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Die Hand einer Mutter wird von ihrem Kind umfasst.

© Daniel Karmann/dpa

Pränataldiagnostik: Warum so große Angst vor Kindern mit Behinderung?

Werdende Eltern entscheiden sich bei der Früherkennung meist gegen ein Kind mit Down-Syndrom. Welche gesellschaftlichen Maßstäbe stehen dahinter? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Die Zahlen sind unmissverständlich. Mehr als 90 Prozent der Eltern, die bei einer Früherkennung erfahren, dass ihr Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen könnte, entscheiden sich für eine Abtreibung. Umgekehrt werden nahezu alle Eltern von Kindern mit Trisomie 21 nach der Geburt mit der Frage konfrontiert, warum sie auf die Pränataldiagnostik verzichtet hätten.

Es existiert eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, dass die Entstehung eines Lebens mit Einschränkungen verhindert werden darf. Stundenlang diskutierte der Bundestag in der vergangenen Woche darüber. Vordergründig ging es um die Frage der Kostenübernahme eines Bluttests durch die Krankenkassen. Doch zwischen den Zeilen schwang Ratlosigkeit mit: Wieso gibt es noch immer eine solch große Angst ein Kind mit Behinderung zu bekommen?

Wir müssen wachsam bleiben. Sicherlich ist es ein qualitativer Unterschied, ob Leben mit Behinderung verhindert oder vernichtet wird – doch die Schatten der deutschen Geschichte warnen. Schon Thilo Sarrazin versuchte, die politische Eugenik wieder diskursfähig zu machen. Türkischstämmige hätten eine lange „Tradition von Inzucht und Behinderungen“. Die AfD knüpfte daran an, als sie von der Bundesregierung wissen wollte, wie viele Behinderte es in Deutschland gibt und welche Rolle innerfamiliäre Eheschließungen unter Migranten dabei spielen.

Rassistische Stereotype werden mit der Frage nach der genetischen „Qualität“ von Kindern verknüpft. Die Pränataldiagnostik könnte eine Vermeidungslogik verstärken, in der Leben, das von der Norm abweicht, zu einem Übel wird. Dieser von der Medizin vermittelte, selektierende Blick hat auch diskriminierende Auswirkungen auf Menschen mit Behinderung in unserer Mitte.

Inklusion ist viel zu oft ein Lippenbekenntnis

Der Soziologe Hartmut Rosa geht in seinem jüngst erschienen Werk „Unverfügbarkeit“ auch auf die Pränataldiagnostik ein. Für ihn ist das zentrale kulturelle Antriebsmoment unserer Epoche die Verfügbarmachung. Die unberechenbare Welt wird zunehmend zum „Aggressionspunkt“; es gilt, sie zu kontrollieren.

Auch der Kinderwunsch rückt dabei immer mehr in den Bereich des Planbaren. Das Paradox, das Rosa aufzeigt: Umso beherrschbarer etwas wird, desto mehr Angst bekommen wir davor. Der Moment der Geburt hat sich längst von einer Verheißung in eine Bedrohung verwandelt. Kaum scheint es noch vorstellbar, dass ein Kind mit Down-Syndrom eine erfüllende Elternschaft ermöglicht.

Wohl auch, weil ein solches Kind mehr Zeit, mehr Geld, mehr Aufmerksamkeit benötigt. Rare Güter in einer Gesellschaft, die immer höher, schneller und weiter will. Es sollte nicht wundern, dass eine Mutter Angst davor hat, ein Kind mit Behinderung auf die Welt zu bringen. Denn Inklusion ist noch viel zu oft ein Lippenbekenntnis.

Niemand sollte darum mit dem Finger auf betroffene Eltern zeigen. Die Lösung entspringt nicht der individuellen Verantwortung – es braucht eine Antwort auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Denn letztlich geht es um die Frage der gleichberechtigten Teilhabe. Diese muss nicht nur unabhängig von Kategorien wie Geschlecht, Herkunft oder sexuellen Präferenzen garantiert sein – sondern eben auch unabhängig von der Frage der Behinderung. Dann aber diskutieren wir nicht mehr über Kostenübernahmen, sondern über die grundsätzliche Anerkennung von Differenz.

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