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Medien: Nuscheln aus Bescheidenheit

Gerd Ruge war wieder unterwegs, diesmal durch das Nachkriegs-Afghanistan. Seit zehn Jahren begibt sich der Reporter auf die Reise zu Alltagsmenschen

Eigentlich ist er seit zehn Jahren im Ruhestand, doch genauso lange ist der Grand Old Man des deutschen Fernsehens unterwegs durch China, Russland, Südafrika und den Balkan, um zu schauen, „wie es da ist“. Seine scheinbare Naivität, mit der er den Menschen in den hintersten Winkeln der Welt unaufgeregt das Mikrofon unter die Nase hält und freundlich fragt „Wie leben Sie?“, ermöglicht es dem mittlerweile 74-Jährigen, Geschichten, Gesichter und Details zu zeigen, die oft mehr über politische Zustände erzählen als lange Analysen.

So auch in Afghanistan, wo die Fronten zwischen den einzelnen Warlords sich täglich ändern können. Dort schlägt er in der ersten Folge der dreiteiligen Reportage, die am 14. April um 20 Uhr 15 in der ARD startet, sein Zelt in einem kleinen Dorf in Nordafghanistan auf, dessen Bewohner vor dem Krieg in die Berge geflohen waren und nun ihre Häuser und Moscheen aufbauen müssen. Er teilt mit ihnen eine dünne Suppe aus Zuckerrüben und beobachtet am nächsten Tag das Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft. Die Wächter einer Moschee bei Kandahar sprechen mit ihm über ihre Zweifel an der neuen Regierung in Kabul. Ein Bauer klagt, dass die Anti-Opium-Kampagne der UN seine Existenzgrundlage zerstört habe.

Schlaglöcher, Hitze, Staub

Ruge lässt sich bei seinen Filmen Zeit und scheut keine Strapazen: Über zwei Monate lang fuhr er mit seinem Team im Geländewagen durch Afghanistan. „Man spürt da jedes Schlagloch, fliegt mit dem Kopf an die Decke und wird bei großer Hitze und irrsinnigem Staub durchgeschüttelt", sagt er. „Zwischendurch hat man mich im Bundeswehr-Lazarett in Kabul an den Tropf gehangen. Eigentlich hatte ich nur um ein paar starke Tabletten gebeten. Doch nach sieben Tagen Durchfall war ich ziemlich schlapp.“ Kein Wunder, probiert er doch in dem Provinzstädtchen Taloqan selbst gemachtes Softeis am Straßenrand – weil es so hübsch aussieht.

Er kam auch durch Gegenden, in denen Taliban oder Al-Qaida-Leute noch immer mit den Amerikanern kämpfen. „Aber es ist möglich, vorher rauszufinden, wie die Lage ist, im Gespräch mit den Stammesältesten etwa. Die Gastfreundschaft ist heilig, und wir waren als Gäste sozusagen adoptiert. Außerdem haben die Ältesten keine Lust, dass Zwischenfälle mit Ausländern passieren, weil dann Militär oder Polizei in ihr Gebiet kämen.“ Begleitet wird er dabei von Kameramann Jürgen Heck, der kraftvoll komponierte Bilder für dieses Land und die Begegnungen findet. „Ich habe am liebsten Kameramänner, die ein bisschen zu gut für mich sind“, sagt Gerd Ruge. „Die wollen dann meistens schöne Bilder und ich, dass die Geschichte weitererzählt wird. Das gibt eine produktive Spannung. Außerdem brauchen meine Kameramänner sehr viel Humor, das ist ganz wichtig für meine Filme.“

Sein Humor und sein Wissensdrang à la „Sendung mit der Maus" lassen im Film etwa folgende Szenen entstehen. Das Team begegnet im Hinterland einer Gruppe Soldaten, und Ruge sagt im Off: „Da kommen bewaffnete Männer. Aber was für welche? Da muss man sie höflich fragen.“ Der „Weltspiegel“-Mitbegründer berichtet seit über 50 Jahren aus den Krisengebieten der Welt und kennt Afghanistan aus den 70er und 90er Jahren. Er war langjähriger Korrespondent in Washington, Peking und Moskau. Seine Reportagen von der Ermordung Robert Kennedys oder vom Anschlag auf Martin Luther King sind legendär. Er ist mit Preisen überhäuft worden: drei Grimme-Preise, zwei Bambis, der Telestar, die Goldene Kamera, der erste Preis des russischen Journalistenverbandes, der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen, der Hanns-Joachim-Friedrich-Preis, die Otto-Hahn-Friedensmedaille und das Bundesverdienstkreuz.

