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Der „Patriot“-Park liegt in der russischen Kleinstadt Kubinka nahe Moskau.

© picture alliance / Sergei Ilnits

Russland: Putin lässt den Reichstag erstürmen - in seinem Disneyland

Russland spielt Krieg: In einem Militärpark bei Moskau wird der Sturm auf den Reichstag an diesem Sonntag nachgestellt.

Die entscheidende Schlacht wird noch einmal geschlagen. Es kann keinen Zweifel geben, dass sie wieder siegreich ausgeht. Der Sturm auf den Berliner Reichstag beginnt an diesem Sonntag pünktlich um 10 Uhr. Der Ort ist diesmal aber nicht die deutsche Hauptstadt wie im Mai 1945, sondern die russische Kleinstadt Kubinka in der Nähe von Moskau. In dem 23.000-Seelen-Nest am Kilometer 55 der Moshaisker Chaussee gibt es seit 1931 eine Militärgarnison und seit zwei Jahren einen Park namens „Patriot“.

Der ist eine Art Disneyland ohne Achterbahnen und andere Spaßfaktoren. Dafür mit Panzern und Kanonen – eine weltweit in dieser Größenordnung einzigartige Einrichtung. Hier wird nun der „Sturm auf Berlin“ neu in Szene gesetzt, die letzte Schlacht des Zweiten Weltkrieges auf europäischem Boden. Dafür brauchte es die – verkleinerten – Attrappen des Reichstags und umliegender Straßen. Ein gewaltiges Arsenal an historischer Kriegstechnik wird aufgeboten. Es gibt authentisches Artilleriefeuer, echte Luftangriffe und vieles mehr.

Ein „absolut einzigartiges Seherlebnis“, versprachen die Veranstalter in Russland im Vorfeld. Auf „komfortablen Tribünen“ könne der Besucher in die Atmosphäre des Zweiten Weltkrieges eintauchen und eine Geschichtsstunde unter freiem Himmel erleben. Ein aufregendes Spektakel für die ganze Familie also – unmittelbar am Vorabend des „Tages des Sieges“. Mit ihm wird am 9. Mai, in diesem Jahr zum 72. Mal, der Triumph über den deutschen Faschismus begangen. Es ist der wichtigste Feiertag in Russland.

Die Moskauer betrachten das Spektakel als Mordsspaß

Das Spektakel von Kubinka hat seinen Preis. Umgerechnet 30 bis 40 Euro für eine Karte sind gemessen am russischen Durchschnittseinkommen kein Kleingeld. Doch die Moskauer betrachten den Reichstagssturm offensichtlich als einen Mordsspaß, den man sich nicht entgehen lässt. Vor allem die teuersten Karten waren schon einen Monat vor dem Ereignis fast ausverkauft.

„Selbst im russischen Film hat es so etwas noch nicht gegeben“, zeigt sich Igor Panin begeistert. Er muss es wissen. Panin ist einer der bekanntesten Stuntmen des Landes und hat selbst in Dutzenden opulent inszenierten russischen Kriegsfilmen mitgespielt. Jetzt ist er in Kubinka dabei – so wie rund 100 seiner Kollegen und mehr als 1000 Komparsen. Sie bilden den Kern der Show, zeigen den Nahkampf, stürzen sich brennend von Ruinen und haben noch viele weitere Szenen wochenlang einstudiert. „Das wird einen starken Eindruck machen“, ist Panin überzeugt.

Als Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor einigen Monaten ankündigte, Russland werde den Reichstag zum Zwecke der militärischen Erziehung der Jugend nachbauen, löste das Irritationen aus. Vor allem der Satz, den der Minister als Erklärung dafür folgen ließ, warum es ausgerechnet der Reichstag sein müsse. Die russische Jugend, sagte der Minister sinngemäß, solle nicht einfach ziellos herumstürmen, „sondern an einem konkreten Ort“ trainieren. Das Bauunternehmen „Oboronstroi“ beruhigte auf merkwürdige Weise: Für die Sicherheit der „Kämpfer“ würden die Treppenaufgänge sowie Fenster mit spezieller Polsterung abgedeckt. Das Dach werde fürs Hissen der Siegesfahne mit rutschsicherem Polycarbonat belegt.

Seit Schoigu sein Amt 2011 übernahm, hat er viel getan, um das Ansehen der russischen Armee in der Öffentlichkeit wieder zu heben. So erfand er beispielsweise die Sportart Panzer-Biathlon, die live im Staatsfernsehen übertragen wird und zu deren Weltmeisterschaft in diesem Winter sogar ein Team der Bruderarmee aus dem fernen Venezuela anreiste. Im vergangenen Jahr gründete das Verteidigungsministerium die Organisation „Junarmija“ (Junge Armee), in die inzwischen mehr als 5000 Jugendgruppen aus dem ganzen Land eingetreten sind. Die Besten von ihnen dürfen nun den Reichstag stürmen.

Das Gelände ist 5000 Hektar groß

Im Park für „Kultur und Erholung Patriot“, wie das 5000 Hektar große Gelände mit vollem Titel heißt, sind in den vergangenen Jahren Exponate aus den Armeemuseen des ganzen Landes zusammengetragen worden. Obwohl es das Wort „getragen“ angesichts des Gewichts der stählernen Ungetüme nicht wirklich trifft. Vor dem Park gab es in Kubinka bereits seit 1978 eines der größten Panzermuseen der Welt. In ihm waren Trophäen aus dem Zweiten Weltkrieg ebenso zu sehen wie der legendäre T-34 und seine gefürchteten Nachfolger. Vor drei Jahren investierte das russische Verteidigungsministerium dann umgerechnet 300 Millionen Euro in ein gewaltiges Kongresszentrum und Ausstellungshallen, in denen alljährlich die russische Rüstungsindustrie ihre größte Werbeveranstaltung abhält. Für „Kultur und Erholung“ gibt es in Kubinka Hüpfburgen mit Fleckentarn und Restaurants, die Armeerationen auf der Speisekarte führen. Besucher können auf Panzern und Haubitzen herumklettern, ein nachgebautes Partisanendorf oder eine originalgetreue Frontlinie besuchen.

Verteidigungsminister Schoigu zeigte sich kürzlich begeistert, dass sich der Park in Kubinka so gut entwickelt. Die Moskauer nehmen die eine Stunde Fahrt von der Hauptstadt gern in Kauf. Der Minister plant nun weitere Parks der ganz besonderen Erholung in vier Militärbezirken und bei der Nordmeerflotte. Das nächste Objekt könnte die legendäre Garnisonsinsel Kronstadt vor den Toren von St. Petersburg werden, heißt es.

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