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Rot, weiß, blau. In Simferopol feierten Bürger den Jahrestag der Annexion mit Flaggen in den russischen Nationalfarben.

© Maxim Shemetov/Reuters

Auf der Krim: Gewinner und Verlierer, ein Jahr nach der Annexion

Ihr Vater ist Russe, ihre Mutter Ukrainerin. Und sie? Seit Putin vor einem Jahr die Krim annektierte, ist Anna Iwanowa sich dessen nicht mehr sicher. Auch nicht, ob sie bleiben will. An einem Ort, an dem zunehmend die Herkunft darüber entscheidet, wer Gewinner und wer Verlierer ist.

Im zentralen Polizeigebäude in Simferopol, in einem geräumigen Büro, sitzt Maria Denisowa. Die Fingernägel der blonden Frau Mitte 30 glänzen orange, ihre Lippen blass rosa. Gelegentlich klingelt ihr iPhone. Ihr richtiger Name soll nicht erwähnt werden, denn ein offizielles Interview hätte sie erst mit der Presseabteilung der Polizei in Moskau absprechen müssen. Aber sie will trotzdem erzählen, so begeistert ist sie von ihrer neuen Krim.

Im neuen Simferopol sind die Restaurants mit russischen Flaggen dekoriert, die Werbetafeln zeigen Bären und alte Sowjet-Motive. Ein Jahr, nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin am 18. März 2014 erklärte, die Krim solle fortan wieder zur russischen Föderation gehören, ist Ukrainisch aus den Neon- Schriftzügen über den Geschäften und aus den Schaufenstern auf der Halbinsel verschwunden.

Nach dem Referendum seien die Straßen in ihrem Viertel voller Menschen gewesen, erzählt Maria Denisowa. „Rossija, Rossija“ hätten ihre Nachbarn begeistert gerufen, abends explodierte über den Häusern ein Feuerwerk.

Wie geht es den Bewohnern der Krim, ein Jahr nach der Annexion? Die Antwort auf die Frage ist nicht nur an die politischen Überzeugungen der Menschen geknüpft, sondern auch an ihre ethnische Zugehörigkeit. Mehr als zwei Millionen Menschen leben auf der Krim, unter ihnen eine Million Russen, 500.000 Ukrainer, 300.000 Krimtataren sowie Armenier, Polen oder Moldauer.

Sie sah sich schon immer als Russin

Denisowa sah sich schon immer als Russin. Als die Krim noch zur Ukraine gehörte, verdiente sie monatlich 3000 Hrywnja, umgerechnet etwa 300 Euro, sagt sie. Ihre Eltern und die Eltern ihres Mannes mussten ihrer jungen Familie helfen, über die Runden zu kommen. Weil es nicht so aussah, als ob sich bald etwas ändern würde, überlegten Maria Denisowa und ihr Mann sogar, nach Europa auszuwandern. Vielleicht nach Deutschland, wo sie als Kind fünf Jahre mit ihrer Familie gelebt hatte. Ihr Vater war in einer Kaserne der Sowjetarmee stationiert gewesen, nicht weit von Berlin. Sie spricht sogar noch ein bisschen Deutsch.

Nach der Annexion jedoch warf das Paar die Pläne über den Haufen. Maria Denisowa findet es gut, dass die Krim nicht mit der Ukraine näher an Europa rückt. Sie will auch privat nicht mehr in den Westen. Auf einer Fortbildung in Moskau sei allen Beamten empfohlen worden, die Ferien lieber in Russland zu verbringen.

Nach der Annexion, sagt Denisowa, seien alle Mitarbeiter der Behörde rausgeflogen, die es nicht verdient hätten, dort zu arbeiten: die Korrupten und Faulen. „Unter Russland gibt es so etwas nicht.“ Ihrer Familie jedoch geht es nun besser als je zuvor. Wie hoch ihr Gehalt mittlerweile ist, will sie nicht verraten, nur dass es jetzt, gemeinsam mit dem Verdienst ihres Mannes, „gut reicht“.

