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Mit Krebs zuhause: Hinterm Krankenhaus geht’s weiter

Weil Krebs heute oft gezähmt werden kann, sind immer mehr Menschen ambulant in Behandlung Eine Berliner Studie hat untersucht, wie es ihnen eigentlich zu Hause geht. Das Ergebnis: Die Pflege der Patienten wird vernachlässigt.

Wer an eine schwere Krankheit und anstrengende Behandlungen denkt, hat schnell Krebs vor Augen. Zu Recht. Die meisten Patienten brauchen mindestens eine Operation, viele haben danach noch eine Chemotherapie oder eine Strahlenbehandlung zu überstehen. Obwohl diese Therapien belastend sind, sind sie heute in den meisten Fällen nicht mit einem weiteren Aufenthalt im Krankenhaus verbunden – zum Glück für die Patienten, die zwar Infusionen oder Bestrahlungen in der Arztpraxis, in einem Medizinischen Versorgungszentrum oder einer Klinik bekommen, sich davon aber zu Hause, in den eigenen vier Wänden, erholen können. Gelingen kann das aber nur, wenn man sich nicht vom Alltag überfordert und mit den Nebenwirkungen der Behandlung allein gelassen fühlt.

Rund 15 000 Menschen erkranken jedes Jahr allein in Berlin neu an Krebs. Da Tumorleiden heute in vielen Fällen zu chronischen Krankheiten geworden sind, die nicht geheilt, aber lange Zeit erfolgreich in Schach gehalten werden können, sind deutlich mehr Menschen gleichzeitig in Behandlung: Fast 40 000 Menschen mit einem Krebsleiden wurden in der Hauptstadt im Jahr 2009 ambulant in Arztpraxen und Medizinischen Versorgungszentren behandelt, zwei Drittel von ihnen in onkologischen Schwerpunktpraxen. Forscher der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin haben nun untersucht, wie diese Krebskranken im Alltag – rund um die eigentliche medizinische Therapie – versorgt sind: Kommen Pflegekräfte zu ihnen nach Hause, hilft ihnen jemand im Haushalt, sind sie in eine Pflegestufe eingeordnet?

Die Wissenschaftler nutzten für ihre Untersuchung zunächst Daten einer Krankenkasse, der AOK Nordost. Das sind über 5770 im Jahr 2009 ambulant behandelte onkologische Patienten mit Wohnsitz Berlin. Außerdem werteten sie Patientenakten einer onkologischen Schwerpunktpraxis aus und befragten 267 Patienten, bei denen im Schnitt vor 4,4 Jahren erstmals eine Krebsdiagnose gestellt worden war. Die Mehrheit war deutlich über 65 Jahre alt, viele litten zusätzlich unter anderen Krankheiten, die zum Teil ihre Mobilität einschränkten, vor allem unter den Hochbetagten waren viele alleinstehend, unter den Jüngeren hatten einige noch Kinder im Haushalt zu versorgen. Trotzdem kam nur jeder Fünfte von ihnen in den Genuss professioneller häuslicher Pflege. Wenn die behandelnden Ärzte Pflegeleistungen verordnen, dann handelt es sich um klassische Krankenpflege, mit der der Erfolg der Behandlung gesichert werden soll. „Die Ärzte fragen oft nicht danach, wie die Patienten zu Hause zurechtkommen. Dass neben der Behandlungspflege auch Grundpflege oder hauswirtschaftliche Versorgung als Kann-Leistungen des Sozialgesetzbuchs für ihre Krebspatienten infrage kommen, ist ihnen und ihren Patienten oft unbekannt“, sagt die Gesundheitsökonomin Jutta Räbiger von der Alice-Salomon-Hochschule, eine der Autorinnen der Studie.

Die Krebskranken, die solche unterstützenden Pflegeleistungen erhielten, waren deutlich älter als der Durchschnitt und litten unter mehreren Krankheiten, fast jeder zehnte von ihnen war wegen seiner Pflegebedürftigkeit in eine Pflegestufe eingeordnet. 40 Prozent von ihnen hielten die Leistungen für nicht ausreichend. Auch die Hälfte der befragten Patienten, die keine professionelle Pflege irgendeiner Art bekamen, hatten nach Ansicht der Forscher durchaus Bedarf an solchen Leistungen. Über 40 Prozent waren allerdings nicht darüber informiert, dass sie ihnen zustehen könnten. Eine große Gruppe gab an, dass Familienmitglieder sich um sie kümmerten, eine andere, dass sie lieber selbst zurechtkommen wollten. „Obwohl sie durchaus Angst davor haben, sich selbst zu überlasten oder ihre Angehörigen übermäßig zu beanspruchen, meinen offensichtlich viele Krebspatienten, häusliche Pflege sei etwas für wesentlich ältere, krankere und hinfälligere Menschen“, berichtet Räbiger. „Pflege“ werde dabei automatisch mit „Altenpflege“ gleichgesetzt. „Dabei brauchen viele Krebspatienten vorübergehend Unterstützung, um ihren Alltag zu bewältigen, während sie aggressiven Therapien ausgesetzt sind.“ Wie es den Erkrankten in diesen Phasen gehe, werde noch zu wenig beachtet, ganz im Unterschied zur letzten Lebensphase, für die ambulante und stationäre Angebote der Palliativmedizin und Hospize zur Verfügung stehen. Wenn Patienten sich während einer Chemotherapie zu Hause überfordert fühlten und deshalb in Panik gerieten, würden sie möglicherweise unnötig schnell wieder im Krankenhaus landen, fürchtet Räbiger. Ob das wirklich der Fall ist, konnte in der vorliegenden Studie allerdings nicht untersucht werden.

Selbstverständlich braucht nicht jeder, dessen Krebserkrankung in der Praxis mit Infusionen behandelt wird, für seinen Alltag professionelle Hilfe. Was aber in großem Maßstab gebraucht werde, sei Information, Aufklärung und ermutigender Zuspruch, sagt der Arzt Hubert Bucher, Geschäftsführer der Berliner Krebsgesellschaft. „Viele fühlen sich auch heute noch an der Krankenhauspforte allein gelassen und wissen eigentlich nicht über den Sinn der weiteren Therapie Bescheid.“ Das sei nicht unbedingt ein Versäumnis seiner Krankenhauskollegen. „Die Patienten und ihre Angehörigen stehen ja meist unter Schock, wenn ihnen das alles erklärt wird.“ Für wiederholte Gespräche ist aber auch später oft nicht genug Zeit. Tausende von Berliner Patienten suchen deshalb persönlich, am Telefon oder per E-Mail Rat bei der durch Spendengelder finanzierten Krebsgesellschaft. Die Hilfen sind vielschichtig, sie gehen von medizinischer Aufklärung über die Wirkung der Medikamente über das Zusprechen von Mut und psychoonkologische Unterstützung zwischen den Behandlungszyklen bis zu Rat in sozialrechtlichen Fragen.

Krebs ist heute für viele Menschen zu einem ungeliebten aber langjährigen Begleiter geworden. In den Zeitabschnitten, in denen die Medizin ihm mit aggressiven Mitteln zu Leibe rückt, könnten viele Betroffene mehr Unterstützung gebrauchen. „Das muss nicht immer professionelle Hilfe sein“, so Buchers Erfahrung. „Es tut manchmal auch gut, wenn Nachbarn oder Freunde nicht nur zum Reden vorbeischauen, sondern das Essen mitbringen und sich ganz nebenbei um die Wäsche kümmern.“

Mehr Informationen unter www.berliner-krebsgesellschaft.de. Beratungstelefon der Krebsgesellschaft: Tel. 283 24 00

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