zum Hauptinhalt
Der Zauberberg der Bretagne: Mont Saint-Michel.

© Stefanie Bisping

Tour de Bretagne: Nur der Sattel hört das Seufzen

Eine Radtour über die neue Traversée Bretonne von Nantes bis zum Mont-Saint-Michel bietet reichlich Abwechslung und bringt alle Facetten der Bretagne ganz nahe.

Stand:

Die Sonne steht schon tief, als wir unsere Pension in Paimbœuf erreichen. Chantal öffnet ihr Garagentor, präsentiert eine Steckdosenleiste und plaudert, während wir unbeholfen mit dem Prozedere beginnen, das bald Routine werden soll: die E-Bikes ihrer Akkus entledigen und diese an den Strom anschließen, Sattel- und Lenkradtaschen entfernen und mit Helmen und Rucksäcken ins Zimmer schleppen; das alles möglichst unbegleitet von Schmerzlauten.

Die Autorin und ihr Sohn bei einem Zwischenstopp.

© Stefanie Bisping

Das gilt zumindest für die Mutter, die auf den letzten Kilometern sehr mit der Härte des Sattels haderte. Beim 17-jährigen Sohn, gestählt durch Hunderte geradelter Schulwegkilometer, haben weder die 45 Kilometer seit dem Mittag noch die Herausforderungen der Navigation durch die Außenbezirke von Nantes Spuren hinterlassen.

Ein furioser Auftakt in Nantes

In der historischen Hauptstadt der Bretagne sind wir gestartet. Das zu 80 Prozent autofreie Zentrum mit der Einkaufspassage Pommeraye, in der sich der junge Jules Verne mit Pralinen versorgte; das Schloss, in dem bis 1532 die Herzöge der Bretagne residierten; vor allem aber die von zwei Armen der Loire umschlossene Île de Nantes, die nach der Schließung der Werft 1987 in postindustrieller Ödnis versank und 20 Jahre später durch die von Verne inspirierte „Galerie der Maschinen“ zu neuem Leben erweckt wurde. Das alles verband sich zu einem furiosen Auftakt.

Die „Galerie der Maschinen“ in Nantes umfasst auch einen zwölf Meter hohen beweglichen Elefanten.

© Jean-Dominique Billaud / LVAN/Jean Dominique Billaud

Eine der Maschinen ist ein gewaltiger beweglicher Elefant, zwölf Meter hoch und 50 Tonnen schwer, der bis zu 45 Personen über die Insel trägt. Dazu gibt es ein 25 Meter hohes Karussell mit aquatischen Fabelwesen; ein überdimensionaler Baum ist noch unvollendet. Es ist ein Sieg der Fantasie über die Industrie und hat die Insel zu einem neuen Zentrum gemacht, in dem auch Teile der Universität und der von Jean Nouvel entworfene Justizpalast ansässig sind.

Acht Tage, 400 Kilometer per Rad und eine Zugfahrt

Später querten wir die Loire per Fähre und begannen im Fischerviertel Trentemoult unsere Tour zum Mont-Saint-Michel. Der Fernradweg Traversée Bretonne wird uns vom Mündungsgebiet der Loire am Atlantik zum Ärmelkanal führen, vom Süden der Bretagne bis in die Normandie. Rund 400 Kilometer legen wir mit dem Rad zurück, eine weitere Etappe mit dem Zug, um die Strecke in acht Tagen zu schaffen. 

Außer aufs Radeln und die bretonischen Galettes aus Buchweizenteig freut sich der geschichtsinteressierte Sohn auf historisch bedeutsame Orte und ein Wiedersehen mit dem Mont-Saint-Michel. Der fasziniert ihn, seit er dort als Siebenjähriger einen jener desaströsen Wolkenbrüche erlebte, nach denen Schuhe nie wieder dieselben sind.

Die Mutter fragt sich nach dem ersten Tag vor allem, ob ihre Koexistenz mit dem Sattel möglich ist. Doch Nachtruhe, Pain au Chocolat und frischer Orangensaft am Morgen bringen den Lebenswillen zurück. Es ist schön, durch das stille Paimbœuf zu radeln. Auf dem Radweg an der Loire spucken wir Gewittertierchen aus und erfreuen uns an Enten, Reihern und der riesigen Saint-Nazaire-Brücke in der Ferne.

Sie mit dem Fahrrad zu überqueren, ist zwar erlaubt, aber aufgrund von Verkehr und Wind nicht ungefährlich, weshalb wir uns mit einem Taxifahrer verabredet haben. Er verzurrt unsere Räder und setzt uns am anderen Ufer der Mündung ab.

In Saint-Nazaire radeln wir zum Museum Escal’Atlantic im 1940 von der deutschen Marine erbauten U-Boot-Bunker. Er ist so ziemlich das einzige, das nach dem Zweiten Weltkrieg von der Hafenstadt übrig war, und von außen so grotesk hässlich wie von innen faszinierend. Denn das Museum ist eingerichtet wie einer jener Transatlantikdampfer, die hier gebaut wurden und noch in den 1960er Jahren von Saint-Nazaire nach Amerika fuhren. Schrankkoffer, ein Deck mit Liegestühlen und mit Originalmöbeln im Art-Déco-Stil eingerichtete Kabinen erzählen vom Glanz dieser Ära des Reisens.

Wir hingegen müssen die Promenade von Saint-Nazaire gegen eine Reihe von Baustellen tauschen, bis wir Guérande erreichen. Recht flott jonglieren wir hier schon mit Taschen, Rucksäcken, Akkus, Helmen und Schlössern, bevor wir hinter der Stadtmauer einkehren und uns Austern und Steaks widmen.

Salzgärten, Regen und Galettes

Jenseits von Guérande wird es ländlich: Salzgärten, gewundene Sträßchen, mehr Vögel als Autos. Wo es keine Radwege gibt, sind Abschnitte für Fahrradfahrer markiert. Schilder ermahnen Autofahrer, die Straße mit Radlern zu teilen. Wir können nebeneinander fahren, was sich förderlich auf die Konversation auswirkt, die an belebten Straßen im Wesentlichen aus „Was?“ und „Wie bitte?“ besteht. Wir unterhalten uns über Weltkriegsgeschichte, Krimis, den ersehnten neuen Cormoran-Strike-Band und bewundern die Landschaft.

Beim Salzbauern Nicolas Arnould machen wir Pause. Von Studienjahren in Heidelberg brachte er eine deutsche Ehefrau und perfektes Deutsch mit kurpfälzischem Einschlag mit. Zweimal wöchentlich führt er Gäste durch seine Salzgärten, zeigt ihnen Löffelenten und die Esel Theo und Saladin, die er als Rasenmäher zwischen den Becken beschäftigt.

Er erklärt, wie er ideale Voraussetzungen für die Verdunstung des Wassers durch Wind und Wärme schafft, damit ab Mai im Erntebecken Salz kristallisiert: durch die Regulierung des Wassers in den miteinander verbundenen Becken. Uns rät er, Regencapes bereit zu halten: „Wenn man von hier aus die Küste von Morbihan sieht, gibt es Regen. Morgen den ganzen Tag.“

Bauer Nicolas Arnould zeigt seinen Besuchern zweimal die Woche seine Salzgärten.

© Stefanie Bisping

Bei einem langen Mittagessen erholen wir uns von dieser düsteren Prognose und strampeln dann nach Pénestin. Der Blick von den Klippen ist dort so schön, dass wir den Wetterbericht vergessen. Tatsächlich bleiben die 24 Kilometer bis zum Fischerdorf La Roche Bernard anderntags so trocken, dass unsere Hoffnung wächst, dem Regen davonfahren zu können.

Am Hafen essen wir Galettes mit Ziegenkäse, Feigen und Honig, bevor wir uns die 38 Kilometer nach Redon vornehmen. Wir fahren durch Felder, über Schotterpisten und Landstraßen, bis es doch zu nieseln beginnt. Als wir den Nantes-Brest-Kanal erreichen, regnet es in Strömen. Von den Bäumen tropft, trieft und schüttet es. Der Regen übertönt sogar die Klagen der Mutter über ihren Sattel, die üblicherweise die letzten zehn Kilometer eines Tages begleiten.

