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Josef Blösche (rechts, mit Maschinenpistole) bei der Razzia im Ghetto 1943.

© unbekannt/Wikipedia

Warschauer Ghetto: Wie der SS-Verbrecher Josef Blösche aufgespürt wurde

Im Warschauer Ghetto ermordete er Frauen und Kinder. Ein Treffen mit dem Mann, der Blösche für die Stasi verhörte.

Der Henker wartete neben der Tür, auf seine Pistole hatte er einen Schalldämpfer geschraubt. Er stand in einem fensterlosen Raum, komplett leer, das Weiß der Wände verblichen, ein Abflussrohr im gefliesten Boden. Der gefesselte Mann, den zwei Bewacher hereinführten, hatte nur zwei, drei Sekunden, um das alles zu registrieren. Hinter seinem Rücken löste sich der Henker von der Wand, zielte auf den Nacken des Delinquenten und drückte ab. Josef Blösche sank tödlich getroffen nieder.

Am 29. Juli 1969, vor fast genau 50 Jahren, exekutierte ein Stasi-Offizier im Gefängnis von Leipzig, der zentralen Hinrichtungsstätte der DDR, einen Nazi-Kriegsverbrecher.

Die wenigsten kennen den Namen Josef Blösche. Aber Millionen Menschen kennen sein Gesicht – von diesem berühmten Foto, das so grausam wie kaum ein anderes den Terror der Nazis symbolisiert.

Ein Deutscher hatte es aufgenommen, im Mai 1943 in Warschau, als das jüdische Ghetto liquidiert wurde. Ein Junge, vielleicht sieben Jahre alt, hebt mit angstverzerrtem Gesicht die Hände, hinter sich Frauen, Kinder, alte Männer, zusammengetrieben von deutschen SS-Angehörigen. Schräg hinter dem Kind steht ein Soldat, den Lauf seiner Maschinenpistole leicht nach unten gerichtet, sein Gesichtsausdruck ist eher teilnahmslos.

Der Mann mit der Maschinenpistole ist Josef Blösche. Ein paar Minuten später wird er mit vier, fünf anderen SS-Leuten 2000 Juden erschießen, Männer, Frauen, Kinder. Auch den kleinen Jungen auf dem Foto.

Er saß dem Mörder neun Monate lang gegenüber

Der Ghetto-Überlebende Sol Liber sagte über Blösche: „Er war der Schlimmste von allen, weil er Menschen ohne einen Grund umgebracht hat.“

Im Juni 2019 sitzt ein massiger Mann mit weißem Haarkranz vor diesem Foto. Er starrt es an, dann nimmt er langsam die Brille ab. In seinem Blick liegt ein Schimmer, es sieht aus, als stiegen ihm gleich Tränen in die Augen. Mit einer Stimme, in der sich Trauer, Wut und Fassungslosigkeit vermischen, sagt er: „Wenn ich das Bild heute sehe, empfinde ich das Gleiche wie damals, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Es ist furchtbar.“

Reiner Stenzel ist jetzt 77 Jahre alt, beim Gehen muss er sich auf einen Stock stützen. Vor sich auf den Tisch, in einem Büro im Verlagsgebäude des früheren SED-Blatts „Neues Deutschland“, hat er ein Dokument des Grauens gelegt: den Originalbericht des SS-Generals Jürgen Stroop, des Mannes, der die Vernichtung des Ghettos geleitet hatte. Die Seite mit dem berühmten Foto des Jungen ist aufgeschlagen.

Dem Mörder des Jungen saß Stenzel neun Monate lang gegenüber.

Aber da war Blösche nicht mehr SS-„Rottenführer“, Herr über Leben und Tod, sondern, seit Januar 1967, Häftling im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Und Stenzel ein 25-jähriger Leutnant der Stasi, Hauptabteilung 9/Abteilung 10, Fachbereich Untersuchungen. Er musste Blösche vernehmen.

Im Ghetto lebten 380 000 Menschen auf zehn Quadratkilometern

Vor ihm saß ein kleiner, grauer, unscheinbarer Mann, 1,69 Meter groß, nie aggressiv bei den Verhören. Aber diese Augen. „Sie waren eiskalt“, sagt Stenzel. An seinen Augen, hatte die Ghetto-Überlebende Anna Kaczprzak 1967 bei ihrer Zeugenaussage vor einem Staatsanwalt erklärt, würde sie Blösche immer wiedererkennen. „Ich merkte mir seinen wilden Blick und den charakteristischen Augenausdruck. Ich behielt sie in Erinnerung als einen Ausdruck von Augen, die auf ihre Opfer lauern, denn so war Blösche immer.“

Eine von vielen Zeugenaussagen über die Schreckensherrschaft des Josef Blösche im Warschauer Ghetto.

Dort pferchten die Nazis im November 1940 in einem zehn Quadratkilometer großen Gebiet fast 380 000 Juden zusammen. Eine drei Meter hohe Mauer begrenzte das Gebiet. Juden durften das Ghetto nicht verlassen. Etwa 30 Prozent der Warschauer Bevölkerung drängte sich auf 2,4 Prozent des Stadtgebiets. Die Nazis gestanden jedem täglich 181 Kalorien zu. Die Leute verhungerten auf der Straße, jeden Monat starben bis zu 5000 Menschen.

Im Juli 1942 begannen die Transporte ins Vernichtungslager Treblinka. Die Juden, die schnell erfahren hatten, was hinter dem verharmlosenden Nazi-Begriff „Umsiedlung“ steckte, wurde gewaltsam zusammengetrieben. Eine Aufgabe für Josef Blösche. Der Gestapo-Angehörige fuhr, mit einem anderen SS-Mann, täglich auf dem Fahrrad oder auf einer Rikscha durchs Ghetto.

Der Ruf "Blösche kommt" löste Panik aus

Er zerrte Menschen aus den Häusern oder erschoss sie gleich vor Ort. Einem drei Monaten alten Kind, das in einem Bett lag, jagte er eine Kugel in den Kopf.

Es gibt Zeugenaussagen dazu, sie werden in den Vernehmungsprotokollen zitiert, die im früheren Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen lagern, dort, wo Stenzel dem Häftling Blösche einst gegenüber saß.

Der Ruf „Blösche kommt“ löste Panik aus. Denn der „Rottenführer“ schoss auf Menschen wie Jäger auf Hasen. Er erschoss einen Mann, der zufällig aus dem Fenster blickte. Er forderte einen anderen auf, mit heruntergelassener Hose davonzurennen. Dann sagte er seinem SS-Kollegen: „Der Jude kann nicht rennen. Ich werde ihm zeigen, wie das geht.“ Mit vorgehaltener Pistole verhinderte er, dass die Feuerwehr ein brennendes Haus löschte, in dem eine Mutter mit ihrem Kind um Hilfe schrie. Die verzweifelte Frau warf ihr Kind aus dem Fenster und sprang hinterher. Beide starben.

Wenn Blösche das Ghetto verließ, hatte er oft zehn Menschen getötet. Bei den Exekutionen im Ghetto, bei denen er mitschoss, war die Zahl der Opfer noch viel größer.

Das entstellte Gesicht war sein Glück

Im Ghetto konnte der kleine Mann eine Macht ausleben, die er sonst nicht hatte. 1912 wurde Blösche im Sudetenland geboren, der Vater war Besitzer einer Ziegelei und einer Gastwirtschaft. Eine Kindheit mit viel Arbeit, wenig Zuwendung und Demütigungen durch den Vater. Die Schule verließ er nach der achten Klasse. Dann Stationen des bescheidenen Aufstiegs: 1938 Mitgliedschaft in der SS und nationalsozialistische Schulung. 1939 Angehöriger der berüchtigten Geheimen Staatspolizei, aber im Rang immer ein kleines Licht. Im August 1941 wurde Blösche zu einem Einsatzkommando kommandiert, das in Russland hinter der Front zahllose Menschen erschoss, Juden, Zigeuner, Kommunisten, Kriegsgefangene.

Kurz vor Kriegsende war Blösche zur Partisanenbekämpfung in der Slowakei eingesetzt. Als er im April 1945 in Gefangenschaft geriet, hatte er nichts mehr bei sich, was an die SS oder die Gestapo erinnerte. Der Kriegsgefangene Blösche musste in der Tschechoslowakei in einer Grube arbeiten. Am 6. August 1946 erfasste ihn ein Förderkorb am Kopf. Blösche überlebte knapp und mit dauerhaft entstelltem Gesicht. Im Nachhinein ein Glück für ihn: Niemand erkannte in diesem Mann noch den früheren Nazi-Verbrecher. 19 Jahre lang lebte er mit Frau und Kindern ungestört in einem kleinen Ort in Thüringen.

Ein Hochzeitsfoto hilft den Ermittlern

Kinder im Warschauer Ghetto, 1944.
Kinder im Warschauer Ghetto, 1944.

© Picture Alliance/Imagno

Anfang der 1960er-Jahre stießen westdeutsche Kripobeamte bei Ermittlungen gegen einen anderen Nazi-Verbrecher auf den Namen Blösche. Zeugenaussagen belasteten den Gestapo-Mann erheblich. Nachforschungen ergaben, dass er in der DDR lebte. Deshalb zögerte die Staatsanwaltschaft, einen Haftbefehl und Blösches Auslieferung zu beantragen. Denn dann würde die DDR ihn vor Gericht stellen. Aber in Ostdeutschland drohte die Todesstrafe. So ein Urteil wollten westdeutschen Juristen nicht.

1965 erließ das Amtsgericht Hamburg trotzdem einen Haftbefehl gegen Blösche, zu schwerwiegend waren die Anschuldigungen. 1966 wurde die DDR um Auslieferung gebeten, vergeblich. Doch die Stasi war zu diesem Zeitpunkt längst über den Mann im Bilde. Der Westdeutsche Heinz Galinski, der erste Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, hatte sie, über ein paar Ecken, informiert. Er hatte von den Ermittlungen gegen Blösche erfahren.

Die Stasi ermittelte nun selber, und am 11. Januar 1967 wurde Blösche verhaftet. Aber war der Mann mit dem entstellten Gesicht wirklich der Mörder vom Ghetto? Ja, der Stasi-Spezialabteilung 32 gelang der Nachweis. Die Experten verglichen ein Hochzeitsfoto des unverletzten Blösche mit dem Bild des entstellten Verdächtigen. Sie fanden 30 übereinstimmende Merkmale.

Für Stenzel waren die Vernehmungen eine Qual

Und so saß auf einmal Reiner Stenzel, Vater von zwei kleinen Kindern, diesem Nazi-Verbrecher gegenüber. Ein Zufall eigentlich, der ursprünglich eingesetzte Vernehmer war krank geworden, im September 1967 wurde Stenzel aus Leipzig nach Berlin abkommandiert.

Schon am Tag nach seiner Verhaftung wurde Blösche das berühmte Foto mit dem Jungen vorgelegt. Der kleine, graue Mann notierte auf der Rückseite des Bildes, dass er derjenige mit der Maschinenpistole sei. Aber er schrieb auch, es habe sich um eine Deportationsaktion gehandelt. Kein Wort von der Massenexekution Minuten später.

Viele Jahre später behaupteten mehrere Männer, sie seien das Kind auf dem Foto. Alles gelogen, sagt Stenzel im Juni 2019. „Das Foto entstand bei der Liquidierung des Ghettos. Denn nur bei diesem Einsatz hatte Blösche einen Stahlhelm getragen.“

Von allen grausamen Szenen hat Stenzel die Erschießung der 2000 Juden im Hinterhof des Judenrats am meisten mitgenommen. Die Opfer wurden in Fünfer-Gruppen erschossen, zwischen jede Gruppe musste das Leichenkommando, eine Gruppe von Juden, Holzbalken legen, damit die Toten später verbrannt werden konnten.

Für Stenzel waren die Vernehmungen eine seelische Qual. „Es gab öfter Momente, in denen habe ich Blösche gehasst.“ Aber als Profi durfte er keine Emotionen zeigen. Den Frust,sagt er, habe er abends ausgelebt, beim Bier mit Kollegen, wenn er über die Aussagen geredet habe. Stenzel war zwar der intensivste, aber nicht der einzige Vernehmer, zwei Kollegen gehörten ebenfalls zum Team. Doch nachts kamen die Bilder von den erschossenen Kindern. Albträume.

Der Mörder fürchtete sich vor der Todesstrafe

Der Blösche, dem er tagsüber begegnete, hatte ein klares Ziel: Er wollte leben. „Er haderte mit seinem Schicksal, weil die Todesstrafe drohte“, sagt Stenzel. Um die zu vermeiden, wandte er eine einfache Taktik an. „Er gab nur Erschießungen zu, die er auf Befehl machen musste.“ Da konnte er sich auf Zwang herausreden, er hatte ja nicht aus eigenem Antrieb getötet. Und die Morde von der Rikscha aus? Auch ein Befehl. Sein Vorgesetzter habe angeordnet: „Macht mal ein bisschen Remmidemmi und erschießt ein paar Juden.“

Blösche baute eine emotionale Mauer zwischen sich und den Toten auf. „Er hatte nie echte Reue wegen der Opfer gezeigt“, sagt Stenzel. „Wenn etwas in dieser Richtung kam, waren es Lippenbekenntnisse. Der hat nur sich bedauert, wenn es um die drohende Todesstrafe ging.“

Das bemitleidenswerteste Opfer, das Blösche erwähnte, war er selber. In einer persönlichen Niederschrift schilderte er am 19. Juli 1968, wie er Erschießungen im Ghetto erlebte. „Die erschreckten Gesichter sowie der Blut- und Schweißgeruch griffen mich sehr an. Wenn ich einem Erschießungskommando zugeteilt wurde, bin ich, wenn möglich, von der Grube, wo die Leichen lagen, zurückgetreten, damit ich für einen Moment dieses grauenhafte Bild nicht zu sehen brauchte.“

Und mitunter konnte der Mann, der kleine Kinder erschossen hatte, in Tränen ausbrechen. „Wenn es um Taten ging, in denen er als selbstständiger Mörder auftrat, heulte er mitunter wie ein Schlosshund“, sagt Stenzel. Denn da konnte das Urteil nur Todesstrafe lauten. Zitierte Stenzel Zeugen dieser Verbrechen, dann sagte der Ex-Gestapo-Mann geschraubt: „Ich will dem Zeugen nicht widersprechen, es ist möglich, dass er Recht hat, aber ich erinnere mich nicht.“ Jämmerliche Ausflüchte, deshalb bekam Blösche immer wieder Panik. „Wenn ich bestimmte Dinge sage, bekomme ich doch die Todesstrafe.“

Wenn er reinkam, schlug er die Hacken zusammen

Aber der SS-Verbrecher sollte reden. „Ich wollte verhindern, dass er beim Prozess alles widerruft“, sagt Stenzel. Das Wort „Lebenslänglich“ bekam den Charakter eines Lockmittels. „Wenn Sie alles sagen, kann das Gericht dies als mildernde Umstände bewerten. Dann verzichtet es vielleicht auf die Todesstrafe“, sagte Stenzel immer wieder. Dass er auf jeden Fall von einem Todesurteil überzeugt war, sagte er nicht.

Gleichzeitig bemühte er sich, den Mörder gut zu behandeln. An Feiertagen erhielt Blösche zum Beispiel Gänsebraten mit Thüringer Klößen. Sogar das Satire-Magazin „Eulenspiegel“, Mangelware in der DDR, brachte ihm Stenzel mit. Blösches 18-jähriger Sohn durfte seine Mutter bei deren Haftbesuch begleiten. Dem Mörder war es gestattet, sich zwei Wochen im Haftkrankenhaus zu erholen, obwohl er gar nicht krank war.

Und immer „war er unterwürfig“, sagt Stenzel. Der klassische Fall eines Mannes, der blind gehorcht und genussvoll Macht über Schwächere ausübt. „Wenn er reinkam, schlug er die Hacken zusammen und legte die Hände die Hosennähte.“ In dem Buch „Der SS-Mann: Josef Blösche – Leben und Sterben eines Mörders“ zitiert das Autorenduo Heribert Schwan/Helgard Heindrichs den Direktor des Westfälischen Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt, Michael Osterheider. Der Experte sagte über Blösche: „Es wäre verfehlt anzunehmen, dass allein die Vorgabe eines dermaßen totalitären Regimes ausreichen würde, dass jemand in dieser Vielzahl, in der Kürze der Zeit und mit dieser Ausprägung solche Taten begeht, ohne dass die eigene Persönlichkeit daraus irgendeinen Nutzen ziehen würde. Man muss den Sadismus von Blösche immer im Zusammenhang mit den Begriffen Macht und Kontrolle sehen.“

Blösches Hoffnung auf „Lebenslang“ war vergeblich. Am 30. April 1969 verkündete das Bezirksgericht Erfurt das Todesurteil. Im Morgengrauen des 29. Juli brachte ein Gefangenentransport Josef Blösche ins Leipziger Gefängnis. Seine Urne wurde in einem namenlosen Grab im Leipziger Südfriedhof versenkt. Der Massenmörder endete öffentlich als anonyme Leiche.

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