
© Martin Kaluza
Halligenwanderung an der Nordsee: Endlich Watt sehen
Der Horizont eine glatt gezogene Linie, das Meer eine kapriziöse Laune der Gezeiten. Wanderungen durch Schlick und Sand haben ihren speziellen Charme.
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Matthias Hansen geht übers Wasser. Aus Gewohnheit. Er ist die paar Stufen vom Deich in Dagebüll hinabgestiegen, nun schaut er zum Horizont, wo sich ganz klein das erste Etappenziel abzeichnet. Der Himmel durchwachsen, die Luft ein bisschen frisch, weil es immer windig ist an der Nordsee, knapp 30 Kilometer südlich der dänischen Grenze. Die Sonne schaut auch mal hervor, angenehme 18 Grad. „Ein perfekter friesischer Sommer“, sagt Matthias. Zum Vergleich: Süddeutschland schmort heute bei über 30 Grad.
Ein kleines Grüppchen folgt ihm ins Watt: ein befreundetes Ehepaar aus der Nähe von Garmisch-Partenkirchen und der Reporter. Matthias, Wanderführer mit der Lizenz für den Nationalpark Wattenmeer, läuft barfuß voran. „Deine Füße werden schön durchgewalkt werden heute“, sagt er. Gesund sei das.
Die Wanderung beginnt bei ablaufendem Wasser, noch steht es knöcheltief auf dem Watt. Im zügigen Schritt von jemandem, der einen genauen Zeitplan im Kopf hat, geht Matthias voran mit Rucksack, Sonnenhut, Sonnenbrille und, zum Graben, einem Dreizack, der genau genommen ein handlicher Vierzack ist – Standardausstattung eines jeden Wattwanderführers.

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Unser Ziel ist ein dünner Strich am Horizont, auf dem jemand ein Häufchen Legosteine abgelegt hat. Sieben Kilometer sind es bis zur Hallig Oland. Höhenmeter? Mit dem Auge nicht zu erkennen. Aber offensichtlich bewegen wir uns leicht bergab, sonst würde das Wasser nicht vor uns abfließen.
Die heutige Route geht von Dagebüll (das liegt auf dem Festland) zu gleich zwei Halligen: erst nach Oland und von dort noch einmal fünf Kilometer weiter nach Langeneß. Inklusive Fährfahrten von und nach Wyk ergibt das einen hübschen Elf-Stunden-Ausflug. „Hallig-Traumtour“ heißt sie im Veranstaltungskalender.

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Der Weg führt über festes Sandwatt, anders als im Schlickwatt sinkt man gar nicht ein. Die Füße massiert es trotzdem. Wenn das Wasser der Nordsee hier auf- und abläuft, zwei Mal am Tag, spült es den Sand am Boden so hin und her, dass er in kleinen Wellen liegen bleibt. Je weiter das Wasser abläuft, desto mehr Seegras und Wattwurmringel kommen zum Vorschein.
Das Wattenmeer ist eine eigentümliche Landschaft. Nur an wenigen Orten auf der Welt fällt das Wasser an der Küste so flach ab, dass die Gezeitenunterschiede ein riesiges Gebiet freilegen, jeden Tag, alle zwölfeinviertel Stunden. Bis zu 40 Kilometer weit zieht sich die See vor der Küste Nordfrieslands bei Ebbe zurück. Viel Platz also für Wanderungen.

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Die Insel Föhr, auf der Matthias Hansen lebt, ist, anders als die Nachbarn Sylt und Amrum, komplett von Watt umgeben. Schon der Vater arbeitete als Wattwanderführer, genau wie inzwischen der Sohn von Matthias. Mit seinen Gästen läuft er bei Sonnenauf- und Untergang durchs Watt, zu Kormoraninsel und Seehundbänken, von Föhr zum Festland oder hinüber zur Nachbarinsel Amrum. Im Hauptberuf arbeitet er als Tischler. „Im Sommer lasse ich das für drei Monate ruhen“, sagt er. „Juli und August sind die ruhigste Zeit für Handwerker, da kannst du Urlaub machen.“
Eine Küstenseeschwalbe steht flatternd in der Luft, ein weißer Vogel mit schwarzer Kappe und rotem Schnabel, den Blick steil nach unten gerichtet. Sobald sie etwas Essbares erspäht, stößt sie im Sturzflug hinunter ins Wasser. „Das ist der Vielflieger im Watt“, erklärt Matthias, denn im Winter zieht sie bis ins Südpolarmeer, im Frühjahr brütet sie in der Arktis oder im Wattenmeer. Die Seeschwalben befinden sich in guter Gesellschaft. Vor 40 Jahren wurde der Nationalpark auch deshalb eingerichtet, weil Ornithologen erkannt hatten, dass das Watt eine Drehscheibe des ostatlantischen Vogelzugs ist.

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Aus dem Lego-Häufchen am Horizont ist inzwischen eine Warft geworden, so heißen die aufgeschütteten Hügel, auf denen dicht gedrängt die Häuser einer Hallig wie die von Oland stehen. Wenn im Herbst die Sturmfluten anrollen und das flache Land der Marschinseln überfluten, ragen allein die Warften aus den tosenden Wellen heraus. Das nennt man dann Landunter, und es kommt gar nicht so selten vor. In manchen Jahren zwei, in anderen 20 Mal.
Wir gehen an Land und überqueren erst einmal die schmalen Schienen einer Lorenbahn, angelegt in den 1920er Jahren. Die Loren sind ulkige Gefährte Marke Eigenbau, angetrieben von Rasenmähermotoren. Einige haben kastenförmige Aufbauten, damit die „Halliglüüd“ auch bei Regen trocken ans Festland fahren können, zum Parkplatz nach Dagebüll, wo ihre Autos stehen.

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Wie eine sanfte Rampe fällt die Warft zu den Wiesen hin ab. Mit akkuraten Zäunen haben die Bewohner ihr knappes Territorium abgesteckt. 18 Häuser stehen dicht gedrängt wie eine Wagenburg um den Fething, den Teich, in dem das Trinkwasser fürs Vieh gesammelt wird. Wir schauen in die kleine Backsteinkirche, die 1824 gebaut wurde und gleich im ersten Jahr knietief unter Wasser stand, trotz der erhöhten Lage. Die Einrichtung wurde aus anderen Kirchen zusammengetragen, die bei den großen Sturmfluten in der Vergangenheit untergegangen sind.
Der Besuch auf Oland währt nicht lange. Die ganze Einsamkeit des Halliglebens, die Abgeschiedenheit im Meer, das stoische Hin und Her von Ebbe und Flut – man muss es sich für ein paar kurze Momente vorstellen. Denn das ist die Sache bei so einem Abstecher: Kaum ist man angekommen, muss man schon wieder los. Das Wasser wartet nicht. Je nach Tour haben Gäste eine Stunde Zeit, vielleicht ein bisschen mehr. Einigen Halligbewohnern, verrät Matthias, ist selbst das zu viel Trubel. Manchmal kommen mit einer Wattwanderung 50 Leute auf einmal. Für Oland mit seinen 20 Einwohnern ist das beinahe Overtourismus.
Kaum haben wir die Hallig verlassen, fällt auf, wie windig es ist. Oben auf der Warft war es geschützt und fast warm. Nun fegt der Wind merklich. Eigentlich klar, weil: ungebremst.
Fünf kleine Naturwunder
„Kennt Ihr die Small Five?“, fragt Matthias. Angelehnt an die Big Five der Savanne Afrikas spricht man im Nationalpark von den fünf typischen Kleintieren, die man mit etwas Aufmerksamkeit zu sehen bekommt. Matthias spült mit der Hand ein paar Herzmuscheln aus, die nur knapp unter der Oberfläche leben, und nimmt Wetten an, welche sich am schnellsten wieder eingräbt.
Und dort: Die leere Hülle einer Strandkrabbe, samt Scheren. Der Krebs häutet sich mehrmals im Lauf seines Wachstums. Die Wattschnecke! Die drei bis sechs Millimeter großen Krümelchen kann man leicht übersehen. Dabei leben bis zu 20.000 von ihnen auf einem Quadratmeter. „Sie ist die schnellste Schnecke der Welt“, sagt Matthias. Um die Mikroalgen abzuweiden, hängt sie sich an die Oberflächenspannung an und lässt sich mit dem auflaufenden Wasser treiben – kilometerweit, wenn sie will.

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Auch Nummer vier bekommen wir zu sehen. Matthias schnallt den Dreizack vom Rucksack ab und rammt die Zinken in den Boden. Er muss nicht lange graben, um einen Wattwurm in der Hand zu halten. Das Tier lebt in einer U-förmigen Röhre, zu jedem Wattwurmringel gibt es einen kleinen Krater, in dem es den Sand ansaugt, um ihn zu filtern und, um winzige Algen erleichtert, wieder ausstößt. Nur die Nordseegarnele verpassen wir – die kennen wir allerdings schon vom Krabbenbrötchen.
Langeneß liegt vor uns, vorher noch einmal kurz aufpassen, hier lauern einzelne Austern im Boden, manche von ihnen stehen aufrecht. „Wenn die zusammengewachsen sind, geben sie auch nicht nach“, sagt Matthias. Für die Fußsohle eine schmerzhafte Begegnung. Und auch durch ein paar Meter Schlickwatt schliddern wir unsicher, die schwarze Soße quillt zwischen den Zehen hervor – so haben wir auch das mal erlebt.
100 Einwohner auf 18 Warften
Direkt an der Badestelle verkauft ein kleiner Kiosk Getränke und Fischbrötchen. Langeneß ist etwa zehn Kilometer lang und die größte der zehn bewohnten Halligen. Vor 200 Jahren wären das noch drei Halligen gewesen, durch Landgewinnung hat man sie zusammenwachsen lassen. Über 100 Menschen leben auf den 18 Warften. Sogar eine Straße gibt es.
Unsere Gruppe steigt ins Inseltaxi, einen Minibus, der abwechselnd von mehreren Leuten gefahren wird. Melf Boysen, der heute am Steuer sitzt, zeigt auf einen grünen Hügel, noch ohne Gebäude: „Das ist unsere Klimawarft.“ Sie ist zwei Meter höher als die alte Warft an gleicher Stelle, die Hallig will sich damit für steigende Meeresspiegel wappnen.
Bald wird darauf gebaut: ein Kaufmannsladen, ein Bauhof, eine Krankenstation und neue Wohnungen. „Auch bei uns ist der Wohnraum knapp“, erklärt Boysen. Der Schulbau wird allerdings überschaubar bleiben. „Im Moment haben wir zwei Schulkinder und eine Lehrerin. Außerdem zwei Kita-Kinder und eine Erzieherin.“ Ein guter Betreuungsschlüssel.

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Boysen setzt uns auf der Ketelswarft ab. Im Kapitän-Tadsen-Museum, einem hübsch herausgeputzten Backsteinhaus mit Reetdach, bekommt man einen Eindruck davon, wie das Leben auf der Hallig im 19. Jahrhundert war – für die Besserbetuchten. Das Haus hat sich ein Kapitän gebaut, der in der Zeit der Walfänger zu Wohlstand gekommen war, zu erkennen an den vielen kunstvoll bemalten holländischen Fliesen. Bis 1982 lebten Nachkommen in dem Gebäude, die letzten verließ es während einer dramatischen Sturmflut. Der Abreißkalender im Flur zeigt bis heute den 23. November an.
Von dem Drama ist nichts zu spüren an diesem friesischen Sommernachmittag. Auf dem Deich vor dem Museum liegt einer der schönsten Plätze der Hallig: herrlicher Rundumblick über die platte Landschaft, die weiten Wiesen und die Nachbarwarften. Gern hätte man noch ein bisschen mehr Zeit als die nächste Flut und die Fährpläne erlauben. Doch die Uhr drängt zum Aufbruch.
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