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Herzstück urbanen Lebens. Das berühmte Stadtviertel Beyoglu in Istanbul. Die Verwaltung unterbindet jetzt das Vergnügen. Foto: Andrea Kuenzig/laif

© Andrea Kuenzig/laif

Panorama: Die Spaßverderber

Im Istanbuler Vergnügungsviertel verschwinden die Tische von der Straße – auf Anweisung Erdogans?

Mahmut Kaya schaut auf die leere Straße, als könne er es immer noch nicht so recht fassen. Noch vor ein paar Wochen waren die Straßen hier in Beyoglu, dem Vergnügungsviertel von Istanbul, voll mit Tischen und Stühlen, die Betreiber von Restaurants, Hotels und Kneipen für ihre Gäste aufs Pflaster gestellt hatten. Dann aber rückten Beamte des städtischen Ordnungsamtes an und sammelten alle Tische und Stühle ein. Kaya, der beim Istanbuler Traditionsrestaurant „Refik“ mitten in Beyoglu arbeitet, glaubt zu wissen, was dahintersteckt. „Die wollen nicht, dass die Leute auf offener Straße Alkohol trinken.“ Die „Tisch-Operation“, wie die Initiative der Stadt in der Presse genannt wird, gleicht zwar ähnlichen Streitfällen zwischen Wirten und Behörden in deutschen Städten wie München oder Hamburg. Doch anders als in der Bundesrepublik eskaliert ein Streit um Straßen, die wegen der vielen Kneipentische im Sommer zu schmalen Gassen werden, schnell ins Grundsätzliche: Es geht um den Vorwurf, islamistische Kreise wollten dem Rest der Gesellschaft ihre Werte aufzwingen. Und das ausgerechnet in Beyoglu, wo Istanbul ausgelassener, bierseliger und verruchter ist als in anderen Stadtteilen. Angefangen habe alles mit Recep Tayyip Erdogan, sagt Kaya. Er erzählt eine Geschichte vom frommen Ministerpräsidenten, die derzeit überall zu hören ist in Beyoglu. Erdogan, so erzählt man sich, habe sich Ende Juli, kurz vor Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan, durch Beyoglu fahren lassen und sei wegen der vielen Tische, Stühle und Menschen in einer Seitenstraße stecken geblieben. Der Premier, für sein aufbrausendes Gemüt bekannt, sei ausgerastet, als einige Biertrinker ihm fröhlich zuprosteten. Darauf soll Erdogan die Verwaltung des von seiner Partei AKP regierten Bezirks Beyoglu angewiesen haben, etwas gegen die Tische zu unternehmen. Prompt rückte das Ordnungsamt an.

Ob die Geschichte stimmt, weiß niemand so genau. Tatsache sei aber, dass der Umsatz in der Gastronomie als Folge der „Tisch-Operation“ um bis zu 80 Prozent eingebrochen ist, sagt Tahir Berrakkarasu, vom Verband der Kneipenbesitzer in Beyoglu. „Es ist warm, da will doch keiner drinnen sitzen“, bestätigt Mahmut Kaya von Refik. Dabei geben Kaya und andere Gegner der „Tisch-Operation“ bereitwillig zu, dass manche Wirte das Einschreiten der Behörden geradezu provozierten, indem sie weit mehr Tische auf die Straßen stellten als genehmigt. Die Gastronomen hätten aus reiner Gewinnsucht gehandelt, erklärte auch das Ordnungsamt. „Hier kam ja fast niemand mehr durch“, sagt selbst Ahmet Arslan, ein altgedienter Koch bei Refik.

Trotzdem wird weniger über Fluch und Segen der Außengastronomie diskutiert als über Islamisierungstendenzen. Von einer „Hegemonie der Konservativen“ sprach ein Kritiker. Erdogan wird schon lange vorgeworfen, er wolle aus der Türkei einen Gottesstaat machen. Die Regierung weist das zurück und führt zum Beweis ihre demokratischen Reformen ins Feld. Auch trinken die Türken unter Erdogan mehr – und nicht weniger – Alkohol als vorher.

Verbandsvertreter Berrakkarasu zweifelt an der Islam-These. „Dann hätten die das doch schon im Ramadan letzten Jahres gemacht, der war auch im Sommer.“ Berrakkarasu hält die „Tisch-Operation“ vielmehr für eine Folge der Allmacht Erdogans und der Unterwürfigkeit vieler türkischer Behörden. Kürzlich ließ die ostanatolische Stadt Kars ein Denkmal abreißen, das vom Premier als „monströs“ bezeichnet worden war. Und nun habe Erdogan eben sein Missfallen über Biertrinker auf der Straße geäußert – „und da musste die Bezirksverwaltung was machen“. Berrakkarasu plädiert dafür, zumindest für die nächste Sommersaison eine allseits verträgliche Lösung zu finden.

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