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Que(e)r durch Berlin: Von Pissoirs und schwulen Nazis
Bei einer queeren Radtour kann man an altbekannten Orten Neues über die Geschichte Berlins lernen. Das Beste: Über das eigene Handy kann man die Tour machen, wann und wie man will.
Stand:
Das Eldorado war ein queerer Treffpunkt der Zwanzigerjahre? Ja, das ist bekannt. Auch, dass im Tiergarten ein steiniges Denkmal an die ermordeten und verfolgten Homosexuellen im Nationalsozialismus erinnert, dürfte – und sollte – für viele Berliner*innen zum Allgemeinwissen gehören.
Deutlich weniger Menschen wissen: Öffentliche Pissoirs in Berlin, die scherzhaft „Café Achteck“ genannt wurden, waren vor 150 Jahren beliebte Treffpunkte für schwule Männer. Schwule Nazis durften Sexpartys schmeißen, solange sie in Hitlers Gunst standen. Und ein Berliner Polizeipräsident bot mal eine Opfersprechstunde für erpresste Homosexuelle in seinem Wohnhaus an.
Queer ist, was nicht queer scheint
Die Geschichte des queeren Berlins ist voller interessanter Details. Rafael Nasemann kennt viele von ihnen. Wer sie hören will, dem erzählt er sie – und zwar, wann und wo man will. Der Stadtführer hat eine queere Fahrradtour erstellt, sie vertont und zusammen mit Routen und Bildern auf der Smartphone-App „Smart Guide“ hochgeladen. Zu finden ist sie unter dem Namen „Homolulu LGBTIQ* Biketour“.
Ausgestattet mit Snacks, Wasser und einem vollen Handyakku geht es los. Bis zu drei Stunden soll die Tour dauern. Startpunkt ist die Neue Wache Unter den Linden. Ein absoluter Touri-Spot. Auch die nächsten Stationen, Bebelplatz und Gendarmenmarkt, scheinen erst mal keine Geheimtipps zu sein. Und vor allem nicht: queer.
Bis mich Rafael Nasemann durch meine Kopfhörer eines Besseren belehrt. Denn hier, Unter den Linden, war früher ein beliebter Cruising-Ort. Heißt: Hier haben sich schwule Männer zum Sex getroffen. Und zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts.
Genauso der Gendarmenmarkt, an dem früher mehrere besagter Café Achtecks zu finden waren. Wahrscheinlich war auch ein Mann öfters hier: Karl Heinrich Ulrichs. Er gilt als der erste schwule Mann weltweit, der sich öffentlich geoutet hat. 1867 war das, vor dem Deutschen Juristentag. Ulrichs forderte damals die Abschaffung der Sodomiegesetze, die sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Er ist damit einer der ersten Kämpfer der deutschen Homosexuellenbewegung.
Schade ist nur, dass es hier und auch bei den anderer Stops viel Geschichte, aber recht wenig Bezug zu den Orten gibt, an denen man sich befindet. Spannender wird es da an den Orten, an denen Nasemann in das queere Nachtleben Berlins eintaucht.
So fahre ich an dem grauen Betongebäude erst mal vorbei, über dem ich per App erfahre, dass hier die letzte Polizeirazzia in einer Berliner Schwulenbar stattfand – das „Segersche Lokal“. Heute scheint das unauffällige, etwas heruntergekommene Gebäude in der Jägerstraße leerzustehen.
Erich Kästner und das Eldorado
Die schönen Momente der Tour sind die, in denen man an unerwarteten Orten Überraschendes erfährt. An der russischen Botschaft zum Beispiel – die früher mal etwas ganz anderes war. Oder am Dennewitzplatz, an dem ich die queeren Kultorte der berühmt-berüchtigten Zwanzigerjahre kennenlerne, von denen man heute fast nichts mehr sieht.
Die Tour endet am altbekannten Ort, dem Eldorado, in dem sich heute ein Bio-Supermarkt befindet. Aber auch hier erfährt man noch mal Neues. Zum Beispiel, dass Erich Kästner das Eldorado offenbar so faszinierend und abstoßend zugleich fand, dass er manchmal hier verkehrte – und 1930 ein Gedicht darüber schrieb.
Nasemanns queere Berlin-Tour ist ein toller Tipp für den Spätsommer. Auch, wenn er sich manchmal weit von den Orten entfernt, an denen man sich gerade befindet, sich in kleinteiligen historischen Fakten verliert, und die Geschichten sich weitgehend auf das schwule Berlin konzentrieren. Lesbische und trans Geschichte spart er eher aus.
Die meisten Audios sind kurz, prägnant und unterhaltsam. Und das Tolle: Die Tour eignet sich wunderbar, wenn man Besuch in der Stadt hat. Denn ganz nebenbei fährt sie viele der klassischen Sehenswürdigkeiten Berlins ab: den Berliner Dom, das Brandenburger Tor, Schloss Bellevue, die Siegessäule. Auf den ersten Blick sind sie nicht queer. Auf den zweiten Blick sind es manche eben doch.
Einen Minuspunkt gibt es trotzdem noch: Die App leitet für die Routen von Stop zu Stop ständig auf andere Kartenapps um, immer wieder stürzt sie ab. Für die drei Stunden braucht es deshalb Geduld und einen ordentlichen Handyakku – oder im besten Fall eine Powerbank zum Aufladen zwischendurch.
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