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Viele Vermittlungsanträge im Bundesrat.

© dpa/Demy Becker

„Vom künftigen Deutschland“: Tagesspiegel-Leitartikel vom 16. Oktober 1945

Zeitungsgründer Erik Reger fordert früh, für einige zu früh, eine „Republik Deutschland“ mit dem „Gefüge eines Staatenbundes, in dem die deutschen Länder größere Selbständigkeit und Bedeutung haben als je zuvor“.

Stand:

Das Schwierigste in der Geschichte sind nicht die plötzlichen und überraschenden Daten. Das Schwierigste ist das, was der klare Beobachter zwar als Tatsache voraussehen, doch in der Erscheinungsform vorher nicht beurteilen kann. Seit Jahr und Tag hatten einige von uns das Bild vor Augen, daß Herr Hitler in Deutschland bis zum letzten Zaunpfahl kämpfen werde, an den geklammert, der Trapezkünstler Goebbels, wie in Lauban, schreien könnte: „Wir werden alles zurückerobern!“ Nicht zu ahnen aber war, wie sich im einzelnen alles vollziehen werde. Nicht wenige von uns hatten gedacht, zwischen der letzten Phase des Deliriums, das die Handlungen von Regierung und Wehrmacht seit August vorigen Jahres bestimmte, und der Vereinigung aller kämpfenden alliierten Heere werde auf deutschem Gebiete Spielraum bleiben, um die Nationalsozialisten so radikal auszurotten und in Wort und Tat so entschiedene Beweise eines anderen Deutschland zu geben, daß die Kapitulationsbedingungen nur noch offene Türen einzurennen hätten.

Einerlei, wieviel an dieser Hoffnung Realistik und wieviel daran Phantastik war, sicher ist, daß, hätte sie sich erfüllt, gewisse Probleme nicht entstanden wären. Mancher mag sich die Augen reiben, wenn er fünf Monate nach Hitlers Verschwinden die „Entnazifizierung“ Deutschlands in den Mittelpunkt der Aktualität gerückt sieht. Gewiß, es ist spät; aber wie es eine lächerliche Uebertreibung wäre zu sagen, es sei zu spät, so wäre es eine anmaßende Ungerechtigkeit, irgendeiner Instanz Vorwürfe daraus zu machen, daß die Dinge sich infolge der ebenso formidablen wie grotesken Art des deutschen Kollapses gewaltig kompliziert haben. Daß bei dem Zustande Deutschlands einer verantwortlichen Stelle die Entscheidung darüber oft schwer fiel, was im allerersten Augenblicke dringlicher sei, die Erkundung einer Transportmöglichkeit oder die Beseitigung eines Pg, daß ferner ein übersehener oder verschonter Pg seinen zufälligen Vorteil schlau und kundig wahrzunehmen wußte — das läßt sich, so lange kein System daraus zu werden droht, durchaus reparieren. Wir sind als Deutsche für den entschiedensten Kurs, und er wird jetzt gesteuert. Es ist so, wie Feldmarschall Montgomery sagte: „Man kann entweder viele Personen ohne vorhergehende Untersuchung aus dem Amte entfernen und sie verhaften, um dann bald danach viele von ihnen wieder zu entlassen, oder man kann die Beseitigung des Nationalsozialismus methodisch betreiben. Ich ziehe den zweiten Weg vor.“

Es wird also nicht etwas Vergessenes nachgeholt, sondern eine politische Linie weiter verfolgt, deren Existenz nur nicht gleich vor aller Augen offen lag. Andererseits tragen wir schwer daran, daß diese Frage, wie jede deutsche, heute nicht von uns selber zu lösen ist und infolgedessen ihren Schatten auf die Weltpolitik wirft. Es ist kein Wunder, wenn darüber unter den anderen Nationen Meinungsverschiedenheiten auftauchen; es wäre ein Wunder, wenn keine auftauchten. Ein Deutscher, der sich über solche Unstimmigkeiten freut, verdient seinen Namen nicht. Wahre Patrioten werden durch die Tatsache, daß unser Land unaufhörlich die Ursache von Mühen und Sorgen anderer bildet, noch mehr bedrückt, als sie es von der Vergangenheit her ohnehin sind.

Amerikanische Soldaten, die während ihres Vormarsches durch Westdeutschland von der Bevölkerung mit Blumen und Jubel begrüßt wurden, hatten den Eindruck, daß Herr Hitler genau so empfangen worden wäre, wenn das Schicksal, weniger unbestechlich, ihn hätte siegen lassen. Selten hat ein Urteil über ein fremdes Volk von so hoher Urteilsfähigkeit gezeugt wie dieses. Wir, die wir das unsere bis ins kleinste hinein kennen, hegen keinen Zweifel daran, daß es heute in seiner erdrückenden Masse auf Hitler sehr böse ist. Großenteils aber ist es ihm darum böse, weil er den Krieg trotz all seines Genialitätsprotzentums nicht gewonnen hat, statt, weil es davon durchdrungen wäre, daß der Nationalsozialismus Inbegriff aller schlechten Instinkte, Barbarei und Kannibalentum ist. Sogar unter denen, die davon durchdrungen sind, finden sich nicht viele, die über oberflächliches, schlagworthaftes Gerede umgekehrten Vorzeichens hinausgelangen. Wenn wir trotzdem meinen, unser Volk könne dazu gebracht werden, ernstlich in sich zu gehen, es werde sogar eines Tages, nach Ueberwindung des gröbsten Alltagselends, erst richtig anfangen, über seine Schuld oder Verantwortlichkeit mit einer wirklich tiefen, fruchttragenden Leidenschaft zu grübeln, so fühlen wir uns gerade aus der augenblicklichen Situation heraus dazu berechtigt.