Hausdurchsuchungen und Schikane: Das Leben der Tataren

Rot, weiß, blau. In Simferopol feierten Bürger den Jahrestag der Annexion mit Flaggen in den russischen Nationalfarben.
Rot, weiß, blau. In Simferopol feierten Bürger den Jahrestag der Annexion mit Flaggen in den russischen Nationalfarben.

© Maxim Shemetov/Reuters

Will man die Bevölkerung der Krim aufteilen in Gewinner und Verlierer der Annexion, so sitzt hier bei der Polizei in Simferopol eine Gewinnerin.

Die Verlierer wohnen in Bachtschissaraj, etwa 30 Kilometer von Simferopol entfernt. Hier wehen keine russischen Fahnen. Stattdessen haben Taxifahrer die blau-gelbe Flagge der Krimtataren an ihre Rückspiegel geheftet.

Seitdem die Halbinsel russisch ist, stehen die Tataren in Opposition zum neuen Herrscher, Sergei Aksjonow. Die Polizei geht hart gegen die tatarische Minderheit vor: Etliche Moscheen und Bibliotheken wurden nach Büchern durchsucht, die auf der Krim nun verboten sind. Die Biografie von Tataren-Führer Mustafa Dschemilew „Die Stimme der Krimtataren, die für Jahrzehnte nicht gehört wurde“, ist zum Beispiel so ein verbotenes Buch. Oder die 12 Bände „Ukrainischer Genozid, Holodomor 1932–33“, die den Massenmord des Systems Stalin an Ukrainern beschreiben. Weil diese verbotenen Bücher in ihren Beständen gefunden wurden, musste im Januar 2015 die Direktorin der Bibliothek von Feodosia eine Geldstrafe zahlen.

Außerdem finden oft Hausdurchsuchungen bei tatarischen Familien statt. Die Begründung der Polizei: Suche nach Drogen oder Verdacht des Extremismus. Viele der Razzien gelten jedoch als politisch motiviert. Krimtataren wurden inhaftiert, manche verschwanden und sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Oft ist bei den Festnahmen nicht klar, von welcher Organisation die bewaffneten Männer kommen: Polizei, Geheimdienst oder prorussische Miliz. Der tatarische Aktivist Reschat Achmetow etwa wurde am 3. März 2014 von Männern in Camouflage-Uniformen in Simferopol festgenommen. Knapp zwei Wochen später wurde seine Leiche gefunden. Der Fall ist bis jetzt nicht aufgeklärt, die russischen Behörden verweigern den Anwälten der Familie die Akteneinsicht.

Etwas abseits des Zentrums und der Sehenswürdigkeiten von Bachtschyssaraj steht Ali Hamzins Haus. Das Grundstück liegt hinter einer zwei Meter hohen Betonmauer und einem grauen Tor aus rostigem Stahl, mit nur einem Schlitz für Briefe. Hohe Mauern und Zäune sind auf der Krim nichts Ungewöhnliches. Doch vor den Gefahren schützt all dies nicht: Am 15. Mai 2014 wurde Ali Hamzins Haus auf Befehl des russischen Geheimdienstes FSB durchsucht.

Seit der Annexion ist er die Zielscheibe der neuen Regierung

Hamzin, 57 Jahre alt, erzählt davon in der großen Küche, in der er sitzt und selbst eingelegte Tomaten, Kartoffeln und gegarten Fisch isst. Neben ihn spielt sein dreijähriger Neffe. Hamzin, der wirkt wie ein gemütlicher Familienvater, leitet die Außenbeziehungen des Medschlis, des tatarischen Parlaments. Das macht ihn seit der Annexion qua Amt zur Zielscheibe der neuen Regierung.

Am Morgen des 15. Mai 2014 hätten plötzlich 14 Polizisten mit einem Durchsuchungsbefehl vor dem grauen Stahltor zu seinem Grundstück gestanden. Zwei gepanzerte Wagen einer Spezialeinheit blockierten die Straße in beide Richtungen. Hamzin selbst war an diesem Tag in Kiew, wo er ein Treffen zwischen Mustafa Dschemiliew, dem Führer des Medschlis, und dem damaligen EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik, Štefan Füle, vorbereitete.

Seiner Frau sei ein Durchsuchungsbefehl vorgelesen worden. Man müsse im Haus nach Sprengstoff, Waffen und Gegenständen suchen, die im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten stehen könnten. Stundenlang hätten die Männer daraufhin den Besitz der Familie durchwühlt. Gefunden hätten die Männer nichts.

Ali Hamzin hat gegen die Durchsuchung geklagt. In einer Vernehmung zu dem Verfahren erfuhr er, diese sei angeordnet worden, weil Verdächtige seine Visitenkarte bei sich getragen hätten.

In seinem Arbeitszimmer zeigt er Bilder von einer Demonstration einiger hundert Krimtataren vor dem Kreml in Moskau. Es sind Schwarz-Weiß-Bilder von 1987, er selbst ist darauf als junger Mann zu sehen. „Gebt den Krimtataren ihre Heimat zurück“, steht auf Schildern, die sie in den Händen halten. Auf Plakaten ist Lenin zu sehen, auf anderen Chruschtschow. Damals, scheint es, waren die Tataren freier als heute. Jetzt wäre eine solche Demonstration, noch dazu vor dem Kreml, undenkbar. Selbst am 18. Mai 2014, dem Tag, an dem sich die von Stalin veranlasste Deportation der Krimtataren nach Sibirien, Zentralasien und in den Ural zum 70. Mal jährte, durften die Menschen sich nicht auf zentralen Plätzen in Simferopol versammeln, sondern nur in Seitenstraßen.

Die Jobs werden abgezogen: Die Situation der Jugend

Rot, weiß, blau. In Simferopol feierten Bürger den Jahrestag der Annexion mit Flaggen in den russischen Nationalfarben.
Rot, weiß, blau. In Simferopol feierten Bürger den Jahrestag der Annexion mit Flaggen in den russischen Nationalfarben.

© Maxim Shemetov/Reuters

Südwestlich von Bachtschyssaraj, vielleicht 50 Kilometer entfernt und an der Küste, liegt Sewastopol. Schon aus dem Bus sind die U-Boote im dunklen Wasser zu sehen. Der Hafen dient seit Jahrzehnten der russischen Schwarzmeer-Flotte.

Als Anna Iwanowa vor 32 Jahren in Sewastopol geboren wurde, durfte man nur mit einem Passierschein in die Stadt. Um in die Nähe der sowjetischen Flotte zu kommen, bedurfte es guter Gründe. Eine Bucht der Stadt, Balaklawa, war bis in die 1980er eins der bestgehütetsten Militärgeheimnisse der Sowjetunion. Stalin hatte hier einen Atombunker für U-Boote bauen lassen.

Sewastopol ist wohl die russischste Stadt der Krim. Als Anna Iwanowa hier in die Schule gegangen ist, übten Schüler und Lehrer noch mit Gasmasken für den Notfall – einen Angriff des Westens auf Sewastopol. Von den Problemen der Tataren weiß Anna wenig. Russische Medien berichten nicht darüber. Unter den Spaziergängern auf der Uferpromenade ist sie leicht zu erkennen. Nur wenige Frauen laufen hier mit Jeans und in Turnschuhen herum. Als die Krim russisch wurde, war Anna Iwanowa gerade im Sinai tauchen. Einreisen konnte sie danach mit ihrem ukrainischen Pass noch. Mittlerweile besitzt sie einen russischen. Denn jeder, der auf der Krim gemeldet war und keinen Einspruch erhob, bekam nach der Annexion automatisch einen solchen.

„Vor dem Referendum haben wir alle in einer seltsamen imaginären Welt gelebt“, sagt Iwanowa. „Hier in Sewastopol haben wir uns als Russen verstanden aber auf ukrainischem Land gelebt. Niemand wusste, was Russland wirklich ist.“ Die ukrainische Verwaltung ließ vor der Annexion stets das ukrainische und das russische Wort für Post auf die Briefkästen drucken. Den ukrainischen Begriff strich immer irgendjemand durch.

„All die Probleme des echten Russlands kamen uns nur wie ein entferntes Echo vor, das uns nicht beeinflusste. Es gab keinen Druck von ukrainischer Seite. Wir haben in Sewastopol Russisch gesprochen und uns als eine Stadt der alten ruhmreichen russischen Marine verstanden“, erzählt Anna Iwanowa. „Wir waren voller Stolz auf historische Ereignisse, die vor hunderten von Jahren passiert sind. Und uns schien nichts seltsam an dieser Situation. Das konnte nicht ewig so weitergehen“, sagt sie.

Die Mutter ist Ukrainerin, der Vater Russe

Ihre Mutter ist Ukrainerin, ihr Vater Russe. „Ich weiß selbst nicht, auf welcher Seite ich stehe“, sagt Iwanowa. „Aber jetzt gibt es keine Mitte mehr.“ Eigentlich ist sie kein politischer Mensch. Wer mehr Recht auf die Krim hat, die Ukraine oder Russland, kann sie auch nicht sagen. Aber die Art und Weise, wie die Krim übernommen wurde, die sei sicher nicht rechtens gewesen.

Das es besser wäre, die Krim wäre Teil der Ukraine geblieben, hört man nicht oft in Sewastopol. Sei es, weil man für diesen Satz nach russischem Gesetz juristisch belangt werden kann oder weil tatsächlich wenige so denken. Dass die Annexion nicht rechtens war, sagen jedoch viele, gerade Jüngere. „Wenn du jemanden triffst, ist das Erste was du herausfinden musst, was er über die Annexion denkt. Dann kann man weiterreden oder man lässt es“, sagt Anna Iwanowa.

Die junge Frau ist auf der anderen Seite der Bucht aufgewachsen, neben einer Fabrik, in der früher Bauteile für Computer produziert wurden. Die Lenin-Gedenktafel an einer Säule vor der Fabrik hat jemand abmontiert. Seit ihrer Kindheit verfielen alle Gebäude, sagt sie. Nicht einmal die Straßen seien ausgebessert worden. Die Auflösung der Sowjetunion habe nichts daran geändert. Die Annexion durch Russland auch nicht.

Statt darauf zu warten, dass die Infrastruktur der Halbinsel sich verbessert, hat sich Anna Iwanowas Generation einen anderen Weg gesucht: Viele arbeiteten im Software-Bereich, etliche westliche Firmen ließen ihre Apps und Programme auf der Krim schreiben. Programmieren kann man sich selbst beibringen und für die Arbeit braucht es keine funktionierende staatliche Struktur, nur Internet und einen Computer. Iwanowa selbst ist freie Illustratorin und hilft mit bei der hiesigen Entwicklung von Apps.

Kreditkarten funktionieren nicht mehr

Allerdings funktionieren dank internationaler Sanktionen Mastercard und Visa auf der Krim nicht mehr, ein Unternehmen kann freien Programmierern kein Geld mehr aus den USA oder Deutschland schicken, ohne selbst ein Konto in Russland zu eröffnen. Western Union, PayPal, Ebay – nichts geht mehr. Dazu schließen westliche Firmen ihre Ableger auf der Halbinsel, in denen zuvor ukrainische Programmierer beschäftigt waren. Nicht zuletzt, weil nicht abzusehen ist, welche Geschäfte und Gebäude in Zukunft noch von der neuen Regierung beschlagnahmt werden. Apple zum Beispiel hat alle Verträge mit Entwicklern auf der Krim aufgelöst.

Die erste Frage in Anna Iwanowas Freundeskreis ist daher nicht unbedingt, zu wem die Krim oder Sewastopol gehören. Sondern – ob man selbst überhaupt auf die Krim gehört, jetzt wo die Perspektiven noch schlechter geworden sind. Anstatt ,Wie geht's dir’, fragen sich die Leute hier: ,Bleibst du oder gehst du?’“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Jan Vollmer

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