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Großbritannien: Bis aufs Messer

In einigen Londoner Stadtteilen kommt es jede Woche zu Messerstechereien und Schießereien unter Heranwachsenden. Angesichts der vielen Teenagermorde setzt Englands Polizei auf Horrorpropaganda.

Achtlos gehen die jungen Männer an dem Fahndungsplakat vorbei und setzen sich mit einem Joint auf den Spielplatz. Umgerechnet 50.000 Euro bietet die Polizei demjenigen, der die Mörder eines 17-Jährigen identifiziert, die nach der Bluttat von einer Überwachungskamera gefilmt worden sind. Überall rund um die Upper Clapton Road in Hackney im Osten Londons ist das Fahndungsplakat zu sehen. Doch die Jungs mit den trainierten Oberkörpern und Kapuzenpullovern interessiert das nicht. Breitbeinig führen sie an diesem sonnigen Nachmittag ihre Bull-Terrier spazieren. Vor den wenigen Pubs der Gegend, an den Bahnhöfen und Parks, dealen sie gelegentlich – und halten nach Gegnern Ausschau. Die Jungs haben viel Zeit, die Hälfte ist ohne Job, viele sind aus der Schule geflogen.

Die Upper Clapton Road wird in der britischen Presse „Murder Mile“ genannt – Mordmeile. Die Fahndungsplakate werden monatlich ausgewechselt, wöchentlich greifen sich hier bewaffnete Teenager an. Zwischen den roten Klinkerbauten mit den kleinen Fenstern sind mehr als 20 Gangs aktiv. Die Schulen sind von hohen Zäunen umgeben, Kameras wachen über jeder Tür.

Angst vor der Polizei scheinen die Jungs nicht zu haben. Gefängnis und Schusswunden gelten als Auszeichnung, nicht als Makel. Sozialarbeiter sprechen von einer „britischen Bandenkultur“. Die Jungs achten strikt darauf, wer ihr Revier betritt – auch wenn das oft nur ein Wohnblock ist, in dem der Stolz der Bewohner die Satellitenschüssel auf dem Balkon ist. Um ihren Wohnblock drehen die Jungs abends ihre Runden, bis jemand aus einer anderen Straße ahnungslos an ihnen vorbei möchte. Schnell werden dann die Kapuzen hochgezogen, das Opfer niedergestochen, das Handy geraubt. Allein in London sind in diesem Jahr 15 Teenager von Gleichaltrigen getötet worden: Vergangenes Wochenende wurde ein 18-Jähriger erstochen, ein 16-Jähriger erschlagen und einem 17-Jährigen in den Kopf geschossen. Täter und Opfer stammen häufig aus Einwandererfamilien, sind jedoch fast immer in England aufgewachsen. Rassismus spielt kaum eine Rolle, eher ein blutiger Lokalpatriotismus. „Die Gangs bilden sich nach Postleitzahlen, nicht nach Hautfarbe“, erzählt Harry Fletcher vom Verband der Bewährungshelfer.

Die Regierung unter Gordon Brown steckt nun umgerechnet rund vier Millionen Euro in eine Fotokampagne, um die Gewalt einzudämmen. Mit schockierenden Bildern will die britische Polizei vom Gangsterleben abschrecken. Die im Internet veröffentlichten Aufnahmen stammen von Tatorten, an denen Jugendgangs zugeschlagen haben: Im blutenden Bauch eines Mannes stecken ein Taschenmesser und ein Schraubenzieher. Auf anderen Fotos sind klaffende Wunden zu sehen.

Hunderte Messerstechereien hat es in diesem Jahr gegeben, schätzen britische Medien. Wenn die Opfer nicht lebensgefährlich verletzt sind, oder selbst einer Gang angehören, erfahre die Polizei kaum davon. Wer in den Blocks im Nordosten wohnt, schließt sich oft schon in der Grundschule einer Gang an. „Eine Art Lebensversicherung“, sagt der Sozialarbeiter. In der Hauptstadt gehören sieben Prozent der 10- bis 19-jährigen Jungen einer der 170 Gangs an, zwei Drittel von ihnen haben sich an Gewalttaten beteiligt, hat das Londoner „Centre for Crime and Justice Studies“ ermittelt. 27 Teenager starben dabei 2007, neun davon wurden erschossen. Am Donnerstag appellierte Scotland-Yard-Chef Ian Blair an Eltern, ihre Kinder nicht mit Messern auf die Straße zu lassen.

Die meisten Tatwaffen stammten aus Küchen, sagte Blair. Nun setzt der Polizeichef auf Großrazzien: Bei 4000 Durchsuchungen sind in den letzten zwei Wochen 200 Jugendliche wegen des Besitzes von großen Messern oder Schusswaffen vorläufig festgenommen worden. Der erst kürzlich ins Amt gewählte konservative Londoner Bürgermeister Boris Johnson will nun an U-Bahnhöfen und Schulen Metalldetektoren einsetzen, um bewaffneten Gangs das Handwerk zu legen. Doch wenn sie die Schule schwänzen, nützen Detektoren dort wenig.

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