Klarzustellen, wo und wie gesündigt wurde oder was schlecht und charakterlos war und ist, hat nur einen halben Sinn, wenn es einzig der Selbsterkenntnis, nicht auch der künftigen Wandlung dient. Der demokratische Wille der sogenannten Weimarer Republik ist nicht allein an äußeren Umständen, an Zerfahrenheit und Handlungsunfähigkeit zerbrochen. Er ermangelte der ethischen Grundlagen, die einer politischen Demokratie den inneren Halt geben müssen. So lange in Deutschland von Demokratie die Rede war, sind diese ethischen Grundlagen beiseitegeschoben oder in aufgeblähten Phrasen verflüchtigt worden. Es ist bemerkenswert, wie oft bei uns die Söhne anscheinend aufrechter Demokraten Erzreaktionäre wurden. Der Name Kapp, geführt von einem Vater, der gegen Fürstenwillkür kämpfte, geführt darauf von einem Sohn, dessen Putsch die Weimarer Demokratie aus dem Sattel warf, ehe sie darinsaß, ist eines der geläufigsten Beispiele. Bei diesem Mangel an Kontinuität, der in Deutschland gerade das demokratische Denken bedroht, können Nationalsozialismus und Militarismus nicht als ausgetilgt gelten, wenn ihre Organisationsformen ausgetilgt sind. Dazu bedarf es der Ausmerzung der mittelalterlichen Terminologie, die den Nährboden solcher Giftpilze gebildet hat und immer wieder zu bilden imstande ist.

Als der Todestag von Hugo Preuß sich jährte, wurde in unserem Blatte daran erinnert, daß der Schöpfer der Weimarer Verfassung den Ausdruck „Republik“ vermied und seinen Entwurf „Verfassung des Deutschen Reiches“ überschrieb. Nach der sprachlichen Bedeutung ist „Reich“ so viel wie „Bereich“, etwas, was so und so weit „reicht“, sich erstreckt, sich ausdehnt. Im Staatssinne ist es also der Herrschaftsbereich, das lateinische „Imperium“. Von Imperium ist Imperialismus abgeleitet. Imperium ist ein Herrschaftsbereich, der seine Grenzen hat. Imperialismus ist das Bestreben, den Herrschaftsbereich über Grenzen hinaus zu erweitern, die von vornherein für vorläufig und niemals endgültig erachtet wurden. Da dies nur auf Kosten anderer Völker geschehen kann, bedeutet es Gewalt, Unterdrückung, Länderraub.

Die Geschichte des „Deutschen Reiches“ ist von Anfang an imperialistisch. Der erste „Verkörperer des Reichsgedankens“ war Otto I., der Dänemark, Polen, Böhmen, Ungarn und Oberitalien unterwarf; der letzte war Herr Adolf Hitler, dessen Hirnverbranntheit bis zum Suezkanal und zum Kaukasus griff. Mit seinem „Großdeutschen Reich“ hat diese Sorte Geschichte ihren Abschluß gefunden und sich selbst ad absurdum geführt.

„Reichsgedanke“ ist eine Umschreibung für Imperialismus. Zu allen Zeiten hat die innere Unrast der Deutschen sich dieses Ausdrucks bedient, um den Expansionsdrang ein Staats- und völkerpolitisches Motiv zu verleihen. Nicht zufällig ist nur bei zwei Völkern der Erde die Sehnsucht nach dem Mittelalter so groß: bei den Japanern und bei den Deutschen. Denn es sind diese beiden Völker, die ihren Imperialismus mit Metaphysik verbrämen, so wie man auf der Bühne blutrünstige Schlachtszenen mit Trommeln und Hörnern veredelt. „Schlachtenmusik“ ist ja auch ein typisch deutsches Wortgebilde, das nach Theodor Körner schmeckt. Das „Reich der Deutschen“ wurde eine Art politischer Religion und rangierte als solche neben dem „Reich Gottes“, mit dem es mystisch identifiziert wurde. So wurde der ursprünglich sprachliche Begriff zum programmatischen: programmatisch für verschwommene Romantik, kreuzzugähnhche Abenteuerlichkeit, idealistisch verkleideten Materialismus. Eine Rattenfängerflöte, auf der zuletzt die Nationalsozialisten grinsend gespielt haben.

Wenn es noch dieser äußersten Befleckung bedurft hätte, so ist das Wort „Reich“ jetzt völlig diskreditiert. Es ist das Lieblingswort einer gewissen- und bedenkenlosen Sippe gewesen, die seine weihrauchduftende Mittelalterlichkeit, seine falsche Inbrunst, seine von der Romantik alter Papptürme umwitterte und vom Glanz der Abendsonne vergoldete Kulissenpoesie, seinen zeremoniellen, aus Rittertum, Minneliedern, Turnierordnungen, Lanzen, Fahnen und Schabracken gemischten Pomp — kurz den ganzen germanisch getünchten Gefühlsinhalt benutzte, um entweder ihre schäbigen Personalinteressen oder ihre Verrücktheit damit zu decken. Adolf Hitler im Ornat Karls V. — das war das „Reich“. Das Reich, in dem die Sonne nicht untergehen sollte. Es ruhe in dem Frieden, den wir zusammen mit der übrigen Welt stiften wollen.

„Nun, wenn der Purpur fällt, muß auch der Herzog nach“, sagt Schillers Verrina, während er Fiesko ins Meer stürzt. Mit dem purpurnen Mantel, in diesem Falle dem Ausdruck „Reich“, kann es nicht sein Bewenden haben. Der Herzog, in diesem Falle der staatsrechtliche Körper, muß nach. So, wie unser Vaterland niemals mehr „Deutsches Reich“ heißen darf, so wie wir die klare und saubere, eine wirkliche Abrechnung und Abkehr enthaltende, einen wirklich neuen historischen Abschnitt einleitende Bezeichnung Republik Deutschland fordern, so fordern wir das Gefüge eines Staatenbundes, in dem die deutschen Länder größere Selbständigkeit und Bedeutung haben als je zuvor. Damit wird für die Zukunft nicht nur die gefährliche gesamtdeutsche Aggressivität, sondern auch jeder Anlaß zu zänkischem Partikularismus, der immer aus Angst vor Unterdrückung entsteht, zerschlagen.

Als letzthin zum ersten Male in unserem Blatte von der schon merklich angebahnten Entwicklung zu einem solchen Föderativsystem gesprochen wurde, nahm eine der parteigebundenen Berliner Zeitungen Anstoß daran. Es schien ihr verfrüht, „Strukturfragen des kommenden deutschen Staates zu erörtern“. Fast am gleichen Tage lasen wir in der „New York Times“: „Mit dem Prozeß der Demokratisierung Deutschlands kann nicht früh genug begonnen werden.“ Zur Vorbereitung dieses Prozesses gehört es, das Denken des deutschen Volkes in staatsrechtliche Bahnen zu lenken, auf denen die Gegengewichte gegen anmaßendes Preußentum am ehesten erkennbar und wirksam sind. Das parteigebundene Berliner Blatt meint demgegenüber, der Nationalsozialismus sei mangels einer starken Zentralgewalt gerade über die Länder zur Macht gelangt. Aber dieser Hinweis entbehrt der Logik. Wir wissen natürlich, daß es auch süddeutsche „Preußen“ gibt, und daß sie noch schlimmer als die norddeutschen sind. Die Kahr, Hitler e tutti quanti haben es hinreichend gelehrt. Die Zusammenfassung zu größeren Staatsgebilden, wie sie jetzt durch Eisenhower in Hessen, Baden und Württemberg geschah, wird indessen ganz andere Perspektiven eröffnen. Nicht die Existenz der Länder an sich, sondern ein antiquiertes Duodezstaatentum, an dem der November 1918 nicht rüttelte, weil so viele Parteifunktionäre auf eben so viele Posten zu setzen waren, ernährte den „unbekannten Soldaten“, der sich in München als Straßenredner zu den ihre partikularistische Suppe kochenden Eckenstehern gesellte.

Wir verstehen, daß es für eine Partei mit alter Schablone nicht leicht ist, neue Notwendigkeiten zu erkennen. Sie denkt und baut noch immerfort von oben nach unten, statt von unten nach oben. Aber wie auch die deutsche Verfassung einmal aussehen wird, keinesfalls wird sie von einem zentralen Parlament den Ländern oktroyiert werden. Nicht wird Berlin die Politik der Länder, sondern die Länder werden die Politik Berlins bestimmen. Vielleicht wird hierbei einmal Süddeutschland führend sein. Eine künftige deutsche Verfassung wird auf der Grundlage der Länderverfassungen beruhen, und lange bevor ein Zentralparlament gewählt werden kann, müssen die Länderparlamente sich in ihren demokratischen Funktionen bewährt und gefestigt haben.

Erik Reger (1893 - 1954). Am 27. September 1945 gründete der Schriftsteller und Journalist mit Walther Karsch und Edwin Redslob den Tagesspiegel. Als Chefredakteur war er der geistige Kopf der Zeitung, die die freiheitlich-demokratische Pressekultur West-Berlins prägte. Für seinen Roman „Union der festen Hand“, in dem er die Kooperation der deutschen Industrie mit den Nazis beschreibt, hatte Erik Reger 1931 den Kleist-Preis erhalten.

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