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Gesundheit: Die Ungeduld der Kandidaten

Tschechische und polnische Intellektuelle warnen den Westen

Von Amory Burchard

Im Europäischen Haus herrscht ein ziemliches Chaos. Die Bilder hängen schief. Die Türen gen Osten klemmen. Und wenn die Hausherren aus dem Fenster rufen, schlagen sie oft den falschen Ton an. Jiri Grusa, tschechischer Schriftsteller mit deutschem Pass und derzeit Botschafter Prags in Wien, rüttelte am Mittwochabend bei der Eröffnungsdiskussion des Europäischen Forums an den Eckpfeilern der Missverständnisse zwischen West- und Ostmitteleuropa.

Osterweiterung sei schon der falsche Begriff, so Grusa. Es müsse eigentlich „Westverlängerung“ heißen. Tschechien sei nämlich eine „strukturell westliche Gesellschaft“. Der Zweifel, dass dies jeder im Publikum wisse, stand dem ehemaligen Dissidenten ins Gesicht geschrieben. Der Beitritt auch Polens und Ungarns – eine zivilisatorische, geopolitische und strategische Entscheidung – dürfe von den Gründungsnationen der EU nicht länger verhindert werden, forderte Grusa. Sonst böten sich „andere Modelle“. Die ewigen Beitrittskandidaten könnten, wie europäische Staaten vor dem ersten und zweiten Weltkrieg, „in eine Mittellage geraten und Sonderwege gehen“.

Eine neue Begeisterung für die Osterweiterung wollen die Initiatoren des Europäischen Forums stiften, „die Osterweiterung intellektuell vorwegnehmen“. Was vom Podium im Leibniz-Saal der Berliner-Brandenburgischen Akademie am Gendarmenmarkt kam, war eher ein Europa-Furor. Gefragt nach den Problemen der polnischen Landwirtschaft winkte Kazimierz Woycicki, Direktor des Polnischen Instituts in Leipzig, nur noch ab. Wie die oft wiederholte Frage nach den billigen polnischen Arbeitskräften sei die Landwirtschaft ein „Problem, das nicht existiert“, beschied er die Moderatorin des Forums, Ulrike Ackermann. Nur fünf Prozent des nationalen Einkommens stammten aus der Agrarwirtschaft, 95 Prozent aus der Industrie und dem Dienstleistungssektor. Und über die Freizügigkeit für polnische Arbeitskräfte, die Deutschland dem Nachbarland nach dem EU-Beitritt für fünf Jahre verweigern wolle, lache man in Polen nur noch.

Ein Jahr nach der Osterweiterung, erzähle man sich an intellektuellen Stammtischen, werde eine hochrangige Kommission aus Berlin nach Warschau kommen und bitten: „Schickt uns Arbeiter.“ Die Polen machten sich ohnehin Sorgen, qualifizierte Arbeitskräfte zu verlieren. Zu Recht, sekundierte der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Bade: Auch in Polen sei die Geburtenrate in den letzten zehn Jahren von 2,5 auf 1,5 Kinder pro Frau gesunken. Spätestens 2010 würden alle EU-Länder, auch die in der ersten Runde beigetretenen, im selben Boot sitzen. „Und dieses Boot“, so Bade, „wird zu leer sein.“ Trotzdem müsse man die Ängste der potenziellen Erweiterungs-Verlierer ernst nehmen: Gewerbetreibende, Baugeschäfte und nicht qualifizierte Arbeiter, denen die Konkurrenz von Niedriglohnarbeitern drohe. Auch das kann Woycicki nicht mehr hören. Noch immer herrsche in Deutschland ein Bild von den Polen als Saisonarbeitern – wie im 19. Jahrhundert.

Wie wäre es mit einem aktuellen Szenario? Der Pariser Politologe Jacques Rupnik, Forschungsdirektor am Zentrum für Internationale Studien (Ceri), nahm es auf sich, die Ängste der französischen Intellektuellen zu referieren. Sie machten sich Sorgen, dass „die Errungenschaften der letzten 50 Jahre“, das Europa Jean Monnets und Konrad Adenauers ins Wanken geraten könnte. „Welche Art Europäer werden die Polen, Tschechen und Ungarn sein?“, fragte Rupnik. Was ist Demokratie in Europa, gibt es ein gemeinsames soziales Modell?

Totalitär überflutet

Rupnik, als ehemaliger Berater von Vaclav Havel weit davon entfernt, erweiterungskritisch zu sein, hatte dringende Fragen an die Vertreter der Beitrittsländer. Wie sollen die neuen Außengrenzen der EU aussehen, und was sagen wir den Staaten, die noch an die Tür klopfen? Die weiter östlich liegenden Länder müssen aus der Sicht der Polen und Tschechen mehr Geduld haben, als ihre Gesellschaften sie seit 1989 aufbringen. Es werde eine „neue Ostpolitik“ geben, sagte Jiri Grusa: „Wir müssen Deiche bauen, totalitär überflutete Gebiete allmählich trocken legen.“ Kazimierz Woycicki spricht sich für transparente Grenzen aus und dafür, nach Osten ein Signal zu geben: „Es gibt auch für Euch eine Perspektive – in 20 Jahren.“

Die mitteleuropäische Ungeduld gipfelte in Jiri Grusas Ruf in das abendliche Berliner Nieselwetter: „Wir wollen wissen, ob wir Beitritts- oder Fußtrittkandidaten sind.“ Er wolle keine Listen mit immer neuen, angeblich nicht erfüllten Kriterien mehr sehen. Tschechien habe alles erfüllt. Sollte es nach 12 Jahren Genesung vom Totalitarismus „noch einen kleinen Schatten auf einem Lungenflügel geben“, könnte der in der Europäischen Union besser heilen als außerhalb.

Die Diskussion wird am 3. 10. von 11.05 bis 12.05 Uhr im Deutschlandfunk übertragen.

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