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Von Wuppertal über Berlin bis Tokyo: Wim Wenders über seine Lieblingsstädte

Am Donnerstag startet Wim Wenders' neuer Film in den Kinos: In "Everything Will Be Fine" gehört Montréal zu den Hauptdarstellern. Städte spielen bei Wenders immer eine große Rolle. Warum der Regisseur in Berlin-Mitte wohnt und wo er in Tokyo trinkt, erzählt er hier.

Montréal. Bei mir läuft es im Prinzip so: Zuerst ist meist der Ort da, an dem ich einen Film drehen will, anschließend suche ich nach der Geschichte, die dort hingehört und nur dort spielen kann. Im Fall von „Every Thing Will Be Fine“ war das ausnahmsweise anders. Der Norweger Björn Olaf Johannessen hat mir das Drehbuch zugeschickt, die Geschichte spielte da noch im Nirgendwo. Ich brauchte also eine hügelige Landschaft, in der im Winter mit Sicherheit Schnee liegt und wo es in unmittelbarer Nähe eine richtige Großstadt gibt. So kam ich auf Montréal. Da bin ich seit 40 Jahren Stammgast beim „Festival du Jeune Cinéma“. Anfangs war ich ja auch wirklich noch ein junger Cineast – meine ersten Filme habe ich dort gezeigt –, heute bin ich wohl eher der „Elder Statesman“. Aber ich mag das Festival und die Stadt eben so gerne.

Montréal ist eine merkwürdige europäische Enklave auf dem nordamerikanischen Kontinent, komplett zweisprachig, englisch und französisch. Es gibt den riesigen Sankt-Lorenz-Strom, der bis in den Atlantik führt. Um einmal Montréals Silhouette mit dem Olympiastadion zu zeigen, haben wir die Szene, die man auf dem Foto sieht, auf das andere Flussfer verlegt. Im Winter ist der Strom mitunter ganz zugefroren – eine schöne Metapher, die im Film eine wichtige Rolle spielt: dass der Fluss zu Beginn erstarrt ist und dann am Ende wieder fließt. So was hat sich eben erst durch den Ort ergeben.

Berlin. Eine Zeit lang haben meine Frau Donata und ich gleichzeitig in Berlin und in Los Angeles gewohnt. Jetzt sind wir nur noch in Berlin zu Hause, auch wenn wir zwei Drittel des Jahres reisen. Berlin ist eine sauehrliche Stadt, aber vor allem eine, in der man gut arbeiten kann. Andere Städte saugen einem Energie ab. Ich habe mal ein Jahr in San Francisco gelebt, wunderschön – aber ich kam zu nix. So ähnlich war’s in New York, das ich heiß und innig liebe, aber wo man permanent überfordert ist. Berlin lässt einen so angenehm in Ruhe und gibt einem Energie. Als wir 2001 wieder hierherkamen, war die Wahl des Bezirks ein bisschen strittig. Meine Frau ist in Zehlendorf geboren, und es hat sie dorthin zurückgezogen, wegen des Grüns und der Seen, doch ich wollte unbedingt in die Gegend, in der ich nach dem Mauerfall wochenlang herumgestreunt war: Prenzlauer Berg, das Scheunenviertel – dort habe ich 1992 „In weiter Ferne, so nah!“ gedreht, die Fortsetzung von „Der Himmel über Berlin“.

Nun wohnen wir in der Torstraße, und meine Frau hat immerhin ihren Baum vorm Fenster, den sie zur Bedingung gemacht hatte. In den 70er Jahren habe ich in Charlottenburg gelebt, in den 80ern in Kreuzberg. Der Potsdamer Platz, wie man ihn auf dem Bild vom „Himmel über Berlin“ sieht, war damals eine Brache, quer durch verlief die Monorail-Teststrecke. Wie ich es dort heute finde? Ich hatte gehofft, dass man ein bisschen liebevoller und erfindungsreicher umginge mit diesem neuen Stadtzentrum. Stattdessen wurde es ruckzuck aus dem Boden gestampft, einfach zu schnell. Nichts mehr erinnert an die Mauer. Das ist so eine richtig deutsche Haltung: Erinnerung möglichst schnell ab- oder wegzubauen.

"U-Bahn fahren mag ich nicht so gerne"

Tokyo. In Tokyo war ich so häufig wie kaum irgendwo sonst: Nach ungefähr hundert Besuchen habe ich aufgehört zu zählen. Schon als ich 1977 das erste Mal dorthin kam, hatte ich das Gefühl, in eine Stadt zurückzukehren, die ich gut kannte. Das lag daran, dass mein Lieblingsregisseur Yasujiro Ozu fast alle seine Filme in Tokyo gedreht hat. Über 50 Jahre hat er die Veränderungen seiner Stadt langsam, fast seismografisch festgehalten: wie sie zunehmend verwestlicht wurde, besonders unter dem Einfluss der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus Anlass von Ozus 20. Todestag habe ich 1983 „Tokyo-Ga“ gedreht. Dabei entstand dieses Foto. Es zeigt einen Friedhof während des Kirschblütenfests – zu dieser Zeit wurde da überall gegrillt und gepicknickt, Decken waren ausgebreitet, die Männer haben getrunken, die Kinder Baseball gespielt. Ein Ort, der den Toten gewidmet war, aber von den Lebenden genutzt wurde, um den Frühling zu feiern. Das hat mich sehr gerührt. Weil man so ein Fest nicht mit einem Friedhof verbindet und schon gar nicht mit den so disziplinierten Japanern. Meine Lieblingsgegend ist das Vergnügungsviertel Golden Gai, ein Areal winziger Häuser inmitten des Wolkenkratzerbezirks Shinjunku. Dort gibt es klitzekleine Bars: zehn Gäste, und schon ist es rappelvoll. Im „La Jetée“, benannt nach einem Film von Chris Marker, habe ich meine eigene Flasche Wodka stehen. Wenn ich nach Tokyo komme, bin ich dort am ersten und am letzten Abend – und oft auch dazwischen.

Wuppertal. U-Bahn fahren mag ich nicht so gerne, weil man immer nur in dunklen Schläuchen unterwegs ist. In Berlin bin ich viel mit der S-Bahn unterwegs, da kann man rausgucken und das Fahrrad mitnehmen. Auch Trambahnen gefallen mir, besonders wenn sie sich wie in Lissabon quietschend durch verwinkelte Straßen bewegen. Aber das Größte ist für mich die Schwebebahn in Wuppertal! Eine alte Utopie, die immer noch Anziehungskraft besitzt. Als die Bahn um die Jahrhundertwende gebaut wurde, war Wuppertal noch reich, unter anderem dank der chemischen Industrie. Deswegen hat man sich diese bis heute einzigartige Extravaganz geleistet. Die Stadt liegt in einem lang gestreckten Tal, links und rechts der Wupper ist wenig Platz, insofern war es die ideale Lösung, eine Bahn über dem Fluss zu bauen. Sie stört den Verkehr nicht, und von oben hat man eine tolle Aussicht. Als Kind habe ich in Düsseldorf gewohnt, ich muss noch auf der Volksschule gewesen sein, als wir einen Ausflug nach Wuppertal gemacht haben und ich dieses riesige, brummende Insekt mit seinen hohen Beinen das erste Mal gesehen habe. Ich fand das sensationell. Mein Film „Alice in den Städten“ spielt nur 15 Minuten in Wuppertal, aber die Schwebebahn kommt ständig darin vor. Die Hauptfiguren fahren mit der Bahn, später ist sie oft im Hintergrund zu sehen, dann spiegelt sie sich in einer Scheibe. Wir haben die Schwebebahn wirklich gemolken!

"Viele meiner Lieblingsstädte haben einen Hafen"

Havanna. Das Foto von Havannas Prachtstraße Malecón mit ihren herrlichen Fassaden entstand während der Dreharbeiten zu „Buena Vista Social Club“. Die Stadt ist am Verfallen, was optisch seinen Reiz hat und gleichzeitig traurig ist. Es ist gut, dort zu drehen oder zu fotografieren – um festzuhalten, was es noch gibt. Wer weiß, ob der Malecón zu retten sein wird. Insgesamt war ich vier Mal in Havanna. Am meisten haben mich die Menschen beeindruckt. Sie waren unglaublich freundlich und trotz ihrer Armut von einer Nonchalance und Fröhlichkeit, dass man den Rest der Welt anschließend kaum noch versteht. Und sie sind wirklich arm dran. Die Bevölkerung hat unter der Blockade der Amerikaner mehr gelitten als die Politik, ich glaube, die Blockade hat das Castro-Regime sogar am Leben erhalten. Während eines Monats Dreharbeiten ist keiner auf uns zugekommen und hat gebettelt. Dann kamen wir zurück aus dem stockfinsteren Havanna, wo keine Straßenlaternen brannten, ins lichtdurchflutete L. A. – und wurden an jeder Ampel von Obdachlosen belagert. Da habe ich mir gedacht: Irgendwas haben sie richtig gemacht, die Kubaner!

Palermo. Viele meiner Lieblingsstädte haben einen Hafen. Auch Palermo. Das Seltsame in diesem Fall ist: Die Stadt ist so gebaut, als wollte sie nur nach innen gucken, dem Meer sozusagen den Rücken zukehren. Das Foto zeigt eine Traumsequenz aus „Palermo Shooting“: Campino, der die Hauptrolle spielt, klettert eine Straßenlaterne hoch, die dann auch eine Uhr ist, und schließlich kippt die ganze Welt. In dieser Perspektive sieht man endlich mal, dass Palermo eine Hafenstadt ist. Ich mag die Stadt aus vielen Gründen. Einmal weil sie eine glorreiche Vergangenheit hat, die man ihr bis heute ansieht, auch wenn sie mittlerweile völlig verarmt ist. Aber vor allem weil in Palermo die Ärmsten und die normalen Bürger noch nicht aus dem Zentrum verdrängt worden sind. In anderen Städten kann es sich ja kein Mensch mehr leisten, mitten in der Stadt zu wohnen, die ziehen alle an die Peripherie. In Palermo ist es genau umgekehrt: Da wohnen die Reichen außerhalb. Im Herzen von Palermo gibt es noch kein Schicki-Micki, sondern einfach alltägliches Leben: kleine Läden und Märkte, Leute, die durch die Straßen gehen und irgendwas verkaufen. Es macht richtig Spaß, dorthin zu fahren und sich anzuschauen, wie auch andere Städte früher mal waren.

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