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Überall Freude, überall Herzchen: Das Leben kehrt zurück. Dass das nicht alle gleichermaßen beglückt, sollte nicht vergessen werden (Archivbild aus Hessen).

© Frank Rumpenhorst/dpa

Traum oder Trauma?: Nicht für alle ist die Post-Corona-Normalität eine schöne Aussicht

Viele Menschen sind im Lockdown noch tiefer in Krisen gerutscht. Sie dürfen bei den Lockerungen nicht vergessen werden. Aber genauso sieht es aus. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Max Tholl

In Deutschland kehrt wieder Leben ein: Die Inzidenzen sinken, die Lockerungen greifen und lassen erahnen, wie die Zeit nach all den tristen Lockdown-Monaten werden könnte. Endlich wieder Restaurantbesuche, endlich wieder Reisen, endlich wieder Kultur und Sport, und vor allem: endlich wieder Beisammensein. An Stelle des kollektiven Ausnahmezustands rückt die lang ersehnte Normalität. Vorbei ist die Pandemie aber nicht, denn ihre psychischen Auswirkungen werden das Leben vieler Menschen noch lange Zeit prägen.

Die Isolation und der Entzug von Alltag und Sicherheit haben dazu geführt, dass Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen rasant zugenommen haben. Dabei waren die Zahlen schon vor dem Virus auf einem beängstigenden Stand. Es wäre naiv zu glauben, dass diese einfach wieder zurückgehen, wenn erstmal ein Leben ohne Einschränkungen möglich ist. Denn die Erfahrungen  in der Pandemie und die Ursachen für das seelische Leiden unterscheiden sich von Person zu Person.

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Für viele war es der Entzug des gewohnten Alltags, für andere ist es nun die Rückkehr zu eben diesem. Das Wiedererlangen der Normalität ist ein kollektiver Kraftakt, das Zurückfinden in diese droht aber zur individuellen Herausforderung zu werden. Denn trotz Dauerbeschallung und tagtäglicher Konfrontation: Es fehlt eine kollektive Aufarbeitung der Krisenerfahrung. 

Beim nationalen Gedenkgottesdienst für die Corona-Verstorbenen Mitte April betonte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, die Pandemie habe sich wie ein Trauma auf unsere Seele gelegt und schreie nach Heilung. Doch Trauer und Anteilnahme beschränken sich zu oft auf die Toten und ihre Hinterbliebenen. Sie sind die vielleicht sichtbarsten Opfer, aber längst nicht die einzigen.

[Lessen Sie hier bei T-Plus: Psychische Gesundheit im Dauer-Lockdown: Was gegen das große Corona-Tief hilft]

Einer Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf zufolge leidet fast jedes dritte Kind hierzulande unter psychischen Auffälligkeiten in Folge der Pandemie. Abertausende Menschen gelten zwar statistisch als genesen, kämpfen aber auch Monate später immer noch gegen die körperlichen und mentalen Konsequenzen der Erkrankung. Für sie und viele andere wird es enorm schwierig, sich auf das alte, vertraute Leben einzustellen.

Die Wartezeit für Psychotherapien wird immer länger

Schwierig, auf einmal wieder täglich in die Schule oder ins Büro zu müssen, sich wieder auf Menschenmassen und ständige Verfügbarkeit einzulassen. Nationales Innehalten und Anteilnahme, die der Bundespräsident im Zuge der Gedenkfeier forderte, werden umso wichtiger, wenn der Normalbetrieb sich wieder etabliert.

In den Durchhalteappellen der Politik schwang immer wieder die Hoffnung auf ein posttraumatisches Wachstum mit: dass diese Krise nur als Gemeinschaft zu überwinden ist, man dann aber auch an ihr erstarken kann. Dazu benötigt es Unterstützung für diejenigen, die eben nicht resilienter aus der Pandemie kommen. Die mit der Normalität hadern, weil sie sich nun fremd anfühlt oder auch schon vor dem Virus eine Belastung war.

Was für die einen das Wiedererlangen von Normalität ist, bedeutet für andere die Rückkehr zu einer vertrauten Überforderung. Um bleibende Traumata zu verhindern, braucht es Verständnis für die Betroffenen und konkrete Hilfsangebote. Doch die Wartezeit für ambulante Psychotherapien ist im Vergleich zu den Vorjahren wieder gestiegen und beträgt im Durchschnitt 22 Wochen. Das Bundesgesundheitsministerium reagiert zum Ärger der Betroffenen mit holzschnittartigen Lösungsvorschlägen wie Raster-Behandlungen mit festgeschriebener Therapiedauer.  Ohne Eingreifen riskieren die psychischen Auswirkungen nicht nur zu Kollateralschäden der Pandemie zu werden, sondern zu einer vierten oder fünften Welle. 

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