zum Hauptinhalt
Treffpunkt, Laufsteg, Lesesaal und Heimat – das sind Italiens Strände. Jetzt stört Premier Draghi die Idylle.

© mauritius images / Maryam Schind

Die EU will am Lido Marktwirtschaft durchsetzen: In Italien droht eine Strand-Revolution

Die Stabilimenti balneari sind Kulturgut des Landes. Jetzt will die Regierung bei den Tausenden kostenpflichtigen Badeanstalten für mehr Konkurrenz sorgen.

Eine langgezogene Bucht mit hellem, fast weißem Sand, das kristallklare, grünlich-blaue Tyrrhenische Meer, die pontinischen Inseln Ponza, Palmarola und Ventotene am Horizont: Hier, unweit des Badeortes Sperlonga etwa 120 Kilometer südlich von Rom, betreibt Sergio Palazzo mit seiner französischen Frau Marie-Jeanne und einigen Freunden seinen „Lido Selvaggio“. Es ist ein verhältnismäßig kleines, sehr familiäres „stabilimento balneare“, wie die Bezahlstrände in Italien genannt werden. Fünfzig „ombrelloni“ (Sonnenschirme) in zwei Reihen, eine Strandbar mit Küche in den Dünen, eine Terrasse mit zwei Dutzend Tischen.

Seine Gäste, die er alle mit Vornamen kennt, begrüßt Sergio mit den Worten „ciao amico mio!“ Es folgt die obligatorische Schwatz über das Wetter und die Politik; Barmann Andrea bereitet unaufgefordert einen Espresso, während Bademeister und Rettungsschwimmer Francesco schon einmal den reservierten Sonnenschirm aufklappt und die Liegen herrichtet.

Zu Mittag bereiten Sergio und Marie-Jeanne dann „Spaghetti alle vongole“ oder „Calamari grigliati“; gegen Abend lockt die Bar mit einem französischen Chablis-Weißwein oder mit einem Aperol Spritz. Sergio sagt zu seinem Leben am Strand: „Das Meer ist unsere Seele und unsere Rettung. Solange das Meer da ist, wird Italien nie untergehen.“

[Der tägliche Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leser:innen informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]

Die kostenpflichtigen Badeanstalten sind Inbegriff der italienischen Strandkultur: Im „stabilimento“ verbringen die meisten Italiener schon als Kinder und Jugendliche die Sommer; als Erwachsener treffen sie dort ihre alten Freunde und Bekannten wieder; der Strand ist Treffpunkt, Laufsteg, Fitness-Studio, Markt, Sauna, Lesesaal, Meditationsraum und Liebesnest in einem. Mit anderen Worten: Das „stabilimento“ ist Heimat, Identität, „Italianità“. Außerdem stehen mit Duschen, Toiletten und Umkleidekabinen diejenigen Infrastrukturen zur Verfügung, die das Strandleben erst richtig angenehm gestalten.

So sind die „stabilimenti“ ein hochemotionales Thema in Italien. Deshalb hat es bisher auch kein Regierungschef gewagt, den heiligen Strandfrieden zu stören. Romano Prodi, Silvio Berlusconi, Mario Monti, Enrico Letta, Matteo Renzi, Paolo Gentiloni, Giuseppe Conte: Alle kannten die Bolkestein-Direktive, die die EU 2006 erlassen hatte und mit der die öffentlichen Dienstleistungen liberalisiert und für private Anbieter geöffnet wurden.

Für die italienischen Lidos bedeutete die Direktive: Die staatlichen Konzessionen für die von ihnen belegten Strandabschnitte müssten in regelmäßigen Abständen neu ausgeschrieben werden, weil es sich bei den Stränden um öffentlichen Grund handelt. Eine Zeitbombe für die Lido-Betreiber. Aber alle, die Politik eingeschlossen, taten so, als hörten sie das Ticken nicht.

30.000 Lidos, das sind Millionen Wähler

Betroffen von der Bolkestein-Direktive sind 30 000 Lidos, die während der Badesaison 300 000 Familienmitglieder und Mitarbeiter beschäftigen und pro Jahr rund 15 Milliarden Euro Umsatz verbuchen. Die Bezahlstrände sind also ein wichtiger Bestandteil der touristischen Infrastruktur Italiens – und deren Betreiber, Mitarbeiter und Gäste ein beträchtliches Wählerpotential.

Mario Draghi, Regierungschef.
Mario Draghi, Regierungschef.

© REUTERS

So hat Rom bisher das genaue Gegenteil dessen getan, was Brüssel vorschreibt. In den 16 Jahren seit dem Inkrafttreten der Bolkestein-Direktive haben sämtliche Regierungen die Konzessionen stillschweigend ohne Ausschreibung verlängert. Besonders dreist hat sich die letzte Regierung von Giuseppe Conte verhalten, die die Konzessionen im Jahr 2018 gleich bis Ende 2033, also um 15 Jahre, verlängerte. Unter Draghi ist nun Schluss damit.

Die Regierung hat in dieser Woche ein neues Gesetz beschlossen, das die Dauer der aktuellen Konzessionen auf Ende 2023 beschränkt. Wer sein Strandbad über dieses Datum hinaus weiter betreiben will, muss sich um eine neue Bewilligung bewerben und sich dabei gegen andere Interessenten durchsetzen. Bei der Vergabe der neuen Konzessionen werden künftig eine Reihe von Kriterien berücksichtigt werden, insbesondere die vorgesehenen Dienstleistungen für die Kunden, das Preis-Leistungsverhältnis, aber auch mögliche Beeinträchtigungen der Natur.

Im Rahmen der Neuausschreibungen soll auch dafür gesorgt werden, dass nicht immer mehr freie Strände durch Lidos belegt werden. Schon heute sind über 50 Prozent der 7500 Kilometer langen italienischen Küstenlinie von „stabilimenti“ besetzt. In Frankreich besteht diesbezüglich eine gesetzliche Obergrenze von 20 Prozent.

Der Regierungsentscheid hat unter den Betreibern der Bezahlstrände große Verunsicherung ausgelöst. Denn die öffentliche Ausschreibung der Strandkonzessionen könnte leicht zur Folge haben, dass ein Lido-Betreiber seinen Platz für einen anderen Mitbieter räumen muss – möglicherweise für einen ausländischen Tour-Operator oder einen Finanzinvestor.

Betreiber fürchten Enteignung

Für Roberto Santini, Betreiber eines beliebten Lidos im toskanischen Badeort Forte dei Marmi, käme das schlicht einer „Enteignung“ gleich. „Fast alle von uns sind kleine Unternehmer, die ihr ,stabilimento' mit viel Leidenschaft und großem finanziellen Einsatz aufgebaut haben und in Schuss halten. Wir sollten von der Regierung dafür belohnt und nicht bestraft werden“, betont Santini. Genauso denkt auch Sergio Palazzo in Sperlonga – und mit ihm alle anderen Lido-Betreiber des Landes.

Aber nicht nur die bisherigen Konzessionsinhaber, sondern auch die Gäste sind beunruhigt. In Zeiten, in denen der der nationale Autobauer Fiat gerade im französischen Stellantis-Konzern aufgegangen ist und die gute alte Alitalia unter dem neuen, einfallslosen Namen ITA einen ausländischen Käufer sucht, ist den meisten Italienern der Gedanke, dass ihr Lido, dem sie von Kindesbeinen an die Treue halten, ab 2024 von Chinesen oder anderen ausländischen Investoren geführt werden könnte, beängstigend und absurd.

Das Unbehagen gegenüber Draghis neuer Revolution ist jedenfalls sehr verbreitet – ob das Parlament im laufenden Wahljahr die Courage hat, das von der Regierung vorgelegte Gesetz abzusegnen, bleibt abzuwarten. Lega-Chef Matteo Salvini hat bereits vielsagend angekündigt, dass man die Vorlage noch werde „verbessern“ müssen. Und „verbessern“ kann im Zusammenhang mit den stabilimenti nur eines bedeuten: verwässern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false