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„Rettet wenigstens unsere Kinder!“: Das Taliban-Inferno als TV-Doku
Ein Arte-Themenabend dokumentiert den afghanischen Alltag nach dem Nato-Rückzug.
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Die schockierenden Bilder gingen um die Welt. Während des Truppenabzugs aus Afghanistan im August 2021 rannten Menschentrauben hinter einem startenden Flugzeug her. Sie klammerten sich an die Außenhaut der abhebenden Maschine. Wenig später zerschmetterten ihre Leiber auf dem Rollfeld. Wie verzweifelt müssen Menschen sein, um auf diese Weise zu flüchten? Aus ihrem eigenen Land?
Ein Arte-Themenabend beantwortet diese Frage aus zwei Perspektiven. Der französische Dokumentarfilm „Das Gesetz der Taliban“ verdeutlicht, warum die afghanische Zivilgesellschaft sich vor den bewaffneten Fundamentalisten mehr fürchtet als vor dem Teufel. Zuvor rekonstruiert die HBO-Produktion „Kabul Airport – Flucht aus Afghanistan“ das Ausmaß jener humanitären Katastrophe, die sich auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt ereignete.
Humanitäre Katastrophe? Die von den USA, dem Vereinigte Königreich und den übrigen Verbündeten gemeinsam durchgeführte Evakuierungsaktion war eigentlich eine Erfolgsgeschichte: 122.300 Menschen, darunter Ortshelfer und internationale Mitarbeiter, wurden ausgeflogen.
Diese Zahlen berücksichtigen nicht das Schicksal der Zurückgebliebenen. Deren Leid wurde verursacht unter anderem durch das urplötzliche Machtvakuum, das die USA mit ihrem überstürzten Rückzug nach zwanzig Jahren des vergeblichen Kampfes gegen den Islamismus in Afghanistan hinterließen. Im Nu hatten Taliban das Land unter Kontrolle. Afghanen, die bis dahin im Schutz der Nato ein zivilisiertes Dasein gelebt hatten, wussten nur zu gut, welche Hölle nun über sie hereinbrechen würde.
Damit begann das eigentliche Drama. Mehrere Zehntausend Menschen belagerten 18 Tage lang in sengender Hitze ohne Wasser und Verpflegung den Flughafen. Frauen kamen in der Menschenmenge nieder und reichten ihre Neugeborenen an die US-Soldaten weiter: „Rettet wenigstens unsere Kinder!“ Inmitten dieser verzweifelten Seelen zündeten Islamisten eine Bombe, die 170 Menschen in den Tod riss. „Der Kopf einer Frau“, so ein Überlebender, „wurde abgetrennt und blieb im Stacheldraht hängen.“ Taliban-Inferno.
Wir haben keine Lebensfreude mehr.
Afghanischer Lehrer
Diese Probleme sind teilweise hausgemacht. Dies verdeutlicht die anschließende Dokumentation von Pedro Brito Da Fonseca und Patrick Saint-Exupéry. Die korrupte Regierung in Kabul, so die düstere Bilanz, habe die Taliban in den Jahren zuvor einfach nur weggesperrt. In überfüllten Gefängnissen wurde deren Radikalisierung erst angeheizt.
Mit dem Abzug der USA kamen Tausende religiöser Fanatiker frei – und griffen zur Waffe: „Heute regieren die einstigen Bombenleger das Land.“ Ergebnis der Machtübernahme: Fabriken sind dicht, die Landwirtschaft liegt brach. Selbst Lumpensammler finden nichts mehr auf dem Müll. „Wir haben keine Lebensfreude mehr“, erklärt ein Lehrer.
Für die Fundamentalisten ist dieses Desaster eine Erfolgsgeschichte: „Wir haben den Schleier des Kolonialismus von diesem Land gerissen“, erklärt ein Taliban stolz. Ein anderer Schleier verdunkelt das Land nun umso mehr: die Burka. An der Universität Kabul hält eine vollkommen verhüllte Frau eine Vorlesung über die Verderbnis westlicher Werte. Ein Kameraschwenk in den Hörsaal zeigt pechschwarze Burka-Gespenster. Bewacht von Aufpassern mit dem Finger am Abzug der Maschinengewehre.
Wozu die Waffen, die Taliban nicht einmal beim Beten weglegen? „Die Waffe ist der Schmuck des Muslim“, erklärt Flüchtlingsminister Khalil Haqqani. Innenansichten aus Afghanistan des Jahres 2022. Sie zeigen: Selbst pessimistische Befürchtungen über die Machtübernahme durch die Taliban wurden von der Realität übertroffen. Manfred Riepe
„Kabul Airport – Flucht aus Afghanistan“, 20 Uhr 15; „Das Gesetz der Taliban“, 21 Uhr 30, beides am Dienstag auf Arte
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