierung einen Führer, jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt wird gehandelt!“ Und nach der rein förmlichen sogenannten zweiten und dritten Beratung wurde in die namentliche Schlußabstimmung eingetreten. Göring gab das vorläufige Ergebnis mit 441 Ja-Stimmen und 94 Nein-Stimmen bekannt, das später nach Überprüfung auf 444 Ja-Stimmen bei 94 Nein-Stimmen berichtigt wurde. Im Zusammenhang mit der Rolle des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei an diesem Unglückstag ist noch beizufügen, daß am 20. Juli 1933 das Konkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl unterzeichnet wurde, obwohl sich in den dazwischenliegenden vier Monaten schon deutlich gezeigt hatte, was von den Versprechungen Hitlers vom 23. März zu halten und wozu inzwischen das Ermächtigungsgesetz mißbraucht worden war. Furchtbare Fortsetzung: In der Mordnacht vom 30. Juni 1934 wurde der Leiter der „Katholischen Aktion“, der Berliner Ministerialrat Klausener, von den Nazis heimtückisch umgebracht und Hitler erklärte alle Morde jener Nacht (u. a. Schleicher, Edgar Jung) mit einem aufgrund der Ermächtigung vom 23. März 1933 erlassenen Gesetz als rechtens.
Niemand kann mit einiger Sicherheit sagen, was geschehen wäre, wenn die bürgerliche Mitte die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, sei es durch Stimmenthaltung, sei es durch ein Nein, verweigert hätte. Würde Hitler danach zu klarem staatsstreichartigem Handeln übergegangen sein, so bleibt fraglich, ob dem die Reichswehr zugesehen hätte. Gegenüber dem Ausland hätte er nicht das Alibi einer Scheinlegalität besessen. Wozu die Ausbreitung dieses trüben Kapitels an seinem 50. Jahrestag? Weil die Geschichte ein beständiger und guter Lehrmeister ist und weil der Rückblick beweist, daß bei der Schaffung unseres Grundgesetzes aus den Erfahrungen von Weimar gelernt wurde. Bonn ist nicht Weimar und darf es nie werden.
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