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Im Handyvideo festgehalten: Die voreilige Festnahme von Hakim Khaled (Shadi Eck, links) bringt Kommissarin Bönisch (Anna Schudt) einen ausgewachsenen Internet-Shitstorm wegen angeblich rechter Gesinnung und eine Beurlaubung ein.

© WDR/Martin Menke

Der „Tatort“ aus Dortmund: Nazi über Nacht?

Der Dortmunder „Tatort“ greift die aktuelle Kritik an der Polizei auf. Kommissar Faber leidet derweil unter Herzschmerz.

„Heile Welt“ im „Tatort“? Gott bewahre. Dann gäbe es ja keinen spannenden Krimi zu erzählen. Das Unheilvolle, das die aktuelle Folge aus Dortmund also heraufbeschwört, ist einerseits sehr zeitgemäß, andererseits nichts Neues. Mark Twain wusste schon vor mehr als 100 Jahren: „Eine Lüge ist dreimal um die Welt gelaufen, ehe sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Und das Rennen ist ja im Internet-Zeitalter nicht unbedingt ausgeglichener geworden.

In „Heile Welt“ zitiert Kommissar Faber (Jörg Hartmann) den 1910 gestorbenen US-Schriftsteller, aber die Beurlaubung seiner Kollegin Bönisch (Anna Schudt) kann er nicht verhindern. Sie ist bei den Ermittlungen nach dem gewaltsamen Tod einer jungen Frau in einen Shitstorm und zwischen alle Stühle geraten. Die Hetzer leisten ganze Arbeit, bis es zur offenen Konfrontation kommt.

In der Inszenierung von Regisseur Sebastian Ko („Wir Monster“) und Kameramann Philipp Kirsamer („Oh Boy“) haben die Unruhen eine eigene, surreale Ästhetik. Mit dem Ausbruch der Gewalt beginnt ein anarchischer Tanz. Die aufgebrachten Menschen, die von Lichtblitzen erhellt durch den Nebel hasten, sind nur noch gesichtslose Schatten – auch wegen der Corona-Masken.

[„Tatort – Heile Welt“; ARD, Sonntag, 20 Uhr 15]

Der aufwühlende Fall, bei dem die Österreicherin Stefanie Reinsperger nach dem Abgang von Aylin Tezel ihren vielversprechenden Einstand im vierköpfigen Dortmunder Team feiert, hat in guter, alter „Tatort“-Tradition gleich mehrere aktuelle Bezüge. So waren zuletzt mehrere Chats aufgetaucht, in denen Polizisten rechtsextreme Inhalte teilten. Und auch in Deutschland berichten Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe von „racial profiling“, also davon, dass sie häufiger und schärfer kontrolliert werden. Zugleich wird das aggressive Verhalten, das den Polizistinnen und Polizisten auf der Straße entgegenschlägt, nicht ausgeblendet. Nebenbei geht es um Flucht und Integration, Drogenkriminalität und Armut. Und natürlich um die Dynamik des Informationszeitalters, in dem alles beschleunigt wird, auch die Brandsätze.

Kommissarin Boenisch zwischen allen Stühlen

Die zornige Bönisch hatte womöglich voreilig Hakim Khaled (Shadi Eck), einen jungen Mann aus einer vor dem IS geflüchteten Familie aus dem Irak, verhaftet. Das von Hakims Freunden gedrehte Video verbreitet sich in den sozialen Netzwerken und wird auch von der Bloggerin Annika Freytag (Jaëla Probst) aufgegriffen. Die Überschrift ihres Artikels lautet: „Polizistin, offen rechts“. Denn es gibt da noch das trügerische Bilddokument einer Begegnung Bönischs mit dem rechtspopulistischen Politiker Nils Jacob (Franz Pätzold). Außerdem kann die Bloggerin auf einen alten Fall verweisen: In der vor sechs Jahren ausgestrahlten Folge „Hydra“ flog ein Polizist als Informant der Neonazi- Szene auf. Ratskandidat Jacob nutzt die Vorwürfe gegen die Kommissarin, um gegen Einwanderer und Polizei-Kritik zu agitieren. Bönisch wird zur Hassfigur der Linken und zur Heldin der Rechten. „Nazi über Nacht, das ist doch absurd“, sagt sie verzweifelt.

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Die neue Kollegin Rosa Herzog gerät nach einem Gespräch mit der Bloggerin ins Grübeln. „Guckt ihr auch mal weg?“, fragt sie misstrauisch und macht sich mit ihrer Kritik an Bönisch im Team gleich mal unbeliebt. Darstellerin Stefanie Reinsperger, die in den vergangenen Jahren im Wiener Volkstheater und im Berliner Ensemble, aber auch in den ORF-Landkrimis und in der Titelrolle der Miniserie „Maria Theresia“ so richtig durchgestartet ist, hat allemal die Power, um sich in der spannungsreichen Dortmunder Arbeitsatmosphäre zu behaupten. Dort schleppt jede und jeder Probleme mit sich herum, nun auch Rosa Herzog, die intelligent und durchsetzungsstark, im Einsatz aber nervös und kurzatmig zu sein scheint. Wenn es brenzlig wird, fuchtelt sie gerne mit der Waffe herum, weshalb es ganz gut ist, dass Kollege Jan Pawlak (Rick Okon) trotz privater Sorgen Besonnenheit an den Tag legt.

Und der durch den Verlust seiner Familie traumatisierte Faber? Fährt neuerdings auf die 1980er Jahre ab, mit einem Opel Manta GSI, in dem es nach „nassem Hund“ (Bönisch) riecht, und dem Sommerhit „Sunshine Reggae“ aus dem Kassettenrekorder. Dass Bönisch einen neuen Freund hat, gefällt ihm weniger. Faber hat Liebeskummer, und Jörg Hartmann spielt das still leidend, aber auch ein bisschen tragikomisch.

Der Mordfall wird übrigens auch aufgeklärt. Aber in eine „heile Welt“ verwandelt sich Dortmund gewiss nicht.

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