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Jeder sechste Studierende ist psychisch krank. Das geht aus dem aktuellen Arztreport der Krankenkasse Barmer hervor.

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Hochschulen: Jeder sechste Student ist psychisch krank

Depressionen, Panikattacken, Burn-out: Viele Studierende leiden unter einer psychischen Erkrankung - auch wegen des gestiegenen Leistungsdrucks.

Schon im ersten Semester seines Jura-Studiums ging es los: Philipp wurde von belastenden Gefühlen geplagt, die ihn die nächsten sechs Jahre begleiten sollten. Sie ließen ihn nachts nicht schlafen, tagsüber konnte er kaum stillsitzen. Sie raubten ihm seinen Appetit, machten ihn dünnhäutig. Abends blieb er vor Erschöpfung lieber zu Hause, als sich mit Freunden zu treffen. „Das Studium hat mich enorm belastet. Ich habe öfters darüber nachgedacht, abzubrechen“, sagt der 28-Jährige. Hinzu kam eine schmerzhafte Trennung.

Unter seelischen Problemen leiden immer mehr Studenten. Jeder Sechste ist sogar psychisch krank, wie aus dem aktuellen Arztreport der Krankenkasse Barmer hervorgeht. Philipp erkannte schon früh, dass er professionelle Hilfe benötigt: Mehrmals wandte er sich an Psychotherapeuten, im Frühjahr 2017 begann er schließlich ein Online-Training. Damit ist er einer der wenigen, die sich psychologische Unterstützung suchen.

„Ein Großteil der Betroffenen kommt nie zu einem Arzt oder Psychotherapeuten“, sagt Daniel David Ebert, Psychologe an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist Initiator des Portals Studi Care, das Studenten mit psychischen Schwierigkeiten kostenlose Online-Trainings anbietet.

"Die meisten Betroffenen erreichen wir nicht"

Der Anteil von jungen Erwachsenen, die von psychischen Beschwerden betroffen seien, sei sogar noch größer als die Daten des Arztreports nahelegten, warnt Ebert. „Wir wissen, dass wir die meisten Betroffenen mit unserem Gesundheitssystem nicht erreichen.“ Selbst bei denjenigen, die den Schritt wagten, dauere es oft acht bis zehn Jahre, bis sie sich Hilfe suchten.

Philipp erinnert sich noch gut an das Ende des ersten Semesters: „Ich bin durch zwei Klausuren gefallen, das führte zu einer Art Sinnkrise. Ich habe mich gefragt, ob ich überhaupt weitermachen soll.“ In den darauffolgenden Semestern lief es gut, doch die Zweifel blieben.

„Der Leistungsdruck ist seit dem Bologna-Prozess extrem hoch“, sagt Psychologe Ebert. Hinzukämen bei Studenten oftmals ein Wohnortswechsel, ein neues soziales Netz und insgesamt eine neue Lebenssituation. Das alles zusammen könne zu Überforderung bis hin zur psychischen Erkrankung führen.

Prüfungsängste, Konzentrationsprobleme, Orientierungsschwierigkeiten

Diplom-Psychologin Ranja Kaiser kennt das allzu gut. Sie arbeitet bei der Zentralen Studienberatung der Ruhr-Universität Bochum. Dort werden Studenten psychologisch beraten, täglich gibt es eine Notfallsprechstunde bei einem Psychotherapeuten. Häufige Anliegen in der Beratung, sagt Kaiser, seien Prüfungsängste, Konzentrationsprobleme oder Orientierungsschwierigkeiten, aber auch Schwierigkeiten mit der Familie oder dem Partner und Trennungsschmerz.

Auch bei Philipp kam vieles zusammen. Die Trennung von seiner Partnerin nahm ihn schließlich so sehr mit, dass er sein Studium an einer anderen Universität fortsetzte: „Dort ging es mir dann auch deutlich besser.“ In seiner besonders schlechten Phase besuchte er die Uni höchstens zehn Mal in einem Semester: „Ich habe auch viel vor mir hergeschoben.“ Motivationsverlust und „Aufschieberitis“ sind häufige Schwierigkeiten von Studierenden, ist die Erfahrung von Psychologin Kaiser.

Einen großen Anteil an seinen späteren Zweifeln hat für Philipp im Rückblick schon die Grundentscheidung für das Studium gehabt. „Ein Studium war nie mein Wunsch, ich habe es eher aus der Not heraus angefangen“, sagt der 28-Jährige. „Als meine Freunde angefangen haben, zu studieren, hatte ich Angst, den Absprung zu verpassen. Ich dachte, ich muss irgendetwas machen.“ Die berufliche Orientierung sei bei vielen schwierig, sagt Kaiser: „Der Entscheidungsdruck, das Richtige zu finden, ist hoch.“

Zahl der ratsuchenden Studenten etwa gleichgeblieben

Studenten galten bislang als weniger anfällig für psychische Probleme. Ob junge Menschen heute ein höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken, als noch vor ein paar Jahren, sei auf Basis der derzeitigen Daten schwer zu beurteilen, sagt Daniel David Ebert. „Fest steht: Das Risiko ist enorm hoch.“

Die Zahl der Studenten, die in der Zentralen Studienberatung der Universität Bochum Rat suchen, ist in den vergangenen Jahren in etwa gleichgeblieben, wie Psychologin Kaiser erklärt. „Dennoch ist die Tendenz stärker, dass Ratsuchende mit hoher psychischer Belastung unsere Beratungsstelle aufsuchen.“ Dies hänge etwa mit verschärften Studienbedingungen seit der Bologna-Reform und der daraus resultierenden höheren Arbeitsbelastung zusammen. Dazu komme hoher Druck, die Regelstudienzeit einzuhalten und finanzielle Belastung.

„Menschen mit psychischen Problemen oder Erkrankungen scheitern sehr oft in ihrem Studium“, sagt Psychologe Ebert. Auch die Leistungen der Betroffenen seien oft schlechter als bei anderen Studenten. Philipp schloss sein Studium im Herbst 2017 erfolgreich ab - trotz seiner Schwierigkeiten. (epd)

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