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Midnight Traveler ist das Werk der gesamten Familie: Auch die Töchter filmen mit.

© Midnight Traveler

Familie filmte Flucht mit dem Handy: „Mein Film ist jetzt frei, aber wir nicht“

Hassan Fazili hat die Flucht seiner Familie mit dem Handy aufgenommen. Der Film ist preisgekrönt – die Familie von der Abschiebung bedroht.

Es ist bereits dunkel vor den vergitterten Fenstern des Flüchtlingsheimes im Bezirk Ovcha Kupel der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Im Hintergrund weinen Nargis und Zarah – die beiden Töchter von Hassan Fazili. Die „Atack“-Rufe von draußen machen ihnen Angst. Der Vater klappt eine Ecke des Moskitonetzes am Fenster nach unten, um mehr sehen zu können.

Draußen hat sich eine große Menschenansammlung gebildet. Bulgarische Nationalisten demonstrieren und bedrohen das Heim; Flüchtlinge versuchen, der Polizei zu erklären, was los ist. Doch die hilft nicht ihnen, sondern den rechtsextremen Demonstranten. Aufgebracht und teilweise verletzt kommen Flüchtlinge ins Gebäude. Fazilis Stimme ist zu hören. Er fragt die Männer, was passiert sei.

Dieses Handyvideo ist mittlerweile bei großen Filmfestivals gezeigt worden – beim Sundance, der Documenta Madrid und in diesem Februar auch auf der Berlinale. Es gehört zum Dokumentarfilm „Midnight Traveler“. Der erzählt die Geschichte von Hassan Fazili, 39, seiner Familie und ihrer Flucht aus Afghanistan nach Ungarn.

"Mein Film ist jetzt frei, aber wir nicht"

Drei Jahre lang filmen Fazili, seine Frau und die Töchter mit drei Smartphones. Sie halten Unrecht fest, das ihnen widerfährt, Langeweile, Unsicherheit. Was wie ein absurdes Projekt in der brutalen Realität der Flüchtenden wirkt, wird für die Familie bald zum Selbstzweck. „Wir haben gefilmt, weil wir nicht wussten, ob wir’s schaffen“, sagt Hassan Fazili. Ihre Stimmen sollten nicht ungehört, ihre Geschichte nicht ungesehen bleiben. Der Film sei wie eine moderne Flaschenpost, schrieben Kritiker, ein Ruf nach Hilfe. Er ist vor allem: bis zur Schmerzgrenze unmittelbar.

Nun ist die Familie in Deutschland, seit 17 Monaten mittlerweile. Doch ob sie bleiben dürfen, wissen sie nicht. Hassan Fazili kramt sein Duldungspapier heraus. Ein Abschnitt – überschrieben mit „Aussetzung der Abschiebung“ – ist rot durchgestrichen. Ihr erster Asylantrag wurde abgelehnt. Scheitert auch der zweite, können sie abgeschoben werden.

Mittlerweile ist Hassan Fazili in Deutschland. Er erzählt in einem Berliner Café von seiner Flucht
Mittlerweile ist Hassan Fazili in Deutschland. Er erzählt in einem Berliner Café von seiner Flucht

© Marlene Langenbucher

Es ist ein Tag im August 2019, Hassan Fazili sitzt in einem Kreuzberger Café. Er nimmt einen kleinen Zettel vom Tisch, hebt ihn hoch und lässt ihn wieder los. Langsam fällt das Stück Papier nach unten. „Das sind wir“, sagt der Filmemacher und meint seine Familie. „Wir können nichts machen, haben keinen Boden unter den Füßen. Schon eine Ewigkeit.“

Die Ewigkeit beginnt 2014. Auch in einem Café - dem Art Café in Kabul, das Hassan Fazili gemeinsam mit Freunden gegründet hat. Gerade hat er seinen letzten Film veröffentlicht: „Peace in Afghanistan“. Eine Dokumentation über den hochrangigen Talibankämpfer Mullah Turjan, der – wie viele seiner Mitkämpfer – in dieser Zeit einen Deal mit der afghanischen Regierung eingegangen ist. Er hatte seine Waffen abgegeben und dafür Geld und eine Wohnung erhalten. Fazilis Film läuft im Fernsehen, er soll weitere Taliban motivieren, an dem Regierungsprogramm teilzunehmen.

Kurze Zeit später wird Mullah Turjan ermordet. Fazili und andere Beteiligte am Film werden bedroht. Zur gleichen Zeit stürmt die Polizei das Art-Café, verprügelt Gäste: man habe gesehen, dass hier Frauen und Männer gemeinsam an einem Tisch säßen, Frauen sogar von einem Mann Gitarrenunterricht bekämen.

Die Polizisten, so erzählt es Fazili, stacheln während des Freitagsgebets die Gläubigen in einer nahe gelegenen Moschee an: Fazili und seine Freunde würden eine Kirche betreiben und hätten den Koran verbrannt. Ein paar Tage danach hätten fast 300 wütende Menschen vor dem Café gestanden. Der Mullah der Moschee habe Fazili ins Gesicht gesagt, dass seine Freunde und er bald ermordet würden.

"Wir haben gefilmt, weil wir nicht wussten, ob wir´s schaffen"

Mit Frau und Kindern zieht er zurück in seinen Heimatort Balkhab in Nordafghanistan. Es vergehen nur wenige Wochen, bis er erneut einen Anruf bekommt. Die Taliban wüssten, wo sie sich aufhielten, warnt ihn ein alter Freund – mittlerweile selbst Talibankämpfer. Sie entscheiden sich, das Land zu verlassen.

Fazili erzählt, wie er mit seiner Familie in Tadschikistan Asyl beantragt. Dorthin waren sie zuerst geflohen. Die Behörden schicken sie zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen: Sie sollen sich registrieren lassen. Von dort schickt man sie wieder zur Polizei. So geht das fast ein Jahr lang. „Wir haben uns wie ein Fußball gefühlt“, sagt Fazili.

Er beginnt, ihre Erlebnisse zu filmen. Anfangs nur, damit er den Behörden zeigen kann, in welchem Zustand die Familie lebt. Nachdem sie einsehen, dass sie in Tadschikistan nicht bleiben können, stellen sie weitere Anträge auf Visa – auch für Deutschland. Man sagt ihnen, dass sie gute Chancen hätten. Sie warten.

Es ist Dezember 2015 und in Berlin ist der afghanische Präsident Aschraf Ghani zu Gast. Mit Angela Merkel verhandelt er über die weitere Zusammenarbeit der beiden Staaten. Beide haben ein Interesse daran, dass weniger afghanische Flüchtlinge nach Deutschland kommen.

Und so erhalten auch Hassan Fazili und seine Familie nach einem Monat hoffnungsvollen Wartens keine Visa – sondern nur ihre Pässe zurück. Geld haben sie keines mehr, und in Tadschikistan dürfen sie nicht bleiben. Sie sind gezwungen, den illegalen Weg zu gehen.

Immer wieder prallen die Welten des Filmemachers und des Flüchtenden aufeinander

Fazili lernt über einen befreundeten Regisseur die amerikanische Produzentin Emilie Mahdavian kennen, die zu dieser Zeit in Tadschikistan dreht. Gemeinsam mit ihr entwickelt er die Idee, die Flucht zu dokumentieren.

Die Familie bricht auf. Noch einmal durch Afghanistan, dann über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien nach Ungarn. Zu dokumentieren, was sie durchmachen, gibt ihnen Halt.

Im Film sieht man Frau und Töchter schwer bepackt über einen Bahnsteig laufen, die Mädchen wartend im Wald, ein Kind huckepack auf dem Rücken einer Mutter, die über eine Wiese rennt, im Pulk mit vielen weiteren Menschen. Man sieht Erschöpfung, Angst – und Lachen. Wenn die beiden Mädchen auf umzäunten Spielplätzen in den Flüchtlingslagern spielen oder in der Türkei zum ersten Mal das Meer sehen.

Der Film zeigt auch die schönen Momente im Alltag der Familie auf der Flucht. Hier ist Fatima Hussaini - die Frau von Fazili - mit deren jüngster Tochter zu sehen.
Der Film zeigt auch die schönen Momente im Alltag der Familie auf der Flucht. Hier ist Fatima Hussaini - die Frau von Fazili - mit deren jüngster Tochter zu sehen.

© Midnight Traveler

Das Filmen bringt sie auch in schwierige Situationen. Manchmal müssen sie abwägen: ein Ladekabel und Speicherkarten kaufen oder Essen und Kleidung? Zwar versucht Mahdavian sofort, Fördermittel für den Film zu erhalten, doch die kommen erst, als die Familie in Serbien ist und zwei Wochen bulgarisches Gefängnis hinter sich hat. Erst da ist ihre Geschichte schlimm genug, um erfolgversprechend zu sein.

Hassan Fazili erhält Lohn als Regisseur, seine Frau als Koproduzentin, die beiden Töchter als Kamerafrauen. Vor jeder Grenzüberquerung lädt Fazili das Material auf USB-Sticks und gibt es vor Ort lebenden alten Bekannten oder neu getroffenen Freunden. Die schicken alles per Post oder E-Mail weiter in die USA zu Emilie Mahdavian.

Privat unterstützt die Filmemacherin die Familie nicht. „Dokumentarfilme folgen journalistischen Regeln“, sagt sie. „Viele, auch ich, halten diese manchmal für ein bisschen bekloppt. Aber wenn man die amerikanische Filmförderanstalt hinter sich haben will, dann gibt es eben diese Regeln.“ In Bulgarien jedoch habe sie der Familie einen Anwalt gezahlt, der versuchte ihnen dabei zu helfen, aus dem Gefängnis zu kommen.

In Ungarn will die Familie nicht bleiben

Immer wieder kollidieren die Welten des Filmemachers und des Flüchtenden Hassan Fazili. Wie eines Nachts im serbischen Lager Krnjaca, nicht weit von Belgrad. Zarah, die jüngste Tochter von Fazili, ist verschwunden. Seine Frau und er machen sich verzweifelt auf die Suche. Eine Woche zuvor wurde in den Nachrichten berichtet, wie Männer in einem deutschen Flüchtlingslager ein ähnlich junges Kind vergewaltigt hatten.

Sie mobilisieren das ganze Camp. Kurz denkt Fazili, er sollte jetzt das Handy rausholen. Filmen, wie seine weinende Frau mit ihm durch das Lager rennt. Fazili hasst sich für diesen Gedanken. Im Film erzählt er von alldem mit ruhiger Stimme. Das Bild dazu bleibt schwarz. Zarah wird wenig später gefunden. Unversehrt.

Als der Film im Januar 2019 auf dem amerikanischen Sundance-Festival das erste Mal ausgestrahlt wird, kann Fazili nicht dabei sein. Auch nicht in Thessaloniki. Oder in Kopenhagen, Madrid, Cartagena, Sheffield, Peking. Der Regisseur sitzt währenddessen im Sauerland. In Oedingen. In einem ehemaligen Hotel, in dem er mit seiner Familie untergebracht ist. Es gibt weder Internetanschluss noch Empfang. Er kann die Festivals also nicht einmal online verfolgen. Er könne schlicht nicht ausdrücken, wie frustrierend das gewesen sei, sagt Fazili. „Mein Film ist jetzt frei“, sagt er schließlich, „aber wir nicht.“

Filme hat Fazili in seinem Leben schon viele gedreht. Über Taliban, Menschen- und Frauenrechte, über Theater und Liebe. In „Midnight Traveler“ aber geht es um ihn. Um seine Geschichte, seine Familie, seine Flucht.

2017 kommt die Familie in Ungarn an – nachts über die Grenze aus Serbien, wo sie fast zwei Jahre ausgeharrt hatten. Pässe haben sie zu diesem Zeitpunkt bereits keine mehr. Die sind ihnen von der bulgarischen Polizei abgenommen worden. Die ungarischen Behörden bringen sie in ein „Camp“ in der Grenzstadt Röszke.

Fazili zeigt ein Video auf seinem Handy. Das Zimmer der Familie ist wenige Quadratmeter groß, das Gelände umgeben mit mehreren, meterhohen Stacheldrahtzäunen und Betonmauern. „Du kannst das Hotel nennen. Du kannst es Himmel nennen, aber was ist denn das für ein Draht?“, fragt Fazili. „Wenn das kein Gefängnis ist, was ist es dann?“

Die Familie lebt mittlerweile im Sauerland - ob sie bleiben darf muss sich noch zeigen.
Die Familie lebt mittlerweile im Sauerland - ob sie bleiben darf muss sich noch zeigen.

© privat

In dieser Zeit habe die Familie die Willkür der Polizei zu spüren bekommen. Als er wegen Schmerzen nach Medikamenten fragt, wird Fazili ausgelacht. Mehrfach wird er geschlagen. Nachdem er dann wegen einer kleinen Verletzung am Daumen dem Arzt des Camps vorgeführt wird, steckt man gleich die ganze Familie in Quarantäne.

Polizisten, die sich ihnen nähern, haben Schutzanzüge und Masken an. Gefilmt werden darf in dieser Zeit nicht. Nur auf Drängen eines UN-Mitarbeiters bekommt Fazili einen Termin bei einem Hautarzt außerhalb des Camps, der herausfindet: Es war einfach eine entzündete Wunde.

Ob sie in Deutschland bleiben dürfen, wissen sie noch nicht

Nach drei Monaten erhält die Familie tatsächlich Flüchtlingsstatus in Ungarn. Doch sie wollen nicht bleiben. Nicht bei der Gewalt, die ihnen wiederfahren ist. Mit der Anerkennung in Ungarn können sie weiterreisen. Im April 2018 kommen sie dann in Deutschland an. Die Beamten hier sind freundlicher. Fingerabdrücke nehmen sie trotzdem. Bis man sich ihren Fall anschauen könne, dürften sie bleiben.

Hassan Fazili sagt, er fühle sich wohl in Deutschland. Seine Frau und er haben hier viele Freunde, die beiden Töchter gehen zur Schule. Erst haben sie in Hamburg gelebt, dann in Mönchengladbach, Leverkusen und schließlich in Oedingen – eintausend Einwohner, eine Grundschule, friedlich. Irgendwann will die Familie aber wieder umziehen, in eine größere Stadt. Es gibt viele Projekte, in denen die gelernte Schauspielerin und der Filmemacher arbeiten könnten.

Solange ihr zweiter Asylantrag bearbeitet wird, sind sie sicher. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass Hassan Fazili eine Reise nach Amsterdam genehmigt worden ist, wo sein Film bei einem Festival gezeigt wird. Die Behörde ist optimistisch und auch er erlaubt sich zu hoffen. Trotz all der gemachten Erfahrungen. „Wir haben uns selbst ein Umfeld geschaffen“, sagt Hassan Fazili, „in dem ein Papier mehr wert ist als ein Mensch.“

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