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Warum musste Dr. Kehrer sterben? Mads Andersen (Dar Salim), Linda Selb (Luise Wolfram, Mitte) und Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) suchen ein Motiv.

© dpa

Neuer „Tatort“ aus Bremen: Die traurigste Stunde

Wenn aus Liebe Hass wird: Der „Tatort“ aus Bremen behandelt einen Reigen aus Schicksalen.

„Irgendwann, irgendwie, irgendwo wirst du dich selbst finden. Dieser, und nur dieser Moment kann die glücklichste oder die traurigste Stunde deines Lebens sein. Wir müssen Einsamkeit, Isolation und Schweigen erfahren, um den verzauberten Ort zu erreichen, wo wir unseren kindlichen Tanz tanzen und unser sorgenvolles Lied singen können.“

Diese Sätze des chilenischen Schriftstellers Pablo Neruda fallen ziemlich am Ende dieses neuen „Tatorts“ aus Bremen, als jemand nicht mehr weiterweiß, auch nicht mehr weiterkann, als das Ende erreicht ist und diese Person sich in dem Moment wiederfindet, in dem sie überführt wird. Im Wechsel mit BKA-Kommissarin Linda Selb (Luise Wolfram) zitiert sie Neruda, Selb ergänzt die Sätze. Die glücklichste Stunde, zuvor noch heiß ersehnt, wird zur traurigsten („Tatort: Und immer gewinnt die Nacht“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15).

Ganz am Anfang wird im Hafen der Stadt spätabends ein Arzt brutal über den Haufen gefahren. Dr. Björn Kehrer (Markus Knüfken) ist ein Mensch, der hilft, wo auch immer er nur kann. Klingelt außerhalb der Praxisstunden das Mobiltelefon, ist er zur Stelle. Gilt es, einen namenlosen Obdachlosen zu reanimieren, ist er da.

Dr. Kehrer, so hat es ganz den Anschein, denkt nur und ausschließlich an das Gegenüber. Ein Altruist. Es gibt Menschen, die das gut finden, die dankbar sind. Und es gibt Menschen, die sich daran stören. Als Dr. Kehrer anderntags gefunden wird, Linda Selb und ihre Kollegin Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) am Tatort eintreffen, da stellen sie nicht nur fest, dass der Arzt überfahren wurde, nein, es wurde mit großer Brutalität zusätzlich auf ihn eingeschlagen.

Der von Regisseur Oliver Hirschbiegel („Der Untergang“) nach einem Drehbuch von Christian Jeltsch in Szene gesetzte ARD-Krimi trägt den beinahe poetischen Titel „Und immer gewinnt die Nacht“, und nicht selten hat es in diesem außergewöhnlichen, sehr eigenen und überaus sehenswerten neuen Stück aus Bremen, dem zweiten des neuen Teams, zu dem noch der aus Kopenhagen stammende Kommissar Mads Andersen (Dar Salim, bekannt aus der preisgekrönten dänischen Polit-Serie „Borgen“) gehört, durchaus den Anschein, als gewinne hier, wo es um Grundlegendes, Existenzielles des Menschseins geht, tatsächlich immer die Nacht.

Da liegt etwas drunter, da brodelt und gärt es

Das Personal dieses Films wird, einem Reigen gleich, in seinen kleinen biografischen Miniaturen elliptisch anerzählt, immer wieder öffnen und schließen sich die Kreise, immer wieder ist zu spüren: Da kommt noch was, da liegt etwas drunter, da brodelt und gärt es.

Sei es etwa die Arzthelferin des toten Dr. Kehrer, Kirsten Beck (Lisa Jopt), alleinerziehend, Mutter von drei Kindern und in ihren Chef heillos einseitig verliebt; seien es die beiden jungen Aktivistinnen Ann Gelsen (Anna Bachmann) und Vicky Aufhoven (Franziska von Harsdorf), die sich um den auf offener Straße zusammengebrochenen, zuvor von Kirsten Beck abgewiesenen und nunmehr im Koma liegenden Bruder von Ann, Hendrik (Ole Bramstedt), kümmern; oder sei es auch die Mutter von Vicky Aufhoven, Charlotte Aufhoven (Karoline Eichhorn), Chefin eines Familienunternehmens, das edle Kuba-Zigarren herstellt.

„Wir müssen Einsamkeit, Isolation und Schweigen erfahren.“ Sie alle kämpfen um etwas. Sie alle sind Liebende und wollen um ihrer selbst wegen geliebt werden. Sie alle haben, sei es direkt oder indirekt, mit der Causa um den brutal ermordeten Dr. Kehrer zu tun. Und genau dies ist auch die Qualität von „Und immer gewinnt die Nacht“: dass es nicht nur, wie zunächst anzunehmen sehr wahrscheinlich ist, um die rapide zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht, dass Dr. Kehrer vermutlich kein Opfer eines von Hass getriebenen Mobs geworden ist.

Nein, hier wird, in der Narration komplex angelegt und in Short-Cuts-Manier umgesetzt, eine Vielzahl von Schicksalen gezeichnet, Individuen, die um ihr Lebens- und Liebesglück bangen und zugleich ihre gesellschaftliche Aufgabe oder Pflicht wahrnehmen wollen oder müssen und beides nicht in Einklang zu bringen vermögen.

Es geht also nicht nur um das Scheitern im übergeordnet Großen, sondern um das im individuell Kleinen. Vor allem aber geht es um das Scheitern in der Liebe. Um den ebenso sensiblen wie fatalen Kippmoment auch, in dem aus Liebe Hass werden kann.

Es ist zu spät, als die Sätze von Pablo Neruda fallen, die Linda Selb, dieser ätherische, erratische, rotblonde Engel, auswendig um Satzteile ergänzt. Da ist der ehemals verzauberte Ort bereits erreicht, „wo wir unseren kindlichen Tanz tanzen und unser sorgenvolles Lied singen können“.

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