zum Hauptinhalt
Grünes Licht gibt es nicht immer vom Rest der Familie, wenn sich ein Elternteil als homosexuell outet.

© C. Hardt/Imago

Spätes Coming-out: Mama ist lesbisch – und jetzt?

Mama oder Papa outen sich als homosexuell – eine Herausforderung für die gesamte Familie. So gehen Töchter und Söhne mit dieser Situation um.

Es war im Mai, vor jetzt fast sieben Jahren. Andrea (heute 25) und ihr Vater Stefan Größl (51) essen gerade zu Abend. Der Fernseher läuft. Andrea erzählt von einem Krebspatienten, sie ist Pflegerin. Plötzlich wird Stefan ganz still.

Er macht den Fernseher aus. „Ich muss dir was erzählen“, sagt er zu seiner damals 19-jährigen Tochter. Er stockt, weiß nicht wie er es sagen soll. Andrea hat Angst, ihr Vater hätte Krebs – nein, nach langem Herumdrucksen klärt Stefan auf, wovor er sich sein ganzes Leben lang versteckt hat: „Ich bin schwul.“

Andrea die Tränen - vor Erleichterung. Sie nimmt ihren Vater in den Arm, drückt ihn fest, sagt, wie lieb sie ihn hat und stolz auf ihn ist. Der Gedanke daran, dass ihr Vater dieses Geheimnis so lange mit sich herumgetragen hat und das Gefühl hatte, er müsse sich den sozialen Normen fügen, hat sie traurig gemacht. „Ich hatte oft das Gefühl, dass er unglücklich ist, aber ich wusste einfach nicht, was ich machen soll.“

Stefan ist nicht der einzige, der sich bereits ein klassisches Familienleben aufgebaut hat und sich erst spät dazu entscheiden konnte, zu seiner Homosexualität zu stehen.

Beratungen mit spätem Coming-out sind sehr gestiegen

In den vergangenen Jahren hat sich gesetzlich und gesellschaftlich einiges getan, was die Anerkennung von Homosexualität angeht. So fassen immer mehr Schwule und Lesben Mut sich zu outen. Das bestätigt Sozialpädagogin Irmengard Niedl, die unter anderem im Schwerpunkt Regenbogen-Patchworkfamilien berät. Diese entstehen, wenn homosexuelle Eltern mit Kindern aus früheren heterosexuellen Beziehungen leben.

[Mehr Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im monatlichen Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel - hier geht es zur Anmeldung.]

Beratungen mit spätem Coming-out, gerade auch mit Familie, seien in den letzten acht Jahren extrem gestiegen. „Trotz rechtspopulistischen Strömungen ist die Gleichstellung im Gange und die Akzeptanz nimmt zu“, sagt Niedl. Neben der gesellschaftlichen Akzeptanz, spielen bis zur Entscheidung zum Coming-out mit Kindern jedoch noch viele andere Faktoren eine Rolle.

Ein Elternteil ist homosexuell - was tun?

Der homosexuelle Elternteil habe oft große Angst, dass sein Kind ausgeschlossen werde, nicht mehr dieselben Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten habe und dass man das Kind verletze. Die Trennung vom Partner sei dabei der große Knackpunkt, erklärt die Sozialpädagogin. Man müsse zwei Ebenen auseinanderhalten: die Ebene der Liebesbeziehung und die der Elternschaft. Was sich bei einem Coming-out auflöst ist die Ebene der Liebesbeziehung. Die Kunst sei dann, die Ebene der Elternschaft so liebevoll und wertschätzend wie möglich zu gestalten.

Nicht die Homosexualität eines Elternteils ist für viele Kinder das Problem - sondern die Trennung der Eltern.
Nicht die Homosexualität eines Elternteils ist für viele Kinder das Problem - sondern die Trennung der Eltern.

© Jens Ressing/dpa

Als Henrik Lorisch (41) sich vor dreieinhalb Jahren outete, haben er und seine Freundin Marina* genau das nicht geschafft: Marina instrumentalisierte die beiden Töchter Jara* (15) und Lilly* (12). Als es um Henriks Zustimmung des Umzugs der Kinder nach Brandenburg ging, schrieb die damals neunjährige Lilly ihrem Vater über WhatsApp: „Mama geht diese Woche vor das Gericht.“

[* Die Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.]

Wenn Henrik die Zustimmung zum Umzug geben würde und seinen Kindern somit „keine Steine in den Weg setzt, dann wird es beim Anwalt nicht zu teuer“, schrieb Jara. Marina verarbeitete ihre Enttäuschung Henrik gegenüber mit Hass und beeinflusste so auch das Verhältnis der Kinder zu ihrem Vater.

Trennungen im heterosexuellen Kontext können ähnlich verlaufen

Diplom-Sozialpädagogin Kornelia Jansen, die ein Regenbogenfamilien-Projekt des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland stellvertretend leitete, sagt, dass es Paaren nach einem späten Coming-out ohne eine ausreichende Beratung eher selten gelinge, eine Trennung mit Blick auf das Kind zu gestalten. Sowohl im Trennungsprozess als auch bei der Verarbeitung der „homosexuellen Offenbarung durch einen Partner bzw. eine Partnerin“ würde häufig die verletzte und verlassene Seite das Zepter in den Entscheidungen über Sorge-, Wohn- und Umgangsrecht übernehmen.

Dabei sei zu erwähnen, dass auch Trennungen im heterosexuellen Kontext ähnlich verlaufen können. Kinder würden dann Szenarien und Vorwürfe schildern, die sie von den betreuenden Erwachsenen gehört und übernommen, jedoch nicht mit dem anderen Elternteil selbst erlebt und erfahren haben. Dies könne dazu führen, dass ein Kind das Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammenlebt, ablehnt, erklärt Jansen. Um dies zu vermeiden, dürften Gefühle wie Wut, Angst, Kränkung, gar Rachegefühle eines Partners beziehungsweise einer Partnerin nicht mit dem Kind in Kontakt kommen.

16 Jahre waren Henrik und Marina zusammen. Das Bedürfnis nach Männern kam schleichend. Immer wieder hatte er Affären, bis er sogar drei Monate lang eine Art „Doppelleben“ führte. Er hatte eine zweite Beziehung mit einem Mann, hat seine Kinder belogen und nur noch wenig Zeit mit der Familie verbracht – bis er wusste, es muss sich etwas ändern. Er habe sich als „Hetero-Vater“ einfach nicht mehr wohlgefühlt.

Er erklärt seinen Kindern, dass er eher Männer liebt als Frauen

Henrik outete sich dann vor seiner Freundin und verließ die Familie. Eine Woche darauf traf er die Kinder, erklärte ihnen, dass er eher Männer liebt als Frauen. „Du brauchst mir das nicht zu erklären, Mama hat mir das schon erklärt“, antwortete Lilly. Dass ihr Vater schwul ist, war jedoch nie ein großes Thema; die Trennung der Eltern machte den Kindern aber zu schaffen. Lilly weinte oft am Telefon, Jara war eher verschlossen. Henrik spürte Angst und Distanz bei seinen Töchtern.

Seinen neuen Partner wollten Jara und Lilly nie kennenlernen. Für sie war er derjenige, der ihren Vater aus der Familie gerissen hat. „Ich schick‘ dir mein Zeugnis, aber zeig’s nicht deinem Freund!“, schrieb Jara ihrem Vater. Henrik hat das akzeptiert und trifft sich mit seinen Töchtern zum Eis essen oder im Kino.

Auch Diplom-Psychologin Janine Dieckmann, die sich in ihrer bisherigen Forschungstätigkeit mit dem Thema „Reaktionen von Familienmitgliedern auf späte Coming-Outs in der Familie“ befasste, erklärt, dass für Kinder das viel bedeutendere Thema die Trennung der Eltern und nicht die Homosexualität eines Elternteils sei. Wichtig sei es, dass die Eltern für Gespräche bereit sind.

Außerdem sei es besonders für Kleinkinder bedeutend zu sehen wie Geschwister oder Großeltern auf das Coming-out reagieren. „Es sollte das erweiterte Familiensystem miteinbezogen werden und sich nicht davon losgelöst werden“, sagt Dieckmann. Die Forscherin hat in einer Umfrage unter betroffenen Eltern herausgefunden, dass ein Drittel der Kinder vorerst negativ reagierte, ein Drittel keine Emotionen zeigte und ein Drittel der Kinder gut mit dem Coming-out umging, wobei sich die Beziehung zum homosexuellen Elternteil sogar intensivierte.

"Ich bin froh, dass Mama nicht mehr mit der Hetero-Lüge leben muss"

So war es bei Ines Schmidt* (22): Ein halbes Jahr nachdem ihre Mutter sich von ihrem Vater trennte, stellt sie Ines ihre beste Freundin vor, in die sie sich verliebt hat. Die Beziehung geht jedoch in die Brüche. Ein Jahr später lernt Ines eine zweite Frau kennen, die für sie wie ein dritter Elternteil wird. „Ich bin froh, dass meine Mama jetzt nicht mehr mit dieser Hetero-Lüge leben muss“, sagt Ines. Die Veränderung durch das Coming-out habe ihre Beziehung zueinander nur noch gestärkt.

Zum einzigen Problem wurde die Schule: Ines wird öfters blöd angemacht, auch von Lehrern – „da fehlt ein Mann im Haushalt“, sagten sie. In solchen Fällen sei es wichtig, dass der Elternteil mit spätem Coming-out sich selbst akzeptiert, alle Vorurteile aus dem Weg räumt und dem Kind selbstbewusst begegnet.

"Starke Mütter geben starke Kinder"

„Starke Mütter geben starke Kinder“, sagt Beraterin Irmengard Niedl. Die Mutter oder der Vater müssen Geduld haben – das Kind habe auch ein Coming-out zu durchlaufen. Da Eltern und Kinder dabei unterschiedlich schnell und schutzbedürftig seien, müsse aufeinander abgestimmt werden, wann und wie offen mit der Regenbogenfamilienidentität gegenüber außerfamiliären Bezugspersonen umgegangen wird, sagt Diplom-Sozialpädagogin Kornelia Jansen.  Wenn sich die Familie dem Coming-out Prozess stellt und Kinder wissen, dass ihre Eltern ihre Eltern bleiben, können gerade Kinder aus spät-geouteten Regenbogenfamilien eine positive Haltung zu „etwas anderen Familienstrukturen“ aufbauen und fühlen sich oft beschenkt, erklärt Kornelia Jansen.

Auch Andrea Größl ist glücklich mit ihren zwei Vätern. Stefan lernt ein halbes Jahr nach seinem Coming-out Alex kennen. Im September 2016 heiraten die beiden, sind aber vorerst nur verpartnert – doch am gleichen Tag zwei Jahre später gehen Stefan und Alex die Ehe ein.

„Alex ist eine völlige Vaterfigur für mich. Er ist immer für mich da. Wir sind eine Familie“, erzählt Andrea. Auch Stefans älteste Tochter Alexis (32) ist mit dem Coming-out ihres Vaters locker umgegangen. „Ich hab‘ mir schon immer sowas gedacht“, hat sie gesagt. Ein Jahr nach dem Outing feiern Stefan, Partner Alex, Stefans Ex-Frau Michelle und ihr Mann mit beiden Töchtern Andrea und Alexis gemeinsam Weihnachten.

* Anmerkung der Redaktion: Der Name von Ines Schmidt ist in Wirklichkeit ein anderer, er wurde im Mai 2020 auf Wunsch der Interviewten nachträglich anonymisiert.

Paulina Porer

Zur Startseite