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Irreal wie eine Zombie-Apokalypse: Ein Kapitol-Polizist versucht, eine Gruppe von Demonstranten an der Stürmung des Plenarsaals zu hindern.

© SWR/Ashley Gilbertson

Eine historische Zäsur: ARD-Doku präsentiert teils unveröffentlichtes Material

Ein ARD-Dokumentarfilm macht das Ausmaß der chaotischen Ereignisse bei der Stürmung des Kapitols deutlich.

„Warum kiffst du im Kapitol?“ Der Befragte, einer von Hunderten, die gewaltsam ins Zentrum des US-Kongresses eingedrungen waren, sagt nur benebelt: „Weil ich es kann!“ Nick Alvear, ein Aktivist der diese Bilder festhielt, fügte später hinzu: „Mein Video hatte 6,7 Millionen Klicks auf Twitter.“

Brennpunktartig verdeutlicht diese Szene, welche Triebkraft hinter jener entfesselten Menschenmenge stand, die sich vor einem Jahr in Washington formiert hatte. Angestachelt von einer Rede des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, der seine Abwahl anzweifelte, setzten sich Tausende in Bewegung. Ihr Ziel war der Sitz des Kongresses. Am sechsten Januar 2021 sollte hier mit der Auszählung der Stimmen die Wahl des neuen Präsidenten amtlich werden.

Randalierer machten sich auf, um diese Bestätigung von Bidens Wahl zu stören. Die schockierenden Bilder gingen um die Welt. Doch der britische Dokumentarist Jamie Roberts macht mit seiner akribischen Chronologie erstmals das Ausmaß der chaotischen Ereignisse sichtbar.

[„Sturm auf das Kapitol – Der Angriff auf die US-Demokratie“, ARD, Donnerstag, 22 Uhr 15]

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Einen derartigen Zwischenfall hatte seinerzeit niemand auf dem Schirm, am wenigsten die überforderte Capitol Police. Absperrungen wurden schon nach wenigen Minuten überrannt. Damit begann ein Albtraum. Mit einer in Worten kaum darstellbaren Intensität zeigt der Film, wie ein Gewimmel menschlicher Leiber sich grölend, schubsend und drängelnd vorwärtsbewegt. Auf der anderen Seite Polizisten, die – hoffnungslos in der Unterzahl – erbitterten Widerstand leisten. All diese Szenen sind dokumentarisch. Dennoch wirken sie irreal wie eine Zombie-Apokalypse. Die moderne Version eines Hieronymus-Bosch-Gemäldes.

Ein Schlüsselmoment des Films ist die Begegnung der Meute mit dem Kapitol-Polizisten Eugene Goodman. Ganz allein stellt er sich den Spinnern in den Weg, greift drohend zur Waffe – benutzt sie aber nicht. Ein Schuss in die aufgebrachte Menschenmenge hätte womöglich ein Massaker zur Folge gehabt. Stattdessen lockt der Beamte die planlos umherirrenden Krakeeler unauffällig weg vom Plenarsaal. Die Senatoren, zutiefst verängstigt und teilweise hyperventilierend, werden derweil in Sicherheit gebracht.

„Ist da Pelosi? Wir kommen, du Miststück!“

Auf den Gängen herrscht zu dieser Zeit wildes Gedränge. Eine bizarre Party: „Das ist unser Haus“, grölen Frauen und Männer aus allen Gesellschaftsschichten. „1776“ – die Jahreszahl der amerikanischen Unabhängigkeit – wird als Schlachtruf skandiert. Einer der Eindringlinge grölt ins Haustelefon: „Ist da Pelosi? Wir kommen, du Miststück!“ Nancy Pelosi, Abgeordnetenhaus-Sprecherin der Demokraten, ist eine der Hassfiguren des Mobs. Sie hält sich derweil in einem Seitenflügel unter einem Tisch versteckt.

Aus diesem surrealen Kaleidoskop sticht ein bizarrer Typ hervor. Es ist ein Anhänger der QAnon-Gruppe. Mit Fellmütze, Hörnern und einer am Speer getragenen US-Flagge avancierte dieser „Büffelmann“ zur Frontfigur der Wirrköpfe.

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Trauriger Höhepunkt des Films: Radikale Anhänger des abgewählten Präsidenten sind dabei, eine verbarrikadierte Tür nahe dem Plenarsaal zu stürmen. Plötzlich fällt ein Schuss. Schwarzblende. Ashley Babbitt, eine Airforce-Veteranin, die als Erste versucht hatte, das letzte Hindernis zu passieren, sinkt tödlich getroffen zu Boden. Neben der 35-Jährigen verliert im Getümmel noch ein Polizist sein Leben. 140 weitere werden verletzt. Vier von ihnen verüben bald darauf Suizid. Von den Randalierern sterben später drei an Herzattacken oder Schlaganfällen. Wie ein Wunder erscheint es im Nachhinein, dass die Situation nicht blutig eskalierte.

Der Film, eine Koproduktion von HBO, BBC und dem SWR, stützt sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Video- und Handyaufnahmen, zum Teil bislang unveröffentlichtes Material, sowie Posts aus sozialen Medien. Verwendet wurden Mitschnitte der Überwachungskameras, Bodycams der Polizei und Audioaufnahmen des Militärs. Auf den Bildern zu sehen ist, wie praktisch jeder der Randalierer mit laufendem Handyvideo durch das Kapitol spaziert. Live gestreamte Aufnahmen dieses Furors erzeugen eine gespenstische Rückkopplung, die den Mob erst recht anstachelt. Zu Wort kommen Kongress-Abgeordnete, Polizisten und einige der Randalierer, die sich heute noch im Recht wähnen. Der Film hinterlässt den verstörenden Eindruck bürgerkriegsähnlicher Ausschreitungen.

Manfred Riepe

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