
© Alex Wong/AFP
Zikaden an Amerikas Ostküste: Invasion der Trommelwirbler
In ein paar Wochen werden Milliarden von Zikaden bis zu 18 US-Bundesstaaten heimsuchen - und dieses Mal steht auch die Hauptstadt Washington im Zentrum.
Stand:
Amerikas Hauptstadt steht eigentlich gerne im Zentrum des Geschehens. Und über Millionen Besucher freut sich Washington in der Regel auch, vor allem im Frühling, der die Stadt mit ihren vielen Kirsch- und Magnolienbäumen, Azaleen und Rhododendren in ein wahres Blütenmeer verwandelt. Zumindest war das vor Corona der Fall.
Doch bei diesem Ereignis, das nach mehreren ruhigen Jahren nun unvermeidbar wieder ansteht, graut es die meisten Washingtonians schon lange im Vorfeld. Im Mai, so die Vorhersage der Biologen, fallen die Zikaden ein – und zwar Milliarden von ihnen gleichzeitig. Ausgerechnet im Mai, den die Einwohner noch rund um die Uhr im Freien verbringen können, bevor die schwüle Sommerhitze viele nach drinnen treibt.
Die Invasoren des Jahres 2021 gehören der Zikaden-Gruppe „Brood X“ an, einem der größten Schwärme. 17 Jahre lang (bei manchen anderen Schwärmen sind es 13 Jahre) leben sie als Larven in der Erde, wo sie sich von Baumharz und Pflanzensaft ernähren, bevor sie schlüpfen und dann mit ohrenbetäubendem Lärm über ihr Zielgebiet hereinbrechen.
Tagelanger, ohrenbetäubender Lärm
Wer das schon mal erlebt hat, berichtet von einer tagelangen Geräuschkulisse, die nicht abbricht, von Fenstern, die nicht mehr geöffnet werden können, abgebrochenen Picknicks – und am Ende Schaufeln, die bereitgestellt werden, um die Einfahrt von toten Insekten-Haufen zu befreien. Immerhin währt das Spektakel nicht lange: Ein überirdisches Zikaden-Leben dauert nur vier bis sechs Wochen.
[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung]
Bei knapp 18 Grad Celsius Bodentemperatur ist es soweit: Die etwa daumengroßen Insekten-Larven kriechen aus dem Boden und häuten sich. Über der Erde geht es dann nach ungefähr einer Woche zur Sache: Mit unglaublichem Trommelwirbellärm von bis zu 90 Dezibel – das entspricht der Lautstärke aus einem Orchestergraben oder dem eines Lkw – locken die Männchen die Weibchen an. Nach der Befruchtung haben die Männchen ihre Aufgabe erfüllt und sterben.
Die Weibchen legen noch mehrere hundert Eier in Baumrinden ab und sterben dann ebenfalls. Sechs bis acht Wochen später schlüpfen die Larven, fallen zu Boden und begeben sich dann wieder für die nächsten siebzehn Jahre in ihre Quarantäne im Erdreich – bis die laute Show von Neuem beginnt. Bei der Washingtoner „Brood X“-Truppe ist das im Jahr 2038 der Fall.
Die Insekten sind für Menschen ungefährlich
Die unterschiedlichen Schwärme treten in unterschiedlichen Jahren und an verschiedenen Orten vorwiegend im Osten der USA auf. „Brood X“, auch „Great Eastern Broot“ (große Ost-Brut) genannt, ist in der Vergangenheit in einem riesigen Gebiet zwischen dem nördlichen Michigan, Illinois im Mittleren Westen und dem Südstaat Georgia aufgetaucht. Mitte Mai, vielleicht auch etwas früher, könnte „Brood X“ in insgesamt 18 Staaten auftauchen, sagte der Forstwissenschaftler Matt Kasson von der West Virginia University der „New York Times“. Darunter sind Kentucky, Ohio, New Jersey, New York, Pennsylvania, Tennessee und eben Washington DC samt Teilen seiner Nachbarstaaten Maryland und Virginia.
Schädlich sind die Zikaden anders als etwa Heuschrecken nicht, sieht man von Schäden an kleineren Bäumen und Sträuchern ab, von denen sie sich ernähren. Für Menschen sind sie ungefährlich, da sie ungiftig sind und weder stechen noch beißen. Aber viele empfinden die Insekten mit den riesigen roten Knubbelaugen als eklig, schon allein wegen ihrer Größe und Allgegenwärtigkeit – vor allem, wenn tagelang jeder Schritt knirscht, weil man über die toten Insekten läuft, und Spaziergänger die Viecher ständig aus dem Gesichtsfeld und den Haaren verscheuchen müssen.
Im Internet kursieren zahlreiche Rezeptideen
Manche entwickeln eine regelrechte Phobie und trauen sich in solchen Zeiten überhaupt nicht mehr auf die Straße. In diesem Jahr könnten sie davon profitieren, dass aufgrund der Pandemie ohnehin vor allem im Homeoffice gearbeitet wird. Im Zuhausebleiben sind auch die meisten Amerikaner inzwischen Profis.
Aber es gibt auch einige, die sich wie die Experten auf das seltene Spektakel freuen. Diese Laien-Wissenschaftler sind aufgerufen, auf Internetseiten wie iNaturalist.org und www.cicadamania.com oder über die App Cicada Safari zu melden, wenn sie die ersten Zikaden erspähen. Und Experte Kasson weist für experimentierfreudige Gourmets auch darauf hin, dass Zikaden essbar sind.
Die Beschreibung des Nährstoffgehalts klingt nach moderner, gesunder Küche: Zikaden sind glutenfrei, haben einen hohen Anteil von Protein, aber nur wenig Fett und Kohlenhydrate. Sie schmeckten ähnlich wie Tofu, sagt Kasson. Und wie bei Tofu hänge der Geschmack davon ab, „in was man sie kocht“. Andere vergleichen die Insektenkonsistenz mit der von Krabben. Im Internet finden sich Rezepte zu schokoladeüberzogenen Zikaden, Zikaden aus dem Wok nach Sichuan-Art und natürlich, wir sind ja in Amerika: Zikaden-Pizza.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: