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Gerda (ganz links) wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Das Foto zeigt die Familie Wild in den 40er Jahren. Klara Häffelin steht ganz rechts.

© Lando Hass

Gerda durfte nicht leben: Die schmerzvolle Aufarbeitung der Kindermorde nach 75 Jahren

Die zwei Frauen verbindet nichts – außer der Unterschrift auf einem Dokument. 75 Jahre nach dem Krieg entschlüsseln sie die gemeinsame Geschichte ihrer Familien.

Noch immer zeigt das Kalenderblatt auf dem Schreibtisch des Berliner Arztes Klaus Eyrich 2013, das Jahr, in dem er starb. Nie sei es seiner Frau Rosemarie eingefallen, die Schubladen und Regale in seinem Arbeitszimmer zu durchstöbern. Auch jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, fällt es ihr schwer.

Rosemarie Eyrich wusste wenig über die dunkle Vergangenheit ihrer Schwiegermutter.
Rosemarie Eyrich wusste wenig über die dunkle Vergangenheit ihrer Schwiegermutter.

© Lando Hass

Die 88-Jährige tritt ans Fenster, durch das kurz vor Weihnachten 2018 fahles Winterlicht scheint, und schließt die Augen. „Ich bin froh, dass er das nicht mehr erleben muss“, sagt sie.

Es – das ist die Aufarbeitung von all den Dingen, die Klaus Eyrich seiner Frau Rosemarie in fünfzig Jahren Ehe womöglich verschwiegen hat.

Über seine Jugend in Stuttgart und das, was seine Mutter, die Ärztin und Kinderbuchautorin Hedwig Eyrich, Kindern und Jugendlichen während der NS-Zeit angetan hat.

Drei Monate später, im Februar 2019, sitzt 650 Kilometer von der Villa der Eyrichs in Berlin entfernt eine zweite Frau in ihrem kleinen Wohnzimmer und drückt die schmalen Lippen zusammen. Vor Klara Häffelin auf der Blümchentischdecke liegt ein Blatt Papier, das sie noch nie gesehen hat.

Es ist das einzige Dokument, das Auskunft gibt, wer an der Ermordung ihrer Schwester vor 76 Jahren beteiligt war.

Klara Häffelin wusste jahrzehntelang nicht, wer am Mord ihrer kleinen Schwester Gerda beteiligt war.
Klara Häffelin wusste jahrzehntelang nicht, wer am Mord ihrer kleinen Schwester Gerda beteiligt war.

© Lando Hass

KAPITEL I

Am 30. Januar 1948 schickt Psychiaterin Hedwig Eyrich einen Brief an die Spruchkammer 3 in Stuttgart. Es ist einer von vielen Schreiben, wie sie in jenen Tagen bei den Spruchkammer genannten Laiengerichten eingehen. Eingerichtet 1946, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sollen die Spruchkammern in den drei westlichen Besatzungszonen mögliche Naziverbrecher ausfindig machen. Ins Visier ist auch Hedwig Eyrich geraten.

Hedwig Eyrich war Kinderbuchautorin. Und steht in Verbindung mit den Stuttgarter Euthanasie-Morden.
Hedwig Eyrich war Kinderbuchautorin. Und steht in Verbindung mit den Stuttgarter Euthanasie-Morden.

© Lando Hass

Gegen Eyrich liegen mehrere Anschuldigungen vor. Von einem Ingenieur etwa, dem Eyrich ein Schreiben verweigerte, um seine 35 Jahre jüngere Braut zu heiraten. Oder von einer jungen Frau, deren Auserwählter sie verließ, nachdem Eyrich ihn auf den „stark asozialen Einschlag“ seiner Verlobten und ihren „schwachsinnigen“ Bruder hinwies.

Es ist die Schaltstelle der Kindereuthanasie

Hedwig Eyrich soll nun erklären, was wirklich an ihrer alten Arbeitsstätte geschah: Städtisches Gesundheitsamt. So prangte es in Frakturschrift neben dem Eingang des fünfstöckigen Hauses mit den Giebeltürmchen in der Rotebühlstraße 43.

Vorbei am Pförtner, nahm Hedwig Eyrich dort den Aufgang in der Mitte des Gebäudes bis zu ihrem Büro im vierten Stock. Davon zeugen bis heute die Baupläne des 1944 zerstörten Hauses. In der Abteilung Erb- und Rassenpflege stellt die Ärztin nicht nur Ehefähigkeitszeugnisse aus. Die Abteilung ist die Schaltstelle der Kindereuthanasie im heutigen Baden-Württemberg.

In diesem Gesundheitsamt arbeitete Hedwig Eyrich.
In diesem Gesundheitsamt arbeitete Hedwig Eyrich.

© Stadtarchiv Stuttgart

Hier landen die Meldebögen, auf denen Hebammen und Ärztinnen Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen erfassen. Eine geheime Anordnung des Reichsministeriums des Inneren in Berlin.

75 Jahre Befreiung:

Hedwig Eyrich, die die Abteilung Erb- und Rassenpflege in Stuttgart von April 1943 bis Juli 1944 leitet, entscheidet, welche Meldebögen an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in die Reichshauptstadt Berlin weitergeleitet werden. Dort vermerken die Gutachter: blaues Minus für Leben, B für Beobachtung, rotes Kreuz für Tötung.

Mediziner vergiften Kinder oder lassen sie verhungern

Hedwig Eyrich und ihre Mitarbeiter weisen die Minderjährigen daraufhin in eine der über 30 Kinderfachabteilungen ein. So nennen die Nazis die abgegrenzten Bereiche in Psychiatrien und Krankenhäusern, in denen Mediziner Kinder und Jugendliche vergiften, sie verhungern lassen oder in eine von sechs Tötungsanstalten im gesamten Reichsgebiet überstellen, um sie zu vergasen.

Darunter auch Minderjährige, die keine Behinderung haben und als schwer erziehbar gelten. Mit Euthanasie, wörtlich übersetzt einem „guten Tod“ oder „Sterbehilfe“, hat das alles nichts zu tun. Etwa 5000 Minderjährige werden in den Kinderfachabteilungen umgebracht, insgesamt fallen den Euthanasiemorden 300.000 Menschen zum Opfer.

Rassenhygiene sei eine anerkannte Wissenschaft, sagt sie

Mit all dem will Hedwig Eyrich nichts zu tun gehabt haben. So behauptet sie es zumindest in ihrem Brief an die Spruchkammer von 1948: „Rassenpolitik hat weder das Amt noch ich betrieben“, schreibt sie. Rassenhygiene, also Eugenik, sei das gewesen, eine anerkannte Wissenschaft. Eyrich habe beraten und geholfen.

Und überhaupt: Die Ärztin habe viele jüdische Freunde gehabt, sich bis 1933 in einem Frauenrechtsverein engagiert, sei nie in der Partei gewesen. Rechtfertigungen auf zwei A4-Doppelseiten, getippt mit Schreibmaschine und unterschrieben mit krakeliger Unterschrift: „Dr. Hedwig Eyrich“.

Sagt sie doch die Wahrheit? Es ist der Beginn einer neunmonatigen Spurensuche.

KAPITEL II

Sie beginnt mit einer Zeitreise in die Weimarer Republik, in die Hörsäle der Universität Tübingen. Dort lauscht ab 1918 eine 25-jährige Fabrikantentochter aus Reutlingen den Medizin-Vorlesungen.

Bisher ist sie Hedwig Braun, „Gattin des vermissten Ingenieurs“. So prangt es in Schnörkeln auf ihrer Studienakte. Später steht darauf der Zusatz „Eyrich“, die Studentin heiratete 1924 ihren Kommilitonen Max, einen wohlhabenden Arztsohn mit schweren Augenlidern.

Max Eyrich wendet das Gelernte bald selbst an.
Max Eyrich wendet das Gelernte bald selbst an.

© Lando Hass

Einer ihrer Professoren ist Robert Gaupp, Leiter der Tübinger Nervenklinik und Vordenker jener „Wissenschaft“, die sich anmaßt, über Leben und Tod zu entscheiden.

Was sie von ihrem Arzt lernen, wenden sie bald selber an

Gaupp gehört seit 1910 der Gesellschaft für Rassenhygiene an, die ausgehend von Charles Darwins Selektionstheorie nun auch Menschen in schwache und starke Gruppen einteilen will.

Doch sie wollen noch mehr: Gaupp und seine Mitstreiter wollen Menschen, die sie für „lebensunwert“ halten, weil sie etwa Krankheiten wie Epilepsie oder „Schwachsinn“ vererben könnten, daran hindern. „Ohne ihre Sterilisierung kann der eugenische Gedanke einer Reinigung des ganzen Volkes von seinen minderwertigen Elementen niemals verwirklicht werden“, erläutert Gaupp in einem Vortrag von 1925. Das Ehepaar Eyrich ist da gerade als Gaupps Assistenzärzte angestellt. Was sie von ihm lernen, wenden sie bald an.

KAPITEL III

An einem der ersten Tage des Jahres 2019 welkt Laub in den gepflegten Hecken, hinter denen sich Botschaften und Villen in Berlin–Dahlem verbergen. Laut Statistik gehört die Nachbarschaft zu den wohlhabendsten der Stadt, die hier lebenden Menschen zu den gesündesten.

Ein elektronisch gesichertes Metalltor führt zur Villa, in der Rosemarie Eyrich wohnt. Seitdem ihr Mann Klaus tot ist, lebt sie hier allein mit Stinkebein, einer Collie-Hündin. Sie döst neben ihrem Frauchen auf dem Wohnzimmerteppich, umgeben von farbenfrohen Gemälden.

Über die Jugend ihres Mannes kennt sie nur Anekdoten

Eines sticht besonders hervor: eine rot-schwarze Gestalt über dem Sofa, Rosemarie Eyrichs Stammplatz. Die Last des Menschen, lautet der Titel des Bildes. Erst jetzt falle der Witwe auf, dass sie nur wenig über die Kindheit und Jugend ihres Mannes Klaus weiß. Nur einige Anekdoten.

Wie die vom Ford Eifel, dem Kassenschlager des Dritten Reiches. Einmal sei Klaus Eyrich mit seinem Vater Max damit unterwegs gewesen. Bei Glatteis, beide konnten kaum noch bremsen. Was in dieser Erzählung fehlt, sind die Dienstfahrten, die Psychiater Max Eyrich mit dem Ford unternahm.

800 Anträge auf Zwangssterilisation

1933 wurde er zum Landesjugendarzt ernannt. Eine Arbeit, die er als „erbbiologisches Sieb“ beschrieb. Und Max Eyrich siebte. Von 1934 bis 1939 stellte der Arzt mehr als 800 Anträge auf Zwangssterilisation, für die sich sein früherer Professor Gaupp eingesetzt hatte.

[Kriegsende und Neuanfang in Berlin 1945: Erinnerungen aus den Berliner Bezirken finden Sie in unseren Leute-Newslettern, die Sie hier kostenlos bestellen können: leute.tagesspiegel.de]

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlaubte sie nun. Schon Schulkinder rechneten da aus, wie viel Geld der Staat für „Geisteskranke und Krüppel“ ausgeben müsse und der gesunden „Volksgemeinschaft“ fehle.

"Das Jüdischsein hat in unserer Familie keine Rolle gespielt"

Längst ausgeschlossen aus dieser Gemeinschaft war da bereits Otto Löwenstein, der Begründer der ersten Kinder- und Jugendpsychiatrie Deutschlands in Bonn. Dorthin war die Familie Eyrich mit ihren beiden Kindern Beate und Klaus Ende der 1920er Jahre gezogen. Hedwig Eyrich betrieb dort eine Praxis in ihrem Wohnhaus, ihr Mann Max arbeitete für Löwenstein, einen zum Protestantismus konvertierten Juden.

„Das Jüdischsein hat in unserer Familie gar keine Rolle gespielt“, erinnert sich seine Tochter, die heute in den USA lebt. Trotzdem gibt Eyrich in ihrem Brief von 1948 Löwenstein als einen ihrer jüdischen Freunde aus. Was jedoch stimmt, ist ihre darin behauptete Mitgliedschaft in einem Frauenverein: In Bonn wird sie Schriftführerin bei den „Staatsbürgerinnen“, so steht es in alten Adressbüchern.

Die Nazis ermöglichen ihren gesellschaftlichen Aufstieg

Wie schnell sich Hedwig Eyrich doch an das neue Leben anpasste, nachdem Löwenstein vor den Nazis floh und die Familie 1933 nach Stuttgart zog. Unter den neuen Machthabern vollendeten die Eyrichs ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Dazu gehörte nicht nur der Ford Eifel. Auf dem Stuttgarter Sonnenberg, einer damals neu entstehenden Nachbarschaft für Wohlhabende, baut die Familie ein Haus.

Die Familie Eyrich zieht auf den Stuttgarter Sonnenberg.
Die Familie Eyrich zieht auf den Stuttgarter Sonnenberg.

© Stadtarchiv Stuttgart

Zwei Stockwerke, dahinter ein Garten. Während ihr Mann „siebte“, verbrachte Hedwig Eyrich die meiste Zeit hier mit den beiden Kindern und veröffentlichte 1938 ihr erstes Kinderbuch „Die Mädchen vom Sonnenberg“.

Sie inszeniert sich als NS-Vorzeigemutter

Darin spielt ihre Tochter Beate die Haupt-, ihr Sohn Klaus die Nebenrolle. Wie auch im wahren Leben. Als Schauplatz dient das Haus der Autorin. Und auch sie selbst und ihr Mann kommen darin vor. Auf 190 Seiten beschreibt die Ärztin die großen Sommerferien und stilisiert sich selbst zur NS-Vorzeige-Mutter, die es genießt, Wildblumen im Wald zu pflücken.

[Wie der Krieg in Berlin und Deutschland endete, wie es danach weiterging - entdecken Sie unseren Themenschwerpunkt.]

An einer Stelle wandert ihr Mann mit den Kindern durch den Schwarzwald. Tochter Beate im Arm „wie zwei wackere Kameraden“, Sohn Klaus hinterhertrottend. Als die Wandernden ein Dorf passieren, schaut eine Frau aus dem Fenster ihres Hauses, das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen.

"Und nun vergesst diesen traurigen Anblick"

Die Kinder haben Angst. „Das ist eine Kranke, die hat vor Jahren eine Gehirngrippe gehabt, Kinder, das sind arme, bedauernswerte Geschöpfe, die nie mehr gesund werden können“, sagt der Vater: „Und nun vergesst diesen traurigen Anblick.“

Hedwig Eyrichs Schwiegertochter Rosemarie kennt das Buch vom Sonnenberg. Gelesen hat sie es nie. In ihren Bücherregalen in Berlin reihen sich Werke über Bauhaus-Architektur an Bände des persischen Dichters Rumi. Das Lesen, sagt sie, sei ihr Ersatz für die Klinik gewesen.

Sie selbst hatte als Ärztin gearbeitet. Anfang der 1960er Jahre ist sie die Vorgesetzte für einen zurückhaltenden jungen Arzt mit schweren Lidern: Klaus Eyrich. Als die drei gemeinsamen Kinder kamen, beendete sie ihre Karriere. Erziehung, Literatur, immer habe die Schwiegermutter Hedwig alles besser gewusst und Rosemarie Eyrich kleingeredet.

Mit ihrer Schwiegermutter gerät sie oft aneinander

„Hypertroph“ ist das Wort, das Rosemarie Eyrich benutzt, wenn sie über ihre Schwiegermutter spricht – überzogen, eingebildet. Ein Begriff abgeleitet aus der Medizin. Ein Foto von ihrem Hochzeitstag zeigt Klaus Eyrich am Esstisch sitzend, sein Schwager und seine Mutter Hedwig neben ihm.

„Da haben sie ihn wieder in die Zange genommen“, sagt Rosemarie Eyrich. Beide Frauen geraten immer öfter aneinander: „Erst kurz vor ihrem Tod hat mir die Schwiegermutter dafür gedankt, was ich aus ihrem Sohn gemacht habe.“

Er rezitierte Goethes Faust

Klaus Eyrich war ein erfolgreicher Anästhesist, der sich bereits in den 1980ern öffentlich im Tagesspiegel gegen den Sparzwang in Kliniken aussprach. Im wiedervereinigten Berlin arbeitete er zuletzt an der Charité, rezitierte seinen Studierenden Goethes Faust und empfing Kolleginnen aus der ganzen Welt in seiner Villa in Dahlem.

„Höflich-unverbindlich“, sagt seine Frau über ihn. „Distanziert, aber nicht kalt“, sein Sohn Christoph. „Konservativ, aber nicht rechts“, sagen sie beide.

All das habe ihn überrascht

Christoph Eyrich war der Erste gewesen, den Rosemarie Eyrich kurz vor Weihnachten mit neuen Erkenntnissen über die Familie angerufen hatte. Nun sitzt er im Sessel versunken neben ihr. Fast scheu beginnt er zu erzählen. Natürlich habe ihn all das überrascht. Aber seien nicht die meisten Deutschen damals zu Tätern geworden?

Bei seiner Geburt war Großvater Max bereits tot. An seine Großmutter Hedwig erinnere sich der 54-Jährige nur schemenhaft. Viel über die Vergangenheit gesprochen hatten er und sein Vater Klaus nicht. Ohnehin: „Richtig präsent war er nicht“, sagt Christoph Eyrich.

"Er hat euch geliebt"

Kinderwagen schieben, zusammen blödeln. Das Vatersein war nichts für den Arzt Klaus Eyrich. Morgens um sieben verließ der Anästhesist das Haus, kehrte erst spät zurück an den Familienesstisch. Selbst dann gab es vor allem ein Thema: die Klinik.

„Er hat euch geliebt, Christoph“, sagt Rosemarie Eyrich.

„Das schließt sich ja nicht aus“, entgegnet ihr Sohn.

„Aber er konnte nicht zärtlich mit den Kindern sein“, sagt sie. „Wegen der Mutter“, glaubt ihre Schwiegertochter.

Der Vater erzählte, er habe Kinder gerettet

Was genau Klaus Eyrich über seine Eltern wusste, können weder seine Frau noch sein Sohn sagen. Beide hatten bisher angenommen, dass Hedwig Eyrich während des Krieges nicht berufstätig war. Und über seinen Vater hatte Klaus Eyrich nur erzählt, dass er Kinder vor der Euthanasie gerettet hätte.

„Wieso habe ich nicht gedacht, dass da etwas nicht stimmen kann?“, fragt sich sein Sohn Christoph heute. Dass sein Vater etwas wusste, ist wahrscheinlich. Als der Krieg endet, war Klaus Eyrich immerhin schon achtzehn Jahre alt und die meisten Bekannten seiner Eltern waren überzeugte Nazis.

"Wir waren Dreck"

Nur einmal deutete Klaus Eyrich seiner Frau gegenüber etwas an, wenige Jahre vor seinem Tod. Es ging um die Diagnosen, die sein Vater stellte. Damals wehrte sie ab, wollte nichts vom Krieg hören.

Zu schmerzhaft waren die eigenen Erinnerungen daran: Hunger, Kälte, die endlose Flucht vor den russischen Truppen aus Ostpreußen als 14-Jährige. „Wir waren Dreck“, sagt Rosemarie Eyrich über den Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit den Geflüchteten.

Vielleicht sei es ihre große Abneigung gegen die Nazis gewesen, weswegen ihr Mann sich nicht getraut hatte, die Vergangenheit seiner Eltern anzusprechen. Jetzt, da sie die Wahrheit kennt, sucht Rosemarie Eyrich nach Bruchstücken in ihrer Erinnerung.

Sie bricht den Kontakt ab

Aber der, der ihre Fragen beantworten könnte, ist nicht mehr da. Und die Familie ihrer Schwägerin Beate, Hedwig Eyrichs geliebter Tochter, will von all dem nichts hören. Weder von ihr noch auf Anfrage des Tagesspiegels. Rosemarie Eyrich verärgert diese Reaktion so sehr, dass sie beschließt, den Kontakt zur Familie ihres Mannes abzubrechen.

KAPITEL IV

Karl-Horst Marquart weiß, wie schwer es ist, einen schriftlichen Beweis zu finden, der Hedwig Eyrich persönlich mit den Stuttgarter Euthanasiemorden in Verbindung bringt.

Karl-Horst Marquart, Historiker.
Karl-Horst Marquart, Historiker.

© Lando Hass

Der Mediziner im Ruhestand arbeitete in den 1990er Jahren selbst im Stuttgarter Gesundheitsamt und trug nach Feierabend Beweise für die NS-Verstrickung seiner Behörde zusammen. Bis heute kämpft er gegen das Vergessen.

Von den 74 Stuttgarter Opfern der Kindereuthanasie wurden die meisten, 39, im hessischen Eichberg ermordet.

Was fehlt, ist eine Unterschrift

Mindestens elf Minderjährige wurden zwischen April 1943 und Juli 1944 in die Tötungstrakte der Kinderfachabteilungen eingewiesen. Also zu jener Zeit, zu der Hedwig Eyrich die Abteilung Erb- und Rassenpflege des Gesundheitsamtes leitete. Was fehlt, um die Mitschuld der Ärztin zweifelsfrei zu beweisen, ist ihre Unterschrift.

Geografische Distanzen, verschachtelte Bürokratie und die gezielte Vernichtung vieler Akten von Mitarbeiterinnen des Stuttgarter Gesundheitsamtes kurz vor Kriegsende sind einige der Gründe, weswegen laut Marquart Nachforschungen oft ins Leere laufen.

Andere Opfergruppen hatten mehr Aufmerksamkeit

Für andere Opfergruppen des NS-Regimes war die öffentliche Aufmerksamkeit größer. Otto Löwenstein etwa, der wegen seiner jüdischen Abstammung vor den Nazis floh, erhielt 1964 von der Universität die Ehrendoktorwürde.

Um die Ermordeten und Zwangssterilisierten aus dem Euthanasie-Programm der Nazis blieb es aber lange ruhig.

Das Stigma "asozial" lastet schwer auf den Familien

Noch immer ist es schwer, Entschädigungszahlungen einzufordern. Und das Stigma „lebensunwert“ oder „asozial“ lastet teilweise bis heute auf den Familien, weswegen es vielen schwerfällt, über das zu sprechen, was ihnen und ihren Angehörigen angetan wurde.

Eine von jenen, die sich trauen und Horst Marquart von ihrem Schmerz erzählt haben, ist Klara Häffelin.

KAPITEL V

An einem Tag im Juli 2019 ächzt Klara Häffelin einen kurvigen Weg zur Anhöhe einer Psychiatrie hinauf. In der Ferne reifen Trauben an Weinhängen in der stechenden Sonne. Selbst die Kronen der Bäume, die der Klinik ihren Namen geben, spenden nur wenig Schatten: Eichberg.

Sieben Jahrzehnte ist ihre Schwester tot

Die Rentnerin hat lange auf diesen Tag gewartet. Mehr als sieben Jahrzehnte ist ihre Schwester Gerda tot. Jetzt trennen die 82-Jährige nur noch wenige Meter bis zu einem Stück Wiese, unter der Gerda begraben liegt.

Klara Häffelin besucht das Denkmal, das der ermordeten Kinder erinnert.
Klara Häffelin besucht das Denkmal, das der ermordeten Kinder erinnert.

© Lando Hass

Klara Häffelin war noch nie zuvor hier. Karl-Horst Marquart ist heute mir ihr gekommen, genau wie Inge Möller von der Stolperstein-Initiative in Häffelins Geburtsort Stuttgart–Zuffenhausen.

Und Siglinde Ulmer, Klara Häffelins jüngere Schwester, die Gerda nie kennenlernen durfte. Sie alle bilden 76 Jahre später den Trauerzug, den das Kind nicht hatte.

Fünf Monate zuvor sitzt Klara Häffelin 300 Kilometer entfernt in ihrem kleinen Wohnzimmer in Vaihingen an der Enz.

Klara Häffelin.
Klara Häffelin.

© Lando Hass

Einem Städtchen in der Nähe von Stuttgart, dessen Häuser verstreut um ein Bergschloss liegen. Im Wandschrank der pensionierten Verkäuferin jagen sich Rehlein auf Zinkkrügen, ein hölzerner Jesus hängt über der Wohnzimmertür. Vor ihr auf der Blümchentischdecke liegt ein Foto. Darauf: Klara Häffelins Mutter und Tante, sie selbst und vier ihrer insgesamt sieben Geschwister.

Familienfoto. Gerd ist ganz links zu sehen. Klara Häffelin ganz rechts.
Familienfoto. Gerd ist ganz links zu sehen. Klara Häffelin ganz rechts.

© Lando Hass

Die Familie war arm, gemeinsam mit anderen lebte sie in einer Holzbaracke. Auf dem Bild hat sich Gerda zur Seite, hin zur Familie gedreht, ihr Kleidchen weht ihm Wind. Das Foto diente einer Künstlerin als Vorlage für ein Porträt des Kindes, das in Klara Häffelins Schlafzimmer hängt.

"Aus Gründen der Papierersparnis"

Neben dem Foto liegt ein Schreiben, das Klara Häffelin noch nie zuvor gesehen hat. Es ist ein auf Schreibmaschine verfasster Brief des Gesundheitsamts Stuttgart an die Kinderfachabteilung in Eichberg am Rhein.

Betreff: „Kind Gerda Wild, geb. 26.05.1940 gest. 5.10.1943.“

„Auf ihr Schreiben, das heute hier einging, verweisen wir auf den Schriftwechsel. Demnach wird aus Gründen der Papierersparnis u. der Arbeitsvereinfachung auf das Ausfüllen der Fragebogen verzichtet.“

Unterschrieben in krakeligen Buchstaben von „Dr. Hedwig Eyrich“.

Die Unterschrift auf diesem Dokument verbindet die Schicksale von Klara Häffelin und Rosemarie Eyrich.
Die Unterschrift auf diesem Dokument verbindet die Schicksale von Klara Häffelin und Rosemarie Eyrich.

© Lando Hass

Die dem Schreiben vorausgegangene Anfrage der Anstalt fehlt. Wahrscheinlich wollte das Klinikpersonal weitere Informationen über Gerda oder eine Kostenabrechnung einholen. Für Klara Häffelin ist das unwichtig.

Sie wendet den Blick nicht von dem Dokument, streicht mit ihren faltigen Händen darüber. Immer und immer wieder.

Eyrich war ihre Schwester nicht mal ein Blatt Papier wert

„Aus Gründen der Papierersparnis.“ Dass ihre Schwester in den Augen der Ärztin Eyrich nicht einmal ein Blatt Papier wert war, Klara Häffelin kann es nicht begreifen. Kriegsknappheit hin oder her. Ein Jahr zuvor, 1942, hatte das Papier noch für den zweiten Roman der Unterzeichnerin gereicht, „Inge und der verlorene Prinz“.

Ebenfalls eine Mädchengeschichte, in der eine Puppe zum Leben erwacht. Da schlagen in Stuttgart längst Bomben ein.

Gerda hatte ihre eigene Weise sich mitzuteilen

Klara Häffelin hat die Bombennächte selbst erlebt. Sie und ihre Geschwister mussten immer mit Trainingsanzügen ins Bett gehen, für den Fall, dass es Fliegeralarm gab. Einmal, während eines Alarms, rannte Gerda aus dem Luftschutzbunker, der 700 Meter vom Haus der Familie entfernt lag.

Sie alle suchten das kleine Mädchen und fanden Gerda vor der Haustüre. „So behindert kann sie nicht gewesen sein, wenn sie den Weg allein gefunden hat“, sagt Klara Häffelin. Mit drei Jahren konnte Gerda noch nicht sprechen. Sie hatte ihre eigene Weise, sich mitzuteilen.

„Gerda hat uns immer ihren Schnuller hingehalten“, erzählt Klara Häffelin, „damit wir ihr Zucker draufmachen.“

Eines Tages holt eine Krankenschwester das Kind ab

Eine offizielle Diagnose gab es nie. Doch für das Gesundheitsamt Stuttgart war Gerda „lebensunwert“. Eines Tages holte eine Krankenschwester das Kind ab. Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt allein zu Hause mit den jüngeren Kindern.

Der Vater arbeitete auf einer Baustelle. Als er zurückkam, war das Kind weg. Die Krankenschwester hatte der Mutter gesagt, dass Gerda an einen Ort käme, wo sie sprechen lerne. Zwei Wochen später war das Mädchen tot, offiziell gestorben an einer Lungenentzündung, in der Kinderfachabteilung Eichberg.

Ein Stolperstein erinnert an ihr Schicksal

Seit 2013 erinnert ein Stolperstein im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen an Gerdas Schicksal.

Manchmal fährt Klara Häffelin mit ihrem Auto die dreißig Minuten von ihrer Wohnung bis zu dem Stein, um ihn zu putzen. Wenn das Messing anläuft, könne man den Namen nur noch schlecht lesen.

Der Stolperstein für Gerda ist vor ihrem ehemaligen Wohnhaus eingelassen.
Der Stolperstein für Gerda ist vor ihrem ehemaligen Wohnhaus eingelassen.

© Lando Hass:

Ihr Weg führt dann vorbei an einem Bach, an dessen Uferpfaden sie mit ihren Geschwistern spielte. Heute wehen im Gestrüpp Fetzen aus Plastiktüten wie Fähnchen im Wind. „Hier wohnte Gerda Wild. ,Eingewiesen‘ 21.9.1943, Heilanstalt Eichberg, Ermordet 5. Oktober 1943, Kinder-Aktion“, steht ein paar Meter weiter auf dem Stolperstein. Den Ort, an dem ihre Schwester umgebracht wurde, erfuhr Klara Häffelin erst durch den Stein.

Ein namenloses Massengrab

Ein richtiges Grab gibt es für Gerda nicht. Ihre Leiche wurde direkt auf einer Wiese der Anstalt vergraben. Namenlos, in einem Massengrab mit vielen der anderen 400 Kinder und Jugendlichen, die dort ermordet wurden.

[Niemals vergessen! Wo Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, mit Stolpersteinen und kleineren Gedenkorten in Kiezen und Ortsteilen, können Sie hier auf einer interaktiven Karte sehen.]

Als man Gerda dorthin brachte, war Walter Schmidt Direktor der Anstalt. Beim Personal trug er den Namen „Massenmörder“. Weil er im Gegensatz zu vielen anderen NS-Anstaltsleitern Kinder und Erwachsene eigenhändig zu Tode spritzte.

Der Mörder arbeitete später wieder als Arzt

Von etwa 200 Klinikopfern entnahm Schmidt Gehirne. Getränkt in Formaldehyd schickte er sie für „Untersuchungen“ an die Universität Heidelberg. Schmidt wurde 1946 zwar zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, aber schon 1953 war er wieder frei. Später arbeitete er wieder als Arzt.

Kaum jemand, der an dem Euthanasie-Programm beteiligt war, wurde nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen. Auch die Eyrichs aus Stuttgart nicht.

Das Gericht glaubt den Eyrichs

Max Eyrich wurde 1949 im Grafeneck-Prozess angeklagt. Dort erzählte er seine Version der Geschichte. Es ist jene, die seine Familie bis zum Dezember 2018 glaubt: Er habe alle Möglichkeiten genutzt, um Kinder vor der Euthanasie zu retten. Auch das Gericht glaubte ihm. Unterstützung bekam er von seinem ehemaligen Universitätsprofessor Robert Gaupp, der ihn mit einem Schreiben entlastet.

Im Briefkasten auf dem Sonnenberg war indes eine Antwort auf Hedwig Eyrichs Brief vom Januar 1948 eingetroffen: „Formell ist die Betroffene nicht belastet“, schrieb die Stuttgarter Spruchkammer: „Es war nun einmal ihre Aufgabe, rein ärztlich-sachlich Feststellungen zu treffen.“

Sie bringt ein letztes Buch heraus

Von Euthanasie ist darin keine Rede, angeklagt wurde Hedwig Eyrich nie. Nach dem Tod von Max Eyrich brachte sie 1963 ein letztes Buch heraus: „Schulversager“, ein unvollendetes Werk ihres Mannes. Es steht bis heute unkommentiert in den Regalen der Universität Tübingen, dort, wo für beide alles begann.

Klara Häffelin läuft im Juli 2019 die letzten Meter bis zur Wiese im hessischen Eichberg, unter ihren Sandalen knirscht der Kies. Ein paar Patienten der Psychiatrie kommen ihr entgegen. Die Klinik ist noch immer in Betrieb.

"Glauben Sie, der Pfarrer war dabei?"

Vor einer kleinen Kapelle erstreckt sich die Wiese am Hang, auf dem wilde Erdbeeren und Rotklee blühen. Ein namenloses Mahnmal gegenüber ist das Einzige, das an Gerda und die anderen Ermordeten erinnert. „Glauben Sie, ein Pfarrer war dabei?“, fragt Klara Häffelin. Dann geht sie ein Stück allein über das Gras, ihre jüngere Schwester schaut ihr nach. Unter einer Konifere bleibt Klara Häffelin stehen.

Efeu schlängelt sich um einen Grabstein, eine rote Kerze lehnt daran. Es ist das Grab eines Vorgängers von „Massenmörder“ Walter Schmidt. „Direktor der Anstalt 1911–1931“, lautet die Inschrift. „Dem Doktor haben sie ein Denkmal gesetzt“, sagt Klara Häffelin. Wo man ihre Schwester Gerda genau verscharrt hat, kann niemand sagen.

Anna-Theresa Bachmann

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