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Der Segler Jürgen Kantner ist von der islamistischen Terrorgruppe Abu Sayyaf auf den Philippinen getötet worden.

© AFP

Enthauptung auf den Philippinen: Tödliche Freiheit des Seglers Jürgen Kantner

Der Deutsche Jürgen Kantner lebte auf den Weltmeeren ohne die Zwänge einer bürgerlichen Existenz. Doch eine zweite Entführung überlebte der Segler nicht – Islamisten auf den Philippinen enthaupteten ihn.

Am Ende zwangen sie ihn, eine letzte hilflose Botschaft auf eine provisorische deutsche Fahne zu kritzeln: „Meine letzte Stunde. Jürgen Kantner“. Er hielt sie in die Kamera, mit leerem Blick. Man ließ ihn sich in ein ausgehobenes Grab stellen und präsentierte ihn in orangefarbener Kleidung wie einen Guantanamo-Gefangenen. Das Ultimatum war am Sonntag abgelaufen, die Terrorgruppe Abu Sayyaf, die den 70-jährigen Segler im November des vergangenen Jahres auf den Philippinen in ihre Gewalt gebracht hatte, enthauptete ihr Opfer am frühen Nachmittag.

Jürgen Kantner hatte sein Leben stets in größtmöglicher Freiheit führen wollen. Vor den Zwängen einer bürgerlichen Existenz floh er auf die Meere und in ein Vagabundenleben, das ihn als Segler weit herum brachte. Sein Geld verdiente er lange mit Bootsüberführungen, kaufte und verkaufte Jachten. Längst hatte er sich eine eigene zugelegt, die 16 Meter lange Stahlslup Rockall. Mit ihr wollte er schließlich nach Asien aufbrechen, ins Paradies ohne Jahreszeiten, wo einer wie er, ohne finanzielle Mittel, halbwegs anständig würde leben können.

Als er die Reise 2007 von Frankreich aus beginnt, wird er von seiner zehn Jahre jüngeren Partnerin Sabine Merz begleitet. Sie hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, will einen Neuanfang. Und so verkauft sie Wohnung und Habseligkeiten, lässt ihre Kinder und die Familie zurück. Die philippinische Polizei wird ihren Leichnam 2016 im Inneren der Rockall finden, als die Jacht vor der Südküste der Inselgruppe treibend aufgespürt wird.

Jürgen Kantner wird verschleppt. Für den Segler muss der Angriff durch die bewaffneten Banditen ein niederschmetternder Moment sein. Hoffnungsloser schon dadurch, dass sie es zum zweiten Mal mit der erbarmungslosen Logik von Terroristen zu tun bekommen. 2008 waren Kantner und Merz vor der somalischen Küste in die Hände von Piraten gefallen und hatten 52 Tage lang in den Bergen von Puntland als Gefangene ausharren müssen, bevor die Bundesregierung sie freikaufte. Der Lösegeldbetrag soll damals eine Million Euro betragen haben. Sabine Merz blieben nur zwei silberne Ohrringe.

In Somalia bringt ihm das Militär Kalaschnikows zur Reparatur

Die Rockall war der ganze Besitz des Paares gewesen. Als Kantner erfährt, dass die Reste seiner Jacht im Hafen von Berbera gesichtet worden sind, macht er sich nach Somaliland auf den Weg, um das Boot wieder instandzusetzen. Er will sich nicht unterkriegen lassen, die Gefahr ignoriert er. Sechs Monate repariert er die Rockall in der Glutsonne Afrikas, seine mechanischen Kenntnisse, sein handwerkliches Geschick sind dort bald sehr gefragt. Das Militär schützt ihn und bringt ihm Kalaschnikows zur Reparatur.

Schließlich kommt Sabine Merz nach, und gemeinsam stechen sie im Sommer 2009 zur nächsten Etappe in See. „Ein zweites Mal holt uns keiner mehr raus“, sagt Kantner damals dem Tagesspiegel.

Das Paar trifft Vorkehrungen, um sich im Notfall selbst mit Waffengewalt verteidigen zu können. Die Gefahr, abermals von Piraten am Horn von Afrika angegriffen zu werden, ist zu jener Zeit noch nicht gebannt. Kantner und Merz wollen den Indischen Ozean überqueren und erst in Malaysia wieder Halt machen. Für Zwischenstopps auf den Malediven oder Sri Lanka fehlt ihnen das Geld. Sieben Jahre später treffen sie auf ihre Mörder. Wobei die Terroristen erklären, Sabine Merz habe das Feuer auf sie eröffnet.

Es gibt tausende Blauwassersegler wie diese beiden. Aussteiger, die sich in der Zivilisation mit ihren Regeln und Konventionen nicht mehr wohlfühlen und sich der Seetüchtigkeit eines Bootes anvertrauen. Sie leben im Rhythmus der Wetterlagen und reparieren, was an Bord kaputt geht. Bald sehen ihre Boote zerlumpt und schäbig aus, aber ihre Barfußbesatzungen kommen immer irgendwie durch.

Philippinische Soldaten inspizieren nach der Nachricht von Jürgen Kantners Ermordung durch Abu Sayyaf ein Fahrzeug an einem Checkpoint auf Mindanao.
Philippinische Soldaten inspizieren nach der Nachricht von Jürgen Kantners Ermordung durch Abu Sayyaf ein Fahrzeug an einem Checkpoint auf Mindanao.

© AFP

Doch die Weltmeere sind nicht ungefährlicher geworden, seit die Piraterie vor Somalia eingedämmt worden ist. Insbesondere aus westafrikanischen sowie asiatischen Seegebieten werden immer wieder Überfälle und Entführungen gemeldet. Die Philippinen, die jahrelang als sicher gegolten hatten, erlebten 2015 einen Anstieg um hundert Prozent auf elf gemeldete Attacken. Ob Deutsche dabei gezielt als Opfer ausgewählt werden, ist nicht bekannt. In einer Videobotschaft vom 14. Februar bat Jürgen Kantner die deutsche Botschaft in Manila um Hilfe. Das struppige weiße Haar und der zerzauste Bart des Weltumseglers waren in den Monaten der Haft dünn und transparent geworden.

Die Lösegeldforderungen von Abu Sayyaf hätten sich auf 570000 Euro belaufen, heißt es. Doch die Regierung des autoritär regierenden Präsidenten Duterte bereitet offenbar eine große Offensive gegen die Dschungelkrieger vor. Schon vor Ablauf des Hinrichtungsultimatums habe sie Abu-Sayyaf-Lager angegriffen, heißt es. Kantner geriet offenbar zwischen die Fronten. Seine letzten Worte lauteten: „Sie töten mich jetzt.“ Was sie dann taten.

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