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Selbstbestimmt bis zum Ende. Die Glatze nach der Chemotherapie gefällt ihr, sagt Katrin Bendrich. Sie will den Krebs nicht verstecken.

© Doris Spiekermann- Klaas

Kampf gegen den Krebs: "Selbstmitleid kostet Lebenszeit"

Katrin Bendrich bekam Brustkrebs, er hat gestreut. Doch sie begegnet ihrer Krankheit mit Realitätssinn. Und schreibt das Tagebuch einer Unbeugsamen.

Von Barbara Nolte

Freitag, 11. Oktober 2013. Als ich die Frauenarztpraxis verlassen hatte, ergriff mich Panik. Zwei Tumore. Beide so groß wie Walnüsse. Die Ränder der Tumore „gefielen“ Dr. S. nicht. Schrumpfte damit nicht die 50-prozentige Chance auf Gutartigkeit in den Minusbereich?

Vor zwölf Jahren heulte ich schon einmal auf dem ganzen Weg von meinem Frauenarzt bis nach Hause. Damals war ich schwanger. Mit einem Mal schien alle Welt schwanger zu sein. Überall sah ich Frauen mit dicken Bäuchen und Mütter mit Säuglingen im Arm. Diesmal hatte sich meine Wahrnehmung auf makabre Weise verändert. In jedem zweiten Schaufenster standen Urnen und Särge.

Vor einem Bestattungsinstitut blieb ich stehen. Es gibt noch keinen Grund zur Panik, sagte ich mir. Es sind einfach nur zwei Tumore. Einer mehr oder weniger, was macht das für einen Unterschied? Immerhin blieben mir noch vier Tage bis zur endgültigen Diagnose. Dr. S. hatte nur von Verdacht gesprochen. Vielleicht wäre es trotzdem gut, mich in einem gesunden Maß mit dem Thema Krebs auseinanderzusetzen, überlegte ich. Ich wusste es nicht. Und: Was war ein gesundes Maß? Ich starrte auf einen Marmorsarg, der auf mich zu warten schien. Augenblicklich wusste ich nur eins: Ich wollte verbrannt werden.

Ein Dreivierteljahr später sitzt Katrin Bendrich im „Brotgarten“, ihrem Stammcafé in der Charlottenburger Seelingstraße. Ein warmer Morgen im Juni. Bendrich trägt ein mit Strass besetztes T-Shirt und ein buntes Kopftuch. Sie ist 42, eine lebhafte Frau mit mädchenhafter Stimme und durchtrainierter Figur. Sie habe vor Beginn der Chemotherapie vorsorglich Flüssignahrung bestellt, erklärt sie, um nicht allzu sehr auszuzehren.

Die erste Passage ihres Tagebuchs ist typisch für Bendrich, weil sie darin den oft pietätvoll-diskreten Umgang mit Krebs mit einer ungeschminkten, sogar humorvollen Sichtweise konterkariert. Untypisch für sie ist hingegen, dass sie sich in einer noch völlig offenen Situation den schlimmsten Ausgang ausmalt.

Mittlerweile hat sich Katrin Bendrich für einen grundvernünftigen Umgang mit dem Krebs entschieden. Davon will sie berichten. Geht das? „Selbstmitleid kostet Lebenszeit“, sagt sie. „Und wie es aussieht, habe ich nicht mehr viel davon.“ Sie zieht ihren Schwerbehindertenausweis aus ihrem Geldbeutel. Bendrich hat 100 Prozent. „Alte Menschen kämpfen da Jahre drum.“ Jetzt lacht sie.

Katrin Bendrich wirkt sympathisch, munter. Nach dem Schock der Krebsdiagnose habe sie als alleinerziehende Mutter schnell einen Umgang mit der Krankheit finden müssen, sagt sie.

Dienstag, 15. Oktober 2013. Ich dachte, meine Tochter wäre bei einer Freundin. Doch sie saß mit fragendem Blick in der Küche. Mir war klar, es führte kein Weg daran vorbei, ihr mit Ehrlichkeit zu begegnen. Doch ich musste Zeit gewinnen. „Du bist ja schon da“, sagte ich. Unter dem Vorwand, dringend meine Notdurft verrichten zu müssen, verschwand ich im Badezimmer.

Ich setzte mich auf den Klodeckel, atmete tief durch und fingerte den Befundbericht aus seinem Umschlag. Den Bericht, überwiegend in kryptischen Abkürzungen verfasst, überflog ich. Doch die Ablichtungen der Tumore fesselten mich. Etwas Seltsames passierte: Die Bilder bannten meine Angst. Das Unheil in meiner Brust war entlarvt. Es gab einen Plan. Amputation war das Einzige, was mir Hoffnung gab.

Intuitiv nahm ich an, dass das, was die Diagnose in meinen Kindern auslöste, von meinem Verhalten abhängig war. Wenn ich mich stark genug zeigte, konnte ich Verlustängste meiner Kinder steuern. „Ich bin sofort da“, vertröstete ich meine Tochter, die ungeduldig nach mir rief. „Zwei Minuten!“ Ich zog mein T-Shirt aus und stellte mich vor den Spiegel. Meine Fingerspitzen ertasteten die Knoten. Ich drückte so fest zu, bis ich schreien musste. Dabei beschloss ich, mich mit all meiner Kraft gegen den Krebs zu wehren.

Nun war ich bereit, das Gespräch in Angriff zu nehmen. Ich bildete mir ein, die richtige Mischung aus Fakten und Humor gefunden zu haben. „Eine Busenfreundin brauche ich mir zukünftig wohl nicht mehr suchen“, witzelte ich. Das frostige Lächeln im Gesicht meines Kindes übersah ich gekonnt.

"Intuitiv nahm ich an, dass das, was meine Diagnose in meinen Kindern auslösen würde, von meinem Verhalten abhängig war." - Katrin Bendrich mit ihren beiden Töchtern.
"Intuitiv nahm ich an, dass das, was meine Diagnose in meinen Kindern auslösen würde, von meinem Verhalten abhängig war." - Katrin Bendrich mit ihren beiden Töchtern.

© privat

Katrin Bendrich wohnt mit ihren Töchtern in der Parallelstraße vom Café „Brotgarten“. Altbau, dritter Stock. Die Wände bunt gestrichen. „Mir war schnell klar geworden, dem Krebs nicht auch noch die Macht über meinen Seelenzustand zu überlassen“, sagt sie. „Irgendwie war ich der Selbstüberschätzung erlegen, dieses Gefühl auch auf meine Töchter übertragen zu können.“

Sie sind 17 und 12. Zwei Mädchen, die, wenn man Bendrich zu Hause trifft, hin und wieder in die Küche kommen, um sich etwas zu trinken zu holen, und wieder verschwinden. Sie seien sehr darauf bedacht, dass es ihr gut gehe, sagt Bendrich. Natürlich hätten sie Verlustängste.

Ein halbes Jahr nach der Brustkrebs-Diagnose, im März, war herausgekommen, dass der Krebs in die Leber gestreut hatte. „Ich habe mir, wenn schon, dann Knochenmetastasen gewünscht“, sagt Bendrich. Sie hatte mittlerweile viel über Krebs gelesen. „Lebermetastasen waren für mich immer das Schlimmste.“

Diesmal hat sie das Gespräch mit den Töchtern eine Woche aufgeschoben. Bislang hatte sie versucht, sie mit großer Selbstverständlichkeit in ihre Krankheit einzubeziehen, um sie nicht zu überfordern – was ein schmaler Grat sei, erklärt sie. Jetzt fehlten ihr die Worte. „Ich habe die Welt nicht mehr verstanden“, sagt Bendrich, „im Herbst galt ich als geheilt!“

Donnerstag, 7. November 2013. Meine Jüngste wollte mich begleiten, als ich zur Besprechung der Ergebnisse der Lymphknotenuntersuchung ins Krankenhaus fuhr. Doch zuvor nahmen wir noch einen anderen Termin in der Klinik wahr. Offenbar verlassen Patientinnen normalerweise mit einer angepassten Brustprothese das Krankenhaus. Ich musste damals die Dame aus dem Heil- und Hilfsmittelgeschäft verpasst haben. Bei der letzten Visite bot mir Fr. Dr. H. sogar an, bis Montag bleiben zu dürfen, da ich sonst ohne Prothese heim müsste. Wegen einer Gummibrust im Krankenhaus bleiben? Ich war völlig perplex und lehnte dankend ab.

Lilly beriet mich hervorragend bei der Anprobe. Es war schön, anzusehen, dass sie meinem Anblick nicht auswich. Sie fand, dass es cooler aussehe als vorher. „Die stehen richtig, Mama.“ Ich musste lachen.

Doch das Lachen verging mir kurze Zeit später, als mich eine Schwester bat, vor dem Besprechungsraum Platz zu nehmen. Andere Frauen saßen hier mit ihren Männern, Eltern, Geschwistern, ich hingegen brachte meine elfjährige Tochter mit. Was würde ein positiver Befund in ihr auslösen? Ich nahm ihre Hand. „Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich zuerst allein ins Gespräch gehe?“ Sie zog ihre Hand zurück. „Warum? Nein!“ Natürlich verstand sie das nicht. „Ich möchte dir gegenüber nicht falsch reagieren, falls der Befund anders ausfällt, als wir es uns wünschen“, erklärte ich. „Kannst du das nachvollziehen?“ Sie schüttelte den Kopf.

Dennis, der Sohn meiner Zimmernachbarin, kam vorbei. Lilly ging mit ihm zur Terrasse und ich ins Behandlungszimmer.

„Kein Lymphknotenbefall. Mit diesem Ergebnis hat hier wirklich niemand mehr gerechnet“, hörte ich Fr. Dr. H. sagen. „Und das freut mich ganz besonders für Sie.“ Sie lächelte mich an.

„Ich möchte meine Tochter dazuholen. Darf ich?“

„Natürlich. Gehen Sie nur.“

Ich rannte los, als würde ich aus dem Grab springen.

Sie war bereits als geheilt entlassen. Prophylaktisch musste sie sich einer Chemotherapie unterziehen.
Sie war bereits als geheilt entlassen. Prophylaktisch musste sie sich einer Chemotherapie unterziehen.

© Katrin Bendrich

Damals, sagt Katrin Bendrich, seien auch ihre Organe untersucht worden mit dem Ergebnis, dass sie frei von Metastasen waren. Und nur drei Monate später waren in ihrer Leber so viele, dass man sie nicht mehr herausoperieren, sondern mit Chemotherapien lediglich in Schach halten kann. „Wenn nichts anschlägt, geht’s ganz schnell“, sagt sie.

Die Diagnose habe sie umgehauen. Doch schon nach ein paar Tagen habe sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden, sagt sie. Der Wendepunkt kam, als sie das Wort Hospiz in die Suchmaschine eingab. Sie stieß auf einen Fernsehbeitrag über eine junge Frau in einem Hamburger Hospiz. „Ich fand es bewundernswert, wie selbstbewusst sie in die Kamera schaute. Dabei hatte sie nur noch ein paar Tage zu leben.“ Mit einem Mal sei sie enorm erleichtert gewesen, sagt Bendrich. „Ich brauchte ja einen Weg. Diese Frau zeigte mir einen Weg.“

Am nächsten Tag rief sie beim Hospiz in Havelhöhe an. Sie habe mit der Sozialarbeiterin dort „ein tolles Gespräch“ geführt. Anschließend weinte sie. „Krass“, dachte ich, „du erkundigst dich gerade, wann du da aufschlagen kannst.“ Gleichzeitig sei sie stolz gewesen, dass sie sich den Vorstoß getraut habe. Sie hatte ihre Tatkraft zurückgewonnen. „Ich habe mir wieder Ziele gesteckt, wie zuvor ja auch, nur dass sich die Richtung geändert hatte. Jetzt geht es darum, für mich und meine Kinder möglichst viel auf den Weg zu bringen.“

Für den Montag der darauffolgenden Woche hat Bendrich noch einen Termin in einem weiteren Hospiz, in Wannsee, ausgemacht. Ein weißer Bungalow, von der Straße durch Buschwerk verdeckt. Die Leiterin Angelika Behm macht eine Hausführung. Sie sagt, dass am Wochenende vier Gäste, so heißt es hier, verstorben seien und die Zimmer noch nicht neu besetzt. Man könne eines besichtigen. Was sie häufig von den Kranken beim Einzug gefragt werde? Behm zögert, blickt zu Bendrich, um zu eruieren, ob sie ihr die Antwort zumuten kann. Doch Bendrich schaut interessiert. „Wie es wird, das Sterben?“, sagt Behm. Was sie darauf antworte? „Dass ich es nicht weiß.“

Katrin Bendrich lobt den mit Bäumen bestandenen Garten. Auf dem Weg zum Auto sagt sie, dass ihr von den drei Hospizen, die sie sich angesehen habe, das am Wannsee am besten gefalle. Sie sei froh, hier auf der Warteliste zu stehen. Als sie einem Freund von ihrer Hospizsuche erzählte, konnte der wenig damit anfangen. Einer ersten Untersuchung zufolge schienen die Lebermetastasen nicht weiterzuwachsen. „Ach Katrin“, sagt der nur. „Es ist doch noch gar nicht so weit.“ Immer wieder müsse sie sich rechtfertigen, klagt Bendrich. „Dabei ist es doch eine kraftvolle Sache, sich so mit dem Thema auseinanderzusetzen, wie ich es tue.“

Aus Spekulativem, an dem sich Ängste entspinnen könnten, mache sie Greifbares, erklärt sie. Außerdem müsse sie verhindern, dass „ihr oder ihren Töchtern irgendwann etwas aufgedrückt“ werde und sie sich nicht mehr wehren könne.

Die Wende kommt für Katrin Bendrich, als sie sich nach Hospizen umsieht.
Die Wende kommt für Katrin Bendrich, als sie sich nach Hospizen umsieht.

© Doris Spiekermann- Klaas

Beim Jugendamt hat sie Familienhilfe beantragt. Jetzt kommen sporadisch zwei Psychotherapeutinnen vorbei mit dem Ziel, dass sie zu Vertrauenspersonen der Töchter werden und sie später einmal stützen können.

Sie plant auch das Leben nach dem Tod. Letztens ist sie im Internet auf einen sogenannten Friedwald in Pankow gestoßen. Als Familie kann man sich dort einen Baum kaufen und darunter seine Asche in einer biologisch abbaubaren Urne bestatten lassen. Katrin Bendrich erzählt begeistert davon.

Wenn sie die Ziele erreiche, die sie sich täglich stecke, verschaffe ihr das eine große Zufriedenheit, sagt sie. „Ich bestimme meinen Weg. Ich bin ja auch diejenige, die stirbt.“ Und in den Freiräumen, die ihr bleiben, schreibt sie. Mit dem Tagebuch ist sie in Verzug, denn zuletzt saß sie an Kurzgeschichten, die in einer Anthologie veröffentlicht werden. Sie hat immer am liebsten geschrieben, aber das Schreiben nie professionell verfolgt. In der Ost-Berliner Simon-Dach-Straße, wo sie aufgewachsen ist, hat sie eine Ausbildung zur Fleischerin gemacht. Ihre Mutter hatte ihr die Stelle besorgt. Eigentlich wollte sie studieren. Doch eine Oberschule hat sie nicht besuchen dürfen, obwohl sie immer eine gute Schülerin war. Eine Begründung gab es nicht. Nach der Wende verkaufte sie Schuhe und Versicherungen, arbeitete als Altenpflegerin und Kellnerin. Zuletzt machte sie eine Ausbildung zur Kauffrau im Gesundheitswesen. Sie lernte für die Abschlussprüfung, als das Ziehen in der Brust begann, das sie als Stresssymptom deutete.

Seit Monaten hat sie permanent Schmerzen. Morphium, das sie neuerdings nimmt, lindert sie nur. Es ist ihr jedoch nichts anzumerken, bei einem neuerlichen Treffen, diesmal im Waldkrankenhaus Spandau. Zusammen mit einer der Psychoonkologinnen der Klinik sitzt sie im Garten. Psychoonkologinnen sollen Krebspatienten beistehen. Vergangene Woche bat Katrin Bendrich um ein Gespräch. Eine Computertomografie hatte gezeigt, dass die Tumore weiter gewachsen sind. Wahrscheinlich sind auch Bauchdecke und Lungenspitze betroffen. „Die Diagnose hat mich nicht geschockt, weil ich sowieso auf alles vorbereitet bin“, sagt sie.

Heute ist Katrin Bendrich nur für einen Tag im Krankenhaus, weil sie dort eine neue Chemotherapie bekommt. Wegen der Hitze hat sie ihr Kopftuch abgenommen. Ihre Glatze gefällt ihr, sie will den Krebs nicht bemänteln. Ihr gehe es „mental“ sehr gut, sagt sie. Ihre Krankheit habe ihre Sensibilität für Alltägliches geschärft, vermeintlich Belangloses empfinde sie oft als beglückend. Allerdings müsse sie ihre Ziele jetzt noch „zeitnaher“ umsetzen. Die Psychoonkologin bestärkt sie: Manche Leute fürchteten, dass man die Hoffnung auf Heilung aufgebe, wenn man sich mit den letzten Dingen beschäftige. Das stimme nicht.

Katrin Bendrich hat schon mit ihrer Freundin einen Termin ausgemacht, um zum Friedwald zu fahren und eine Vorauswahl von Bäumen zu treffen. Eine Lärche würde ihr gefallen. „Und nicht so ein dünner Baum, sondern einer, wo sich meine Kinder auch mal anlehnen können.“ Sie freue sich schon auf die Fahrt nach Pankow, sagt sie.

Weitere Auszüge aus dem Tagebuch können Sie hier nachlesen.

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