Sein immenses Wissen und seine Erfahrung würde er jedoch nie eitel zur Schau stellen. Der gebürtige Hamburger setzt auf Understatement und ermöglicht es dem Zuschauer so, sich ein eigenes Bild zu machen. „Ich glaube nicht, dass es immer eine Moral von der Geschichte geben muss“, sagt er. Wenn man etwas zum Verständnis beitragen könne, dann durch gute Reporterarbeit. Und das heißt für ihn: „In die Nähe von dem kommen, was passiert, vorgefasste Meinungen loslassen, die Füße in Bewegung bringen und zeigen, was die Ereignisse vor Ort für die Zuschauer in Deutschland bedeuten." Für Afghanistan könnte es dabei zum Beispiel um die Frage gehen: Was ist das eigentlich für ein Land, in dem wir unsere Truppen stationieren? Seine Kollegen, die derzeit über den Irak-Krieg berichten, bedauert er: „Die schnelle Übermittlung etwa durch Bildtelefone ist ein Fluch. Wie soll man noch recherchieren, wenn man dreimal am Tag auf Knopfdruck ein Statement abgeben muss?" Auch die Massen an Journalisten, die derzeit in den Krisengebieten unterwegs sind, erstaunen ihn.

Als seine Karriere nach dem Zweiten Weltkrieg begann, war er oft der einzige oder der erste deutsche Journalist in einem Land. So gelang es ihm 1948 als Erster, eine Akkreditierung für Jugoslawien zu bekommen. Er saß 1955 in der Maschine Konrad Adenauers, als der zum ersten Mal nach Moskau flog, im Gefühl, ins Hauptquartier einer Räuberbande zu geraten. Und er war als Hörfunkkorrespondent des WDR in Moskau der Urvater aller russophilen WDR-Reporter von Klaus Bednarz bis Fritz Pleitgen.

Überhaupt: Moskau. Der Journalist mit der Pelzmütze, so wurde er Ende der 80er Jahre berühmt, als er das Moskauer ARD-Studio übernahm. Bis 1993 erlebte er mit, wie Parteichef Michail Gorbatschow die Reform des sowjetischen Imperiums versuchte und ein Ende des Kalten Krieges einleitete. Über 72 Stunden lang stand Ruge im August 1991 während des Putschversuchs der Reformgegner Rede und Antwort vor der Kamera und zeigte, wie Boris Jelzin zum Symbol des Widerstands wurde. Boris Pasternak hatte er bereits in den 50er Jahren kennen gelernt. Die beiden verband eine enge Freundschaft. Ruges Sohn wurde nach ihm benannt. Und dass er den Autor des „Doktor Schiwago" mit Geld unterstützte, trug ihm ein zwölfjähriges Einreiseverbot in die Sowjetunion ein. Seine Erfahrungen aus fünf Jahrzehnten Reisen und Begegnungen in Russland fasste er später in dem Band „Weites Land – Russische Erfahrungen“ zusammen.

1992 hat er in Moskau, wo er auch immer noch eine Wohnung besitzt, zum dritten Mal geheiratet: die Münchner Journalistin Irmgard Eichner, die ihn oft auf seinen Reisen begleitet und in Kabul die Frauenthemen recherchierte. Am Ende eines Jahres sagt er stets zu ihr: „Ich mache nie wieder einen Film." Das geht nun schon zehn Jahre so. Fast 30 Filme sind dabei entstanden, die meisten von ihnen Zuschauer-Hits. Und auch für die aktuelle Reihe an den Ostertagen rechnet die ARD mit einer Einschaltquote von bis zu 20 Prozent. Übrigens gibt er selbst zu, dass seine Aussprache nicht die deutlichste ist: „Ich nuschle aus Bescheidenheit.“

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