In Redon rollen wir die Räder in den Zug nach Rennes und bewundern Abstellflächen und Hängevorrichtungen für Räder aller Größen. Die nächsten 45 Minuten ersparen uns vier Stunden auf nassen Sätteln. Der Bahnhof in der bretonischen Hauptstadt liegt ebenfalls im Regen, ist aber barrierefrei: Vom Bahnsteig fahren wir bis ins Hotel. 

Jeden Tag etwas Neues, immer draußen und nie in Eile

Rennes scheint das Regendebakel peinlich zu sein. Am Morgen liegt die Universitätsstadt in hellem Sonnenschein. Wir bewundern Fachwerkhäuser, das 400 Jahre alte Regionalparlament, das kleinste Opernhaus Frankreichs und die von Studentenkneipen gesäumte Rue du Soif, die eigentlich Rue Saint-Michel heißt.

Besonders beeindruckend ist der Gedenkraum im Rathaus für die 1836 Soldaten aus Rennes, die seit dem Ersten Weltkrieg gefallen sind. Auch die Generäle jeder Schlacht sind aufgeführt; einzig der Name von Philippe Pétain, der sich in Verdun verdient gemacht hatte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, als Pétain Staatschef des Vichy-Regimes war, sorgsam entfernt.

Am Mittag folgen wir dem Ille-Rance-Kanal in Richtung Meer. Das bedeutet Radeln ohne Navigationssorgen und ein liebliches Panorama aus Kastanien, Hausbooten und von Rosen und Hortensien geschmückten Schleusenhäusern mit roten, blauen oder türkisfarbenen Türen und Fensterläden. In einem von ihnen übernachten wir: Das Häuschen an der „Schleuse der kleinen Madeleine“ aus der Zeit Napoleons III. wird als Ferienhaus vermietet.

In Rance erwarten Besucher jede Menge Panoramablicke.

© Stefanie Bisping

Abends senken sich Stille und Finsternis über uns. Das Plätschern des Wassers ist das einzige Geräusch, bis Vögel zu lärmen beginnen und Schleusenwärter Guillaume einen Korb mit Baguette und Croissants vor die Tür stellt.

Finale am Zauberberg der Bretagne

Unter zartblauem Himmel fahren wir los, sehen einen Silberreiher und einen Eisvogel, spazieren später durch das auf einem Hügel über der Rance gelegene Dinan und erreichen abends das Meer – in Dinard an der bretonischen Nordküste. Mit wenig Gepäck durch Frankreich zu radeln, morgens loszufahren und am Abend an einem anderen Ort anzukommen, macht für den Sohn den besonderen Reiz unserer Reise aus: Man fühlt sich unabhängig, sieht jeden Tag Neues, ist immer draußen und nie in Eile.

In Dinard nehmen wir die Fähre und nähern uns der Korsarenstadt Saint-Malo auf dem Seeweg. Wie eine Festung liegt sie im Meer. Wir flanieren durch Gassen und über Stadtmauer zur Promenade, wo Schilder vor lebensgefährlichen Brechern warnen. Doch jetzt ist Ebbe, das Meer hat sich kilometerweit zurückgezogen.

Auch wegen der extremen Gezeiten lieben wir diesen Teil der Bretagne besonders. Nachmittags radeln wir nach Cancale, wo der Tidenhub zwölf Meter beträgt. Vom Austernmarkt aus sehen wir den Mont Saint-Michel als Fleck am Horizont. In der Nacht verwandelt das Meer den Radweg der letzten Etappe in eine Wattlandschaft. Doch der Zauberberg entwickelt magnetische Kraft.

Trotz verschlammter Wege und Windböen legen wir einen Endspurt ein und stehen mittags vor ihm. Der Abschied vom Sattel fühlt sich gut an. Ein bisschen traurig sind wir trotzdem, dass unser bretonisches Abenteuer vorüber ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })