zum Hauptinhalt
Ein Freigesprochener teilt aus. Jörg Kachelmann und seine Frau Miriam. Foto: dapd

© dapd

Panorama: Polemik im Aufwind

Jörg Kachelmanns „Opfer-Abo“: Warum das Unwort des Jahres dieses Mal unangemessen ist.

Berlin - Immer ist es kalt und grau draußen, wenn die sprachkritische Jury ihr „Unwort des Jahres“ verkündet, und immer hat auch die Wahl dieses Wortes etwas Verdruckstes, trägt den Grauschleier der Vorsicht und demonstrativen Dezenz. „Opfer-Abo“ soll es sein fürs Jahr 2012 – nicht gerade ein Modewort massenhaften Vorkommens. Aber darauf kommt es der Jury legitimerweise auch nicht an, denn sie möchte Formulierungen finden, die sie unabhängig von ihrer Verbreitung als sachlich unangemessen und inhuman empfindet. „Opfer-Abo“ ist ein Begriff, der auf Jörg Kachelmann zurückgeht, und die Begründung lautet: Er stelle Frauen „pauschal und in inakzeptabler Weise“ unter den Verdacht, sexuelle Gewalt zu erfinden und damit selbst Täterin zu sein.

Das kann man so sehen – und würde diesen Begriff einem Politiker oder anderen Volksredner generell sicher auch nicht durchgehen lassen. Kachelmann ist aber – legen wir den Freispruch als Maßstab zugrunde – selbst Opfer, und er hat natürlich das Recht, sich in einem Interview in polemischer Art zu einer Stimmung zu äußern, die ihn in eine gesellschaftliche Katastrophe geführt hat. „Das ist das Opfer-Abo, das Frauen haben“, sagte er in mehreren Interviews zu seinem Prozess, „Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden. Menschen können aber auch genuin böse sein, auch wenn sie weiblich sind.“

Sein „Opfer-Abo“ besagt also ausgeführt: Unsere Gesellschaft unterstellt Männern in Fällen sexueller Gewalt von vornherein die Täterschaft, und Verleumdung sei eine effektive und weit verbreitete Waffe geworden. Ob das so ist, darüber lässt sich lange debattieren; Kachelmann hat diese Debatte aus eigener Betroffenheit auf einen Begriff zugespitzt. Ist das inhuman? Der Fall erinnert ein wenig an Helmut Kohls heiß diskutiertes Fast-Unwort von 1993: Eine wirtschaftlich erfolgreiche Nation wie die deutsche, so sagte er, lasse sich nicht als „kollektiver Freizeitpark“ organisieren – eine sehr gelungene, polemisch zugespitzte Formulierung, die in der Folgeberichterstattung widersinnig auf die Behauptung reduziert wurde, Kohl habe Deutschland und damit seine Bürger als kollektiven Freizeitpark beschimpft. Darin liegt die fundamentale Schwäche des „Unworts“: Die Wahl entkleidet die Begriffe jeglichen Zusammenhangs und zeigt damit nur eine nach Belieben zu verzerrende Oberfläche.

Schauen wir, was es noch so gegeben hat auf den weiteren Plätzen. Die „Pleite- Griechen“ belegen den zweiten Platz. Eine Quelle wird nicht explizit genannt, aber es ist offensichtlich, dass damit die „Bild-Zeitung“ gemeint ist, deren Berichterstattung über die finanzielle Lage Griechenlands zweifellos mehr als nur Grundzüge einer Kampagne trägt. Auch hier geht es wieder um polemische Zuspitzung, aber die Situation ist eindeutiger als bei Kachelmann – populistische Effekthascherei im originären und vorsätzlich aggressiven Boulevard-Stil.

Auf den dritten Platz kam ein vermutlich kurzlebiges Wort, das aber am klarsten zeigt, wie „Unworte“, wenn man sie denn unbedingt küren will, wirklich funktionieren. Nämlich als politisch motivierter Neusprech knapp an der Lüge vorbei: „Lebensleistungsrente“. Dahinter steckt ein Konzept der Rentenaufstockung um einen kleinen Betrag, und das dafür erfundene Wort gibt vor, diese eher symbolische Zahlung entspreche der jeweiligen „Lebensleistung“. Der dritte Platz wäre der erste gewesen – nur sieht es nicht so aus, als habe die Idee als solche das Jahr 2012 überlebt.

Häufig las man vor der Wahl die Erwartung, die „Schlecker-Frauen“ hätten das Zeug zum Unwort des Jahres. Daraus wurde nichts, und das ist auch vernünftig. Denn es gibt die Schlecker-Frauen, sie haben sich selbst unter diesem Begriff organisiert. Und inhuman, wenn überhaupt, mag die Tatsache sein, dass sie entlassen wurden – das Wort ist es sicher nicht. Bernd Matthies

Zur Startseite