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Im Visier. In vielen amerikanischen Großstädten wie hier in Los Angeles gibt es spezielle Polizeieinheiten, die Obdachlose kontrollieren.

© REUTERS

Obdachlose in den USA: Ohne Heim und ohne Rechte

Zehntausende Obdachlose leben in US-Städten. Niemand weiß, wie viele es sind. Sie fühlen sich von der Polizei verfolgt – die meisten sind Afroamerikaner.

„Ich bin ein Mensch. Aber ich werde behandelt wie ein Tier“, ruft Floyd Parks in die Mikrofone. Die Sonne strahlt ihm ins Gesicht, der 60-Jährige blinzelt und wischt sich Schweiß von der Stirn. Seine Stimme ist rau und brüchig. „An der einen Ecke heißt es: weg! An der nächsten Ecke: weg! Wo sollen wir denn bleiben?“, fragt er. „Ich hoffe, jemand hört das hier“, sagt er noch, bevor er die Treppen des New Yorker Rathauses verlässt. Normalerweise hört Floyd Parks kaum einer zu. Er verbringt seine Tage und Nächte in Straßenunterführungen in Harlem.

Rund 50 Obdachlose, Anwälte und Aktivisten haben sich an diesem Mittag Mitte Oktober vor dem Dienstsitz von Bürgermeister Bill de Blasio versammelt. Dazu Kamerateams und Zeitungsreporter. „Wohnungsschlüssel statt Handschellen“, steht auf einem der vielen Plakate. Die Männer und Frauen tragen blaue T-Shirts, gesponsert von der Non-Profit-Organisation „Picture the Homeless“, die zur Pressekonferenz geladen hat und sich gegen die Kriminalisierung von Obdachlosen und für mehr Unterkünfte einsetzt. Während die Redner ihre Wut hinausbrüllen, laufen Rathaus-Mitarbeiter aus dem sandsteinfarbenen Gebäude in die Mittagspause. Sie schauen irritiert.

In New York ist die Zahl der Obdachlosen auf dem höchsten Stand seit der Großen Depression 1929. Die Unterkünfte – „shelter“ genannt – zählen derzeit 58 700 Frauen, Männer und Kinder. Das sind mehr Menschen, als Greifswald Einwohner hat. Die Zahl der New Yorker, die auf Sammelplätze angewiesen ist, hat sich im vergangenen Jahrzehnt fast verdoppelt (im Oktober 2005 waren es 32 000). Besonders erschreckend ist, dass derzeit fast 23 000 Kinder und Jugendliche in Obdachlosenunterkünften leben. Die Zahlen stammen vom „Department of Homeless Service“. Doch die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Es gibt keine Auskunft darüber, wie viele tausende New Yorker auf Bürgersteigen, Parkbänken oder in der Subway übernachten.

Die Politik reagiert langsam

In New York und anderen US-Großstädten reagiert die Politik allmählich auf das immer größer werdende Problem. Ende September hatte de Blasio verkündet, in den nächsten vier Jahren eine Milliarde US-Dollar investieren zu wollen. Bereits 2014 hatte de Blasio einen Zehn-Jahres-Plan vorgestellt, dem zufolge 200 000 neue, bezahlbare Wohnungen entstehen sollen. Außerdem sollen Mietsteigerungen gedrosselt und Mieterrechte gestärkt werden. Zusammen mit seiner Frau Chirlane McCray will sich de Blasio vor allem um Obdachlose mit psychischen Problemen kümmern. So soll zum Beispiel die New Yorker Polizei, die immer wieder durch Gewalttaten auffällt, besser auf entsprechende Situationen vorbereitet werden.

Die Stadt Los Angeles hatte Ende September mit Blick auf die vielen Obdachlosen sogar den Ausnahmezustand ausgerufen. In der Westküstenmetropole gibt es momentan rund 26 000 Menschen ohne feste Bleibe. Seit Bürgermeister Eric Garcetti vor zwei Jahren das Amt übernommen hat, ist die Zahl der Obdachlosen um zwölf Prozent gestiegen. „Jeden Tag, wenn wir zur Arbeit gehen, sehen wir Menschen, die herumliegen. Ein Symbol für die Krise dieser Stadt“, sagte Garcetti. In ganz Kalifornien sind offiziell rund 115 000 Menschen obdachlos. Doch während die Stadtregierungen in New York und Los Angeles Gelder und Unterstützung versprechen, fühlen sie die Obdachlosen verfolgt und erniedrigt.

Der New Yorker Floyd Parks trägt Jeans, T-Shirt und Cap. „Das ist alles, was ich besitze“, sagt er und stützt sich auf seinem Rollator ab. Früher habe er als Krankenfahrer gearbeitet. Dann habe sich seine Frau scheiden lassen. Parks wurde depressiv, verlor 2003 seine Wohnung und lebte seither in Obdachlosenunterkünften. „Doch da haben sie mich beklaut. Außerdem fallen die Häuser fast auseinander und sind überfüllt“, sagt der Afroamerikaner. In der Not entschloss er sich, auf der Straße zu leben. Dort sei der größte Feind die Polizei. „Manchmal verscheuchen sie uns drei Mal am Tag“, sagt Parks.

Die Faust in die Höhe

Jetzt tritt Norman Siegel vor die Mikrofone. Der 72-jährige Anwalt war zwischen 1985 und 2000 Direktor der „New York City Liberties Union“, einer 1951 gegründeten Bürgerrechtsvereinigung. Siegel trägt Lederschuhe und Mantel. Hinter ihm positionieren sich die Obdachlosen. Für sie ist er ein Held. „Diese Menschen brauchen eine Würde. Sie blockieren noch nicht mal Straßen. Sie sitzen nur. Das ist legal. Was die Polizei macht, ist illegal“, ruft der in New York geborene Siegel. Er bestätigt, was so viele Obdachlose beklagen: die ständige Kriminalisierung. „Es gehört offensichtlich zur Taktik von Bürgermeister Bill de Blasio und Polizeichef William Bratton, Razzien in Obdachlosenlagern durchzuführen“, sagt der Anwalt.

Anfang Oktober hatte das Magazin „Vice“ in einem großen Report über jene Razzien berichtet. Spezielle Polizeieinheiten – auf der Straße „warrant squads“ (Haftbefehltruppen) genannt – würden demnach regelmäßig nachts zwischen 3 und 5 Uhr Obdachlosenunterkünfte durchforsten. Gesucht werden Leute, gegen die offene Haftbefehle ausstehen. „Wer 1996 ein Ticket wegen öffentlichen Urinierens bekommen hat, ist in diesem System immer noch drin“, bestätigte ein Polizist dem Magazin.

Anwalt Siegel sagt dazu: „Wir müssen wahre Alternativen aufzeigen, in denen diese Menschen leben können. Nicht nur brüchige Häuser oder Gefängnisse oder Psychiatrien.“ Während seiner Rede streckt Siegel immer die Faust in die Höhe. Es ist nicht das erste Mal, dass der stadtbekannte Anwalt vor dem New Yorker Rathaus spricht. Sein Gegner ist der Bürgermeister, ob er nun Rudolph Giuliani, der von 1994 bis 2001 im Amt war, Michael Bloomberg (2002 bis 2013) oder de Blasio heißt. Siegel hat gegen sie alle demonstriert.

Und dann spricht Siegel noch ein Thema an, das ihm besonders wichtig sei. „Das Obdachlosenproblem in den USA ist ein Rassismusproblem“, sagt der Jurist. Tatsächlich sind 60 Prozent der Obdachlosen in New York schwarz, während nur ein Viertel der Bevölkerung schwarz ist. „Schaut sie an!“, ruft Siegel zum Schluss. Die Frauen und Männer in den blauen T-Shirts hinter ihm antworten: „Schaut uns an!“ Es sind fast nur Afroamerikaner.

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