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Hannelore Kraft, NRW-Ministerpräsidentin und SPD-Vize, bei Anne Will zu Gast.

© Anne Will

ARD-Talk zur Rente: Anne Will hat die harte Probe nicht bestanden

Nicht Böhmermann? Dafür Rente? Diese Entscheidung von Anne Will war richtig. Nur die Umsetzung ließ zu wünschen übrig.

Oha, da haben die ARD-Gesprächsrunden die Böhmermann-Affäre aber früh aus dem Rennen genommen. Weder der „Presseclub“ noch „Anne Will“ hatten das Thema am Sonntag auf der Agenda, dafür beide die Rente mit/ohne Zukunft. Zu früh? Bei Böhmermann gibt es ja unverändert Redebedarf, solange das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Anne Will hat sich gegen das Thema entschieden, das populär, insofern auch populistisch ist, als jeder mitreden kann und mitreden zu können glaubt. Ein Ja-oder-Nein-Thema halt. Tapfer von der Moderatorin, sich für die Rente zu entscheiden. Oder clever, weil hinter der Rente schon wieder der Böhmermann lauert?

Es darf ja der Verdacht aufkommen, dass die Sozialdemokraten mit der „Entdeckung“ des Renten-Themas heimlich/unheimlich das unternehmen, was als Verdacht auch hinter der Merkeliade steht. Die Kanzlerin also lässt die Strafverfolgung beim ZDF-Satiriker zu, um den Flüchtlingsdeal mit der Türkei nicht zu gefährden, während die SPD aus Furcht vor weiter fallenden Sympathiewerten ein Thema in die Öffentlichkeit schiebt, von dem sie annimmt, dass es Gabriel & Co Wählerbonus bringt.

Die Redaktion von „Anne Will“ jedenfalls hat den außer Rand und Band geratenen Hype um die Schmähsatire glatt kleingedacht und stattdessen das Thema „Heute kleiner Lohn, morgen Altersarmut – Versagt der Sozialstaat?“ für 4,05 Millionen Zuschauer großgemacht. Die Frage betrifft sehr viel mehr Menschen in Deutschland, und zwar nicht nur meinungsmäßig, sondern im täglichen Leben, im Alter.

Verirrung und Verwirrung in der Talkshow

Der Themenaufriss war gewaltig. 2030 soll fast jede zweite gesetzliche Rente nur noch knapp für ein Leben über dem Sozialhilfeniveau liegen. Stimmt diese Projektion? Die vom NDR beschäftigte und bezahlte Moderatorin Will wies gleich darauf hin, dass die Zahl aus einer WDR-Studie stamme. Das halbe Dementi  wollte „FAS“-Wirtschaftsredakteur Rainer Hank zu einem ganzen machen, als er die Zahl „falsch“ nannte. Der Zuschauer wurde schon hier ins Ungewisse seiner eigenen Zukunft geführt, es sollte nicht die einzige Verirrung  und Verwirrung dieser Talkshow bleiben.

Als lebender „Realitätscheck“ saß Susanne Neumann, Putzfrau und Vorsitzende des IG BAU-Bezirksverbandes Emscher-Lippe-Aa, im Studio. Sie wird nach eigener Aussage mit 66 Jahren eine Rente von monatlich 735 Euro ausbezahlt bekommen. An dieser Zahl konnte und wollte keiner der anderen Gäste vorbeikommen. Hannelore Kraft, SPD-Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, erkannte „Handlungsbedarf“ bei den drei Säulen der Rentensicherung – gesetzliche und betriebliche Rente sowie private Vorsorge via Riester-Vertrag. Da hakte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ein, als er streng postulierte: „Riester ist gescheitert“. Mehr noch: Bei den Löhnen geht die Schere immer weiter auseinander, nicht anders bei der Vermögensverteilung. Deutschland stellt sich in Fratzschers Sicht als eines der „ungleichsten Länder“ in der Welt dar.

Anne Will hat die Probe nicht bestanden

Es fehlte in den 60 Minuten wahrlich nicht an großen Themen und Thesen, volkswirtschaftliches Proseminar wurde Hauptseminar. Eine harte Probe für die zuschauerträchtigste Talkshow im deutschen Fernsehen – und eine wahre Herausforderung für die Moderatorin. Anne Will hat sie am Sonntagabend nicht bestanden. Erst ließ sie es zu, dass sich Hubertus Porschen, Vorsitzender des Verbands „Die Jungen Unternehmer“, und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ein minutenlanges Wortgefecht über NRW-Innenpolitik lieferten, dann forderte sie Kraft wie Hank auf, ihre Biographien – Arbeiterkind schafft es aufs Gymnasium – zu erzählen. Minijobs, prekäre Beschäftigung, Bildungschancen, fehlte ein Stichwort? Was fehlte, das war der Willen und das Vermögen der Moderatorin, Leitbegriffe und Leitsätze mit dem Leitthema der Sendung wenigstens zu vernetzen.

Für die Profis, also Kraft, Fratzscher und Hank (Porschen war zu sehr Sprechblase), mag das alles funktioniert haben, für die Amateure im Publikum und damit für die Mehrheit der Zuschauer war diese vom „Hölzchen-aufs-Stöckchen“-Debatte (ein Will-Wort) bestimmt Zeitverschwendung. Wenn Wahrheit und Wirklichkeit konkret sind, dann war der Talk unkonkret, unkonzentriert, knapp vor überflüssig.

Auch Böhmermänner werden alt

Susanne Neumann war bei der Verakademisierung und Entstofflichung des eigentlichen Themas  immer stiller und kleiner geworden. Ihr Ausruf „Jetzt kommen wir mal wieder auf den Punkt. Arm im Alter – das ist ungerecht“  klang wie ein Weckruf und nach Verzweiflung. So, als wäre ihr Schicksal nur benutzt worden. Von der Sendung, von der Moderatorin, von der Runde. Talkfernsehen, und das zeigte diese Ausgabe von „Anne Will“ überdeutlich, muss sich immer mit der Realität rückkoppeln, sonst ist das Talkfernsehen nur – Eliten-Fernsehen. Wo Nicht-Betroffene über Betroffene reden und für Betroffene reden.

Also doch Böhmermann? Bloß nicht. Böhmermann ist ein Ausschnitt vom Ausschnitt von den Satireumständen in Deutschland, Altersarmut betrifft das Leben im Zentrum von Deutschland. Und niemals vergessen: Auch Böhmermänner kommen ins Rentenalter.

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