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Medien: Gesundheitspanik: Wo Plastikenten töten

Vor vielen Jahren, es muss Anfang der Siebziger gewesen sein, gab es im Norddeutschen Rundfunk eine fantastische Radio-Serie. Sie lief einmal in der Woche abends, und für die meisten Kinder hatte sie Kultstatus.

Vor vielen Jahren, es muss Anfang der Siebziger gewesen sein, gab es im Norddeutschen Rundfunk eine fantastische Radio-Serie. Sie lief einmal in der Woche abends, und für die meisten Kinder hatte sie Kultstatus. Unsichtbare Wesen von einem fremden Planeten waren auf der Erde gelandet. Ihr eigener Planet war zerstört worden. Deshalb mussten sie nun auskundschaften, ob es sich unter den Menschen leben lässt. Die Wesen waren neugierig, lieb und sprachen perfekt Deutsch. Ihre Berichte - ob aus dem Klassenzimmer, dem Straßenverkehr oder der Oper - wurden live in das Raumschiff überspielt.

Die Wesen hatten den fremden Blick. In der Oper zum Beispiel fürchteten sie sich. Die Musikinstrumente deuteten sie als gefährliche Waffen, der Dirigent war ein fieser General in schwarzer Uniform, und als die Zuhörer am Ende jubelten, sahen sie darin kriegerische Drohgebärden. Die Kinder, die diese Serie verfolgten, wollten später Astronaut oder Entdecker werden. Sie waren der Faszination des fremden Blickes erlegen, dessen oberste Regel lautet: Alles lässt sich auch anders verstehen.

"Eine Schüssel Cornflakes kann dich töten - ganz zu schweigen von einem Schinkenbrötchen oder einem T-Bone-Steak. Eine Impfung kann dich töten, in der Touristenklasse zu fliegen, kann dich töten, die Plastikente in der Badewanne kann dich töten, und dein Handy kann dich töten." Das sind die ersten Sätze eines großen Artikels, den die "Washington Post" jüngst auf ihrer ersten Seite druckte. Fast jede Woche würden sich die Europäer von einer Gesundheitspanik in die nächste stürzen. Allerdings macht sich der Autor nicht so sehr lustig über die Europäer, als dass er versucht, sie zu verstehen. Besorgnis klingt mit, keine Ironie. Aber er hat den fremden Blick. Weil die Hysterie von der Wissenschaft nicht gestützt werde, müsse sie andere Gründe haben.

Einer dieser Gründe könnte in dem allgemeinen Glaubensverfall liegen. Nur noch eine Minderheit der Europäer gehe regelmäßig in die Kirche, stellt der Autor fest. Als zweites könnte ein latenter Anti-Amerikanismus verantwortlich sein. Vieles Böse, von technologischen Neuerungen bis zu genetisch veränderten Lebensmitteln, werde in Europa mit den USA assoziiert. Als drittes wird Günter Grass zitiert. Die europäische Antwort auf den wissenschaftlichen Fortschritt sei die Melancholie, soll dieser gesagt haben. Und schließlich wird, in einem gewissen Widerspruch zur ersten These, der Einfluss des Papstes angeführt. Johannes Paul II. würde sich zunehmend technologiekritisch äußern.

Abschließend ließe sich das Phänomen jedoch nicht erklären. Im Wesentlichen wird den amerikanischen Lesern die europäische "Kultur der Angst" als ein Mysterium präsentiert. Unfassbar sei es, dass "von diesem Kontinent die Industrielle Revolution ausging, die Quantenphysik und die moderne Genetik". Schließlich hätten die Europäer auch Dolly geklont und Viagra erfunden, schreibt der Autor. Er hat den fremden Blick. Das Raumschiff Amerika wartet auf weitere Berichte von diesem seltsamen Planeten.

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