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Bestsellerautorin in San Francisco: Mit Milena Moser durch den Mission District
Zweimal ist die Schweizerin nach San Francisco ausgewandert, in eine Stadt, die für sie Inspirationsquelle und Herausforderung ist. Unsere Autorin hat sie im Latino- und Künstlerviertel getroffen.
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„Armistead Maupin ist schuld“, sagt Milena Moser fast ein wenig verlegen. Die Stadtgeschichten des erfolgreichen US-Autors, in denen sich alles um die unkonventionelle Hausgemeinschaft in der Barbary Lane dreht, hat die Zürcherin Anfang der 1990er Jahre verschlungen und wusste sofort: „Dort möchte ich leben.“ Und das, ohne jemals zuvor in San Francisco gewesen zu sein.
Ich treffe sie an einem warmen Spätsommertag vor der Bäckerei Fox & Lion im lateinamerikanisch geprägten Mission District. Draußen zwei gelbe Bistrotische mit Stühlen, drinnen duftet es nach frisch gebackenem Brot und süßen Teigwaren. Alles wirkt charmant unkompliziert. Durchgestyltes Interieur? Fehlanzeige.
Moser winkt von weitem. Halblange blonde Locken, ein leger sitzendes rotes T-Shirt, Jeans. In ihrer Tasche ein dünner bunter Blazer, farblich auf ihr Outfit abgestimmt. „Auch wenn es in der Mission immer ein paar Grad wärmer ist als im Rest der Stadt, wechselt das Wetter ständig“, erzählt sie. „Wenn der Nebel aufzieht, kann es schlagartig kühl werden“.
Über 20 Bücher hat Moser bislang veröffentlicht, meist über Frauen, die sich neu erfinden, oft autobiografisch gefärbt und mit einer ordentlichen Portion Witz und Ironie. Mit dem Bestseller „Die Putzfraueninsel“, später verfilmt mit Jasmin Tabatabai und Dagmar Manzel in den Hauptrollen, gelang ihr 1992 der Durchbruch.
Die Autorin kommt oft in die Bäckerei, trinkt Kaffee, isst eine Zimtschnecke und beobachtet das Straßenleben. Das Fox & Lion ist für sie ein Ort, um einzutauchen in Stimmen, Gesichter, Gespräche. Gegründet wurde das Geschäft von Xan Devoss, einer nonbinären Künstlerin, die am San Francisco Art Institute studiert hat, unter anderem bei Mosers Ehemann, dem mexikanischen Künstler Victor Zaballa. Ihre eigentliche Berufung jedoch fand Devoss nicht in der bildenden Kunst, sondern in der Herstellung von traditionellem Sauerteigbrot.
Doch Kunst ist nach wie vor präsent. So entstand 2024 an der Hauswand der Bäckerei ein großflächiges Wandgemälde, das sie gemeinsam mit einer Gruppe lokaler Künstlerinnen entwarf – eine Hommage an die gelebte Mural-Tradition, die den Bezirk prägt und ihm sein farbenfrohes Gesicht gibt. „Es ist eine typische Biografie für San Francisco“, erzählt Moser, während wir durch die Capp Street gehen. „Man fängt irgendwo an, macht dann etwas ganz anderes und irgendwie gehört am Ende doch alles zusammen.“
Es geht vorbei an kleinen Autowerkstätten mit offenen Toren, Lagerhallen, Mülltonnen und einfachen Wohnhäusern, aus deren Eingängen es süßlich nach Gras riecht. An der BART-Station 16th Street Mission wird es lebendiger. Von hier aus fahren die Züge unterirdisch quer durch die Bucht nach Oakland und in die Universitätsstadt Berkeley. Doch die Station ist weit mehr als ein reiner Verkehrsknotenpunkt: Sie ist Treffpunkt und kulturelles Zentrum des Viertels.
Auf dem Plaza ein wildes Nebeneinander: Junge Chicanos mit tätowierten Armen, Ältere, die mühsam ihre Rollatoren über die Straße schieben, Studenten in Hoodies mit Kopfhörern. Dazwischen Wohnungslose, mit ihren wenigen Habseligkeiten in Plastiktüten. Hin und wieder eilt ein Anzugträger durch die Szenerie.

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Rund um die Station reihen sich mexikanische Supermärkte und Taquerias dicht aneinander. Aus den offenen Türen riecht es nach gegrilltem Fleisch, Koriander und frisch gebackenen Tortillas. Hier, im Mission District, wurde in den 1960er Jahren der „Mission Burrito“ erfunden – jener XXL-Wrap, der heute weltweit kopiert wird. Anders als die traditionellen mexikanischen Burritos, die eher klein und bescheiden daherkommen, ist die San Francisco-Version eine komplette Mahlzeit für sich: prall gefüllt mit Reis, Bohnen, Fleisch, Salsa, saurer Sahne und Guacamole, fest in Alufolie gewickelt. Lokales Fast Food und Symbol der mexikanisch-amerikanischen Identität im Viertel.
Moser deutet zum Haupteingang der Station. Filigrane Kolibris aus Metall hängen dort, eingebettet in bunte Keramikfliesen mit Blumenmotiven. Sie sind Teil des Kunstwerks „Palazzo del Colibri“ von Victor Zaballa, ihrem Ehemann. Der aus Mexiko-Stadt stammende Künstler verbindet in seinen Arbeiten indigene Symbolik mit Chicano-Kultur, arbeitet mit Materialien wie Metall, Holz und Draht. „In Mexiko gelten Kolibris als Götterboten, stehen für Zukunft und Hoffnung, aber auch für die Reisenden, die Immigranten“.
In den letzten 20 Jahren hat sich die Stadt massiv verändert. Der Tech-Boom im nahegelegenen Silicon Valley spülte viel Geld in die Bay-Metropole und zog IT-Talente aus aller Welt an. Wohnraum wurde knapp und teuer, Preise schnellten in die Höhe und selbst Menschen aus dem Mittelstand konnten sich das Leben in San Francisco plötzlich nicht mehr leisten. „Die Stadt nimmt viel, aber sie gibt auch viel“, sagt Moser, die als europäischer Expat beobachtet und beschreibt, nicht wertet.

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Im Mission District ist die Verdrängung allgegenwärtig. Als die Schweizerin zum ersten Mal in die Stadt kam, war der Bezirk bereits im Wandel, aber noch immer ein lateinamerikanisches Einwandererviertel mit günstigen Mieten. Doch deren Anteil sank stetig, von 50 Prozent im Jahr 2000 auf heute etwa 30 Prozent.
Besonders sichtbar wird die Gentrifizierung in der Valencia Street, nur wenige Blocks entfernt. Was früher eine Alltagsstraße mit einfachen Läden war, ist jetzt eine Flaniermeile mit hippen Cafés, Bars, teuren Restaurants und Fitnessclubs. Bäume wurden am Straßenrand gepflanzt, Parkbuchten mit Bänken und Tischen möbliert. Und wer bei Dandelion Chocolate handgefertigte Pralinen in Geschenkboxen für bis zu 180 Dollar bestaunt, weiß sofort, dass sich das Angebot an Gutverdienende aus IT und KI-Branche richtet.
Aber die Mission hält dagegen. Nur fünf Gehminuten entfernt beginnt die Clarion Alley, eine schmale Gasse, die zeigt, wie deutlich sich ein Stadtteil zu Wort melden kann. Seit den 1990er Jahren ist sie ein lebendiges Freiluftmuseum für Street-Art, vor allem aber ist sie ein politisches Statement.

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Jede verfügbare Wandfläche ist bemalt: Protestbotschaften gegen Zwangsräumungen, Porträts von Aktivisten, Mahnmale für Verstorbene, farbenfrohe Hommagen an die Latino-Kultur. Anders als in der bekannteren Balmy Alley wechseln die Murals hier, werden übermalt, erneuert, kommentieren das aktuelle Zeitgeschehen. „Hier spricht das Viertel und lebt seine ganze bunte Kreativität aus“, begeistert sich Moser.
Wir haben Glück und können Künstler beim Malen beobachten. Gearbeitet wird im Kollektiv, wird jemand nicht fertig, malt ein anderer weiter. Und gibt es etwas Leerlauf, werden über einem Gasbrenner Kartoffelscheiben zu Chips frittiert.
Zweimal ist Moser dem Rufen dieser Stadt gefolgt. Erst lebte sie acht Jahre hier, kehrte in die Schweiz zurück, um 2015 wieder an die Bay zu ziehen. „Wie man in San Francisco glücklich wird“ lautet der Untertitel eines Buches aus ihrer ersten Zeit. Gibt es diese Glücksformel wirklich? „Es ist keine Formel. Es ist die Einladung du selbst zu sein, dich auszuleben, deine Träume zu verwirklichen. Hier darf man sich immer wieder neu erfinden. Das fasziniert mich bis heute“.
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch erreichen wir die Mission Dolores, ältestes Gebäude der Stadt, das im kommenden Jahr 250 Jahre alt wird. Eigentlich sind es zwei Kirchen, die nebeneinanderstehen: eine schlichte Kapelle von 1791 mit 1,20 Meter dicken Lehmziegelmauern, und die prächtige Basilika, die nach dem verheerenden Erdbeben von 1906 neu errichtet wurde.
Die alte Mission überstand das Beben fast unbeschadet, die neuere stürzte ein. Eine der vielen Skurrilitäten, ebenso wie das Kuriosum, dass es innerhalb der Stadtgrenzen keine Friedhöfe mehr gibt. „San Francisco ist an drei Seiten von Wasser umgeben und kann sich nicht ausbreiten“, erklärt Moser. „1900 beschloss die Stadt, Platz für die Lebenden zu schaffen und die Flächen als Bauland zu nutzen“. Nur der kleine Friedhof an der Mission Dolores, später Drehort für Hitchcocks Vertigo, blieb verschont.
Weiter geht es zum Dolores Park. „Der Park ist ein Brennglas der Stadt, hier treffen sich alle: Familien, Tech-Worker, die LGBTQ+-Community, Zugezogene, Touristen. Hier finde ich Inspirationen, beobachte, mache erste Notizen und sammle Eindrücke für meine Kolumnen“.

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Vor allem aber ist die grüne Palmenoase beliebt, weil sie am Hang liegt und im oberen Teil einen weiten Blick auf die Skyline bietet. An diesem warmen Septembernachmittag liegen Dutzende Menschen auf Picknickdecken, lesen, hören Musik oder üben sich in Tai-Chi.
Wenn die Autorin mehr Ruhe braucht, geht sie zum Schreiben in die Cafés des Museums of Modern Art oder des De Young Museums. Beide wurden von den Schweizer Star-Architekten Mario Botta und Herzog & de Meuron entworfen. Zufall? „Vermutlich nicht“, lacht sie.
Wir folgen der 18th Street, die vom Dolores Park zum LGBTQ+-Bezirk Castro führt. Ihr aktuelles Buchprojekt spielt in der Hippie-Zeit, genauer gesagt: in einem pastellblauen viktorianischen Haus, das wir nach wenigen Minuten erreichen.
Für die meisten Passanten ist es eines der typischen San Francisco-Häuser, für französische Touristen ist es ein Wallfahrtsort. Die „Maison Bleue“ war 1971 eine Hippie-Kommune, ein experimenteller Freiraum für junge LGBTQ+ -Kunstschaffende und Aktivisten: ohne Miete, ohne Regeln, ohne Haustürschlüssel. Im Sommer 1971 zog der französische Singer-Songwriter Maxime Le Forestier dort ein und machte mit seinem Chanson „San Francisco“ das Haus in Frankreich berühmt. In San Francisco kennt das Lied kaum jemand.
„Bevor ich anfange zu schreiben, höre ich diesen Song und lasse mich inspirieren“. Mehr will sie über ihr Buchprojekt noch nicht verraten. Nur so viel: Sie recherchiert gerade im neu eröffneten Counterculture Museum in Haight-Ashbury und befragt Zeitzeugen der Hippie-Ära. „Der Summer of Love war eine Zeit, in der Menschen glaubten, die Gesellschaft könne sich ändern – weg vom Gewinn, hin zu Liebe und Solidarität. Naiv, vielleicht, aber ich habe Sehnsucht nach dieser Zeit“.
Wir gehen zurück zum Fox & Lion und bestellen Kaffee. Hat sie das San Francisco aus Maupins Romanen gefunden? „Nicht das aus den Büchern. Aber mein eigenes“.
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