Panorama: Erinnerungen an einen Abstieg
Eine Rütli-Lehrerin zieht Bilanz
Stand:
„Unser Brief hat die Lage eins zu eins widergespiegelt. Falsch an ihm war nur, dass er zu spät geschrieben wurde“. Regina T. (Name geändert) sitzt in der Woche des ersten Rütli-Jahrestags vor ihrem Milchkaffee und versucht im Gespräch, die Zeit, ein Jahr zurückzudrehen. Erst ein Jahr, dann 20 Jahre. Denn so lange arbeitet sie in Neukölln.
Schon damals, in den Achtzigern, waren die Hauptschulen in Berlin kein einfaches Pflaster, obwohl im Vergleich zu heute paradiesische Zustände herrschten. Regina T. weiß noch, dass sie es zunächst mit Kindern „gestandener deutscher Facharbeiter“ zu tun hatte. Auch die Migrantenkinder waren anders als heute. Es gab kaum Flüchtlinge unter ihnen. Kaum Eltern ohne Arbeitserlaubnis, die nur mit einer Duldung vor sich hin leben. Es waren lernbereite türkische Gastarbeiterkinder, die noch nicht gezeichnet waren von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg.
Aber dann verschlechterte sich die soziale Lage, und vor allem die Mischung der Kinder: Nord-Neukölln wurde zum bevorzugten Wohngebiet palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon, die schon in ihren Herkunftsländern nicht richtig integriert waren. „Was dann passierte, ist ein politisches Debakel“, sagt die Lehrerin und berichtet von zwölffachen arabischen Müttern, „die mit 30 so aussehen wie 60“, weil sie überfordert, in ihren Familien rechtlos und von den vielen Geburten gesundheitlich ruiniert sind. „Manchmal wissen sie gar nicht, wo sich all ihre Kinder gerade aufhalten“, erinnert Regine T. von etlichen Versuchen, diese Kinder aufzuspüren.
Wenn sie heute an diese Erfahrungen zurückdenkt, sieht sie die Mehrfamilienhäuser vor sich, durch die sie damals erfolglos irrte, weil an allen Klingelknöpfen der selbe Name stand: Alles Mitglieder der selben Großfamilie und kaum bereit, einer Lehrerin Auskunft zu geben. Für Regina T. ist das, was diesen Kindern in diesen entwurzelten Großfamilien passiert „eine Art von Misshandlung“. Über ein Drittel der Rütli-Schüler kam zuletzt aus diesem arabischen Umfeld. Auch darum ging es in dem Rütli-Brief. Er enthielt die Bitte an das Bezirksamt, diese schwierigsten aller Schüler, die arabischen Kinder, etwas gleichmäßiger auf Neukölln zu verteilen und sie nicht immer überproportional der Rütli-Schule zuzuweisen.
Natürlich hatten immer auch die anderen Hauptschulen Probleme. Aber nie kam es dort so weit, dass fast die Hälfte der Lehrer Versetzungsgesuche stellten und schließlich einen derart verzweifelten Brief schrieben. „Die anderen Schulen haben Konzepte gefunden, weil das Verhältnis zwischen Schulleitung und Kollegium stimmte“, sagt Regina T. im Rückblick. Brigitte Pick aber, die Leiterin der Rütli-Schule, habe kompetente Leute, die was bewirken wollten, vergrault, „weil sie dachte, sie kann alles selbst“. Manche Lehrer hätten nicht nur vor den Schülern, sondern auch vor Frau Pick Angst gehabt, die kaum ermuntert, aber jede Schwäche ausgenutzt habe. „Die Schulleitung war mindestens so ein Problem wie die Schüler. Das hat die Schule ruiniert“, glaubt Regina T.
Dass die Schule sich derart desaströs entwickelte, hat für sie aber noch einen anderen Grund: Das Verhalten der Schulaufsicht war offenbar nicht geeignet, die Lage zu verbessern. Eine der Schulrätinnen habe alle Probleme gekannt, aber im Grunde nichts geändert. Um zu veranschaulichen, wie die Schulrätin in Krisensituationen reagierte, schildert Regina T. einen Zwischenfall: Nach einer blutigen Schlägerei zwischen Libanesen wurde die Vorgesetzte gerufen und erfuhr von einem Lehrer, dass er Angst vor einem der beteiligten Schläger habe. Alles, was die Schulrätin erwidert habe, sei sinngemäß gewesen: „Na, sagen Sie, Sie sind doch Pädagoge!“. Diese Frau habe alles niedergebügelt, „weil sie davon ausging, dass die Behörde froh ist, wenn nichts nach außen dringt“.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: