
© MARC VORSATZ
Abenteuer im Land der Drachenblutbäume: Sokotra, das Galapagos des Indischen Ozeans
Die Natur des entlegenen Sokotra-Archipels ist einzigartig. In 20 Millionen Jahren Isolation schufen Wind, Wetter und Evolution ein Gesamtkunstwerk mit Canyons und Sanddünen.
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Wie gelangt man auf eine große, in den Weiten des Indischen Ozeans verlorene Insel, die nicht einmal Google Flights findet, obwohl es dort einen internationalen Flughafen gibt?
Vielleicht mit dem Schiff? Theoretisch möglich. Aber selbst für erfahrene Weltreisende eine organisatorische Herausforderung. Obendrein zeitintensiv und teuer. Ein Frachter ab Abu Dhabi wäre eine Option. Segelboot? Könnte noch viel langwieriger und richtig teuer werden. Zumindest, wenn man vorab die Meerenge zwischen dem Roten Meer und dem Golf von Aden passieren muss und von somalischen Piraten gekapert wird.
Also doch mit dem Flieger? Auf einer Verbindung, die es eigentlich gar nicht gibt? Genau. Kann Ottonormalverbraucher aber nicht vorab buchen. Deutsche Reiseveranstalter mit dem richtigen Draht vor Ort schon. Jeden Dienstag hebt eine Air-Arabia-Maschine als Regierungscharter der Emirate in Abu Dhabi Richtung Sokotra ab – auf die „Insel der Glückseligkeit“. So die Übersetzung des Namens, der vermutlich ursprünglich aus dem Sanskrit stammt.
Zwar gehört der gleichnamige Archipel offiziell – noch – zum Jemen, die Macht haben jedoch 2018 mit ihrer Militärintervention die Emiratis übernommen, traditionell eng mit den Sokotri verbunden. Die Insulaner fühlten sich ohnehin vom fernen Mutterland im Stich gelassen. Sowohl das mit Jemen verfeindete Saudi-Arabien als auch die Vereinigten Arabischen Emirate bauen seitdem massiv Infrastruktur aus. Die Einheimischen freut es. Straßen und Schulen entstehen, die beiden Insel-Krankenhäuser wurden modernisiert, medizinische Versorgung ist kostenlos, schwere Fälle werden gar nach Abu Dhabi ausgeflogen.
Der erste Eindruck ist allerdings ernüchternd. Die Inselhauptstadt Hadibu, knapp 10.000 Einwohner, empfängt den Besucher mit einer schier unvorstellbaren Menge an Plastikmüll. Es gibt kaum ein Fleckchen Erde, auf dem keine Tüten oder plattgetretenen Flaschen herumliegen. Etwas abseits, hinter einer Lagerhalle verrotten filetierte Haikadaver mit abgeschnittenen Flossen in der brütenden Sonne. Riecht nach chinesischen Händlern. Eigentlich illegal, auch auf Sokotra. Für die gelben Schmutzgeier in Kompaniestärke ein üppiges Mahl.

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Nach der Erledigung der geforderten Permits geht es mit geländegängigen Jeeps los. Vorbei an einem großen Militärgelände, wo ausrangierte Russen-Panzer an die kommunistische Zeit der Demokratischen Volksrepublik Jemen erinnern, die mit der Wiedervereinigung des Landes 1990 Geschichte war.
Dann endlich auf der Küstenstraße Richtung Camp. Aus den Lautsprechern tönt fremdartige Musik. Gesungen wird auf Soqotri, der alten Inselsprache ohne Schrift, die langsam der arabischen weicht. Die Lieder klingen nach Sehnsucht und Exotik und machen neugierig. Guide Nasim entpuppt sich als eloquenter und interessierter Zeitgenosse, der gerne Fragen zu Sokotra und seinen Bewohnern beantwortet. In den nächsten Tagen wird abends am Lagerfeuer viel Zeit dafür sein.

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Als die Hauptstadt Hadibu auf Miniaturgröße geschrumpft ist, zeigt sich die Natur von ihrer grandiosen Seite. Linker Hand der Indische Ozean in betörendem Türkisblau, rechter Hand steil aufragende Felswände, an deren Ocker sich die bis zu 200 Meter hohen feinsandigen Dünen von Arher türmen, in denen so mancher Fernsehturm komplett verschwinden würde.
Licht und Wolken dirigieren ein Farbenspiel zwischen kalten Weiß und warmen Gelb. Die Fahrt führt vorbei an den Fundamenten eines alten Steinhauses, das einst für den Jemenbewunderer und Literaturnobelpreisträger Günter Grass gebaut worden sein soll. Glaubt zumindest Nasim zu wissen.
Vor dem kleinen Zeltlager am Strand patrouilliert eine Schule Großer Tümmler in Ufernähe, fast als ob die Delfine die Neuankömmlinge begrüßen wollten. Darf es noch ein bisschen mehr sein? Ja, vielleicht Schnorcheln in der geschützten Bucht. Blutrote Federsterne sitzen auf orangefarbenen Gorgonien, die im glasklaren Wasser zu tanzen scheinen, ein großer Schwarm silbrig glänzender Stachelmakrelen zischt vorbei, der keinerlei Angst vor diesen ungelenken Gestalten mit Schnorcheln zeigt.
Sie alle geben einen winzig kleinen Einblick in das überbordende maritime Leben des Sokotra-Archipels, das fast allen Menschen verborgen bleibt. Eine Tauchbasis gibt es nicht, wie auch sonst keinerlei touristische Infrastruktur außerhalb von Hadibu. Ein Jammer, selbst für Taucher, die schon viel von den sieben Meeren gesehen haben.

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Von 1998 bis 2020 studierten Meeresbiologen vom Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut mit Unterbrechungen dieses einzigartige Biotop über und unter der Wasseroberfläche. In zwei Jahrzehnten kategorisierten sie 300 Steinkorallenarten, ebenso viele Krebsarten, fast 800 Fischarten und haben sogar einige neue Spezies entdecken können.
Doch es war der österreichische Tauchpionier, Abenteurer, Zoologe und Dokumentarfilmer Hans Hass, der erstmals 1957 die nahezu unbekannte Unterwasserwelt erforschte und die Inselgruppe ins Schaufenster der maritimen Wissenschaftswelt hievte. Durch Zufall. Denn auf dem Weg vom französischen Cannes zu den indischen Nikobaren havarierte sein Forschungsschiff, der Dreimastschoner „Xarifa“, in den schwierigen Gewässern vor Sokotra. „Die Schöne“, so die Übersetzung aus dem Arabischen, lief auf ein Riff und musste später in Aden repariert werden.
Als einzigartig und faszinierend präsentiert sich das Unesco-Biosphärenreservat und Weltnaturerbe auch an Land, das sich am besten auf einer Trekkingtour erkunden lässt. Im Gegensatz zur Unterwasserwelt waren die vier Inseln des Archipels 20 Millionen Jahre isoliert. Wind und Wetter formten eine bizarr anmutende Landschaft, die Evolution erschuf über 1000 endemische Tier- und Pflanzenarten.
Sie legen Zeugnis der beeindruckenden Resilienz und Anpassungsfähigkeit von Flora und Fauna ab. 37 Prozent der Pflanzen- und 90 Prozent der Reptilienarten sowie sämtliche Süßwasserfische sind endemisch. Der Slogan „Galapagos des Indischen Ozeans“ kommt nicht von ungefähr. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist der entlegene Archipel im Indischen Ozean durchaus vergleichbar mit dem des Pazifiks.

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Wer auch nur ein Bruchteil dieser Vielfalt mit eigenen Augen sehen möchte, bekommt nichts geschenkt. Per aspera ad astra. Ein rauer Weg führt zu den Sternen – und zu den urzeitlichen Sokotra-Drachenblutbäumen, unter denen Ziegenhirten mit ihren Herden Schatten finden. Diese merkwürdig anmutenden, pilzförmigen Gewächse sind – natürlich – ebenfalls endemisch. „Aus ihrem tiefroten Harz stellen wir seit Menschengedenken blutstillende Medizin, Färbemittel und kostbaren Weihrauch her“, verrät Naturführer Nasim. „Viele Sokotri sagen dem Harz gar magische Kräfte nach.“ Wen wundert’s?
Ohne Herkules würde es diese Bäume gar nicht geben, sagt die Legende, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. In einem erbitterten Kampf auf Leben und Tod habe der Halbgott den hundertköpfigen Inseldrachen besiegt. Das Blut des Ungeheuers floss als dunkelroter Strom über das ganze Land und gebar, einem Wunder gleich, die Drachenblutbäume.

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Im Hier und Jetzt sind sie das Sokotrischste von Sokotra. Stolze Botschafter einer Urzeit, als an den Menschen noch ewig nicht zu denken war. Symbol und Sinnbild einer aus der Zeit gefallenen Insel. Ihr Konterfei findet sich auf jedem der paar Dutzend Nummernschilder. Autos und Straßen gibt es nur sehr wenige auf der Insel, die so groß wie Mallorca ist. Wanderwege gar nicht, Ziegenpfade umso mehr.
Der einzige Drachenblutbaumwald der Welt wächst auf dem entlegenen Firmhin Plateau, 600 Meter über dem Meeresspiegel. Er ist das wohl beliebteste Fotomotiv der wenigen Touristen aus Europa und Amerika. Wo Fotografen beim Anblick des archaischen Waldes das Herz aufgeht, sehen die meisten Einheimischen alltägliches Ziegenfutter auf kargem Grund. Und wo die Urlauber beim Anblick der Ziegen die Vollstrecker der unwiederbringlichen Naturzerstörung erkennen, sehen Sokotri ihre Lebensgrundlage. Ein bislang ungelöstes Spannungsfeld.

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In der Tat fressen die frei umherlaufenden Tiere die Triebe der jungen Drachenblut- und Gurkenbäume, letztere ebenfalls endemisch. Mit dem Bau des Flughafens 1999 und dem Ausbau des Seehafens in den Folgejahren war es mit dem Dornröschenschlaf vorbei. Die Wirtschaftsleistung wuchs signifikant. Arme Hirtenfamilien profitierten von gestiegener Nachfrage, konnten in Folge ihre Herden vergrößern. Die jahrhundertealte natürliche Balance war dahin.
Da die Vierbeiner zudem recht gute Kletterer sind, kann man schon heute junge Drachenblut- und Gurkenbäume nur noch an unzugänglichen Felsvorsprüngen erspähen. Vor verheerenden Zyklonen wie Chapala 2015 oder Mekunu 2018 sind allerdings auch sie nicht gefeit. Zwar gibt es erste geförderte Aufforstungsprogramme, doch über die können sich nur Ziegen wirklich freuen. Für schützenden Maschendraht fehlt Geld.
Hier könnten bei weitsichtigem Management Einnahmen aus sanftem Inseltourismus helfen, Mensch und Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wenn nichts passiert, muss Herkules irgendwann wieder einen hundertköpfigen Drachen töten, um das Wunder von Sokotra auferstehen zu lassen.

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Zwischen Strand und dem Fermhin-Plateau liegt eine Ausnahmelandschaft mit zerklüfteten Karst- und Tafelbergen und atemberaubend tiefen Canyons. Der Abstieg in die brütend heißen Wadis ist steil und selbst mit leichtem Tagesrucksack ziemlich schweißtreibend. Ohne die Kamele, die das große Gepäck, die Zelte und Küchenausrüstung auf weiten Umwegen zum nächsten Nachtlager tragen, würde es nicht gehen.
Die Anstrengung lohnt. Links und rechts der halsbrecherischen Pfade blühen endemische Flaschenbäume, die an mannshohe afrikanische Affenbrotbäume mit aufgeblähtem Stamm und langen Wurzeln auf kahlem Fels erinnern. Wüstenrosen nennt sie der Volksmund hier wegen ihrer betörend schönen, roten Blüten. Umso unscheinbarer, ja wohl nur mit dem geübten Auge eines Einheimischen zu entdecken, verharren die Socotra-Chamäleons in den Zweigen junger Myrrhebäume.
Der Naturpool im Homhil-Schutzgebiet mit seinem phänomenalen Panoramablick auf den Indischen Ozean ist so etwas wie das Epizentrum des Inseltourismus. Hier trifft man sich, tauscht sich aus, nimmt ein kühlendes Bad. Zu Stoßzeiten können schon mal 15 oder gar 20 Wanderer zusammenkommen. Ansonsten sieht man unterwegs höchstens mal einen Hirten oder neugierige Kinder mit feingeschnittenen Gesichtern. Woher sie kommen, wohin sie gehen, und wo sie wohnen, wird ihr Geheimnis bleiben.
Die wüstenähnlichen weißlich-gelben Zahek-Dünen im Süden der Insel, die sich weit landeinwärts erstrecken, konturieren einen beeindruckenden Kontrast zur ansonsten felsigen Topographie der Insel. Wäre der Sand nicht so hell und würde am Horizont nicht der Indische Ozean fast unwirklich blau leuchten, könnte man sich in der afrikanischen Sahara oder der Rub Al-Chali auf der Arabischen Halbinsel wähnen. Beide sind, global gesehen, ja auch nicht wirklich weit entfernt.
Es scheint unsichtbare Wege dort zu geben. Ein Junge in rotem T-Shirt und hellem Tuch läuft in der Ferne barfuß durch dieses Meer aus heißem Sand. Sehr gradlinig, wie es aussieht. Zielstrebig. Nichts, was ihn ablenken könnte. Die Szenerie wirkt surreal, erinnert an Antoine de Saint-Exupérys „Kleinen Prinzen“ und seine metaphorische Wüste. Wohin der Junge wohl gehen mag? Wo doch nur Sand vor ihm zu liegen scheint…
Und wohin es mit Sokotra wohl gehen wird? Mit diesem einzigartigen Naturjuwel, dass sich nach paradiesischen 20 Millionen Jahren nicht mehr hinter Unzugänglichkeit verstecken kann.
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