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Herr Direktor! Arthur (Alexander Scheer) und Ilsa (Valery Tscheplanowa).

© RTL+

Kaufhaus-Serie bei RTL+: Expressionistischer Realismus im Kollwitzkiez

„Das Haus der Träume“ lässt das berühmte Kredit-Kaufhaus Jonass wieder auferstehen.

Die Verantwortlichen massenwirksamer Primetime-Produkte haben ein Personalproblem. Sobald populäre Gesichter am Bildschirm auftauchen, ahnt das aufmerksame Publikum früh: Die werden noch wichtig! Mindestens Opfer, meist Täter, zu wiedererkennbar für Überraschungseffekte. Umso erstaunlicher, dass Serien und Filme aller Sparten trotzdem voll von Prominenten sind, die der Handlung einiges an Spannung nehmen. Was noch mehr verblüfft? Wenn es Unbekannte sind!

Oder kennt hier jemand Naemie Florez und Amy Benkenstein? Irgendwer schon mal von Ludwig Simon oder Paul Zichner gehört? Und wem sind Nina Kunzendorf oder Alexander Scheer Begriffe? Ach ja – nahezu allen, die fernsehen. Das war’s aber auch schon beinahe mit arrivierten Stars einer vorerst sechsteiligen Geschichtsserie bei RTL+, der Lisa Stutzky den kompletten Cast komponieren durfte. „Ich besetze stets alle Personen, die auch nur ein einziges Wort sagen“, sagt die Castingdirektorin, „und sei es ein Hey am Straßenrand.“

Im „Haus der Träume“ allerdings sagen rund 200 Charaktere irgendwann irgendwo irgendetwas im, am, ums Berliner Kaufhaus „Jonass“ herum, das Regisseurin Sherry Hormann knapp 100 Jahre nach seiner Eröffnung fiktional wiederauferstehen lässt. Einige davon wie Alexander Scheer als Direktor Grünberg haben mehr Text, andere wie dessen noble Frau Alice (Nina Kunzendorf) weniger. Am meisten haben allerdings die Rookies oben auf der Besetzungsliste zu besprechen. Und das ist auch gut so.

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Die Theaterschauspielerin Naemie Florez zum Beispiel hat kaum TV-Erfahrung, „füllt“ ihr abgerissenes Landei Vicky, das im wogenden Berlin der Roaring Twenties ihr Glück sucht und zumindest kurzfristig beim Sozialrevolutionär Grünberg findet, als stehe sie von Kindesbeinen an vor Kameras. Auch ihre Bühnenkollegin Amy Benkenstein fiel bislang nur durch Nebenrollen belangloser Serien auf, verleiht Vickys Schicksalsgenossin Elsie eine Präsenz von funkensprühender Intensität.

Historytainment mit schonungsloser Authentizität

Mit dem unverbrauchten Ludwig Simon („Wir sind die Welle“) als lebensfrohem Jazzpianisten Harry bilden sie fortan ein seelenverwandtes Trio, das den steinigen Weg von Arthur Grünbergs allererstem Kreditkaufhaus durch die Wirren der Weltwirtschaftskrisen jener kulturell erblühenden Tage gemeinsam geht.

Und drum herum lässt RTL+ nach Drehbüchern der Headautorin Conni Lubek („Doktor Ballouz“) eine Welt wiederauferstehen, die ihre Gegenwart wie selten zuvor im Historytainment mit schonungsloser Authentizität garniert und dennoch expressionistischen Realismus versprüht.

Fast 30 Jahre nachdem Dieter Wedels „Der große Bellheim“ das Sujet zum Straßenfeger aufblähte, entwickeln sich Kaufhausserien nun offenbar zum eigenen Genre – eröffnet von „Eldorado KaDeWe“, das die wagemutige Julia von Heinz Ende 2021 zum Kuriositätenkabinett zeitgenössischer Großwetterlagen machte.

Im ARD-Konsumtempel fand schließlich alles Platz: obszöner Reichtum und obszönere Armut, politischer Radikalismus und sexuelle Liberalisierung, Kapitalismuskritik, Antikapitalismuskritik und mittendrin ein Cast von irritierender Nischenhaftigkeit, der nahezu vollständig auf Stars verzichtet.

So viele Freiheiten hatte Lisa Stutzky dann wohl doch nicht. „Größere Namen sind je nach Format, Sender, Sendeplatz mal mehr, mal weniger gewünscht“, erklärt die Besetzungsbeauftragte den Kompromissbedarf ihrer Branche. „Wobei auch sie durchs Casting gehen und sich beweisen müssen.“

Offenbar erfolgreich. Denn Alexander Scheers philanthropischer Kapitalist, der das Kapital (und die Toleranz) von Nina Kunzendorfs feingliedriger Firmenerbin mit vollen Händen verprasst, ist mindestens so kühn wie drei Dutzend Bühnentalente, denen RTL+ hier die Chance zu etwas ganz Großem am Bildschirm bietet.

Historische Unterhaltung nämlich, die endlich mal mehr wagt als konfektionierte Kulissen und Kostüme. Die das berühmte Kaufhaus im Kollwitzkiez zum Leben erweckt, ohne je museal zu wirken. Die das kleine Schicksal von nebenan bei aller geschichtlichen Bedeutung höher gewichtet als den heraufziehenden Nationalsozialismus, aber dennoch keinen Eskapismus betreibt. Die am Ende anders sein will und dadurch besser wird als all die überzuckerten Adlons, Charités, Friedrichstadtpaläste. „Das Haus der Träume“, sechs Folgen, RTL